Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

mit entkleideten Kindern -- Die gesenkte Sonne
wurde bald erhoben bald vertieft, bald auf Gipfel
der Wälder, bald auf Gipfel der Berge gezogen --

Dieses Vorüberfliehen der Szenen verdunkelte
sein benetztes Auge und erhellte die innere Welt:
aber das Stehenbleiben eines unaufhörlichen Tones,
dieses über ihm bleibende Lerchenchor, dessen strei¬
tende Rufe in seiner Seele zu Einem zerflossen, die¬
ses entfernte Getöne aus Wäldern und Büschen und
Lüften, diese Harmonika der Natur machte, daß er
zu sich sagte: "warum halt' ich in dieser Einsam¬
keit jeden Tropfen der fallen will? Nein, ich bin
ohnehin heute zu weich, und ich will mich erschöpfen
eh' ich den großen Menschen sehe."

Endlich stieg er erschüttert den breiten Berg hin¬
auf, der sich vor das zu dessen Füßen grünende
Maienthal mit seinen zerstreueten Baumsäulen
und grauen Quadern stellt. . . . Da klang die vom
Ewigen gestimmte Erde mit tausend Saiten; da be¬
wegte dieselbe Harmonie den in Gold und Nacht
zerstückten Strom und den sumsenden Blumenkelch
und die bewohnte Luft und den durchwehten Busch;
da standen der geröthete Osten und der geröthete
Westen wie die zwei rosataftnen Flügelthüren eines
Flügels aufgespannt und ein hebendes Meer quoll
aus dem geöfneten Himmel und aus der geöfneten
Erde. . .

mit entkleideten Kindern — Die geſenkte Sonne
wurde bald erhoben bald vertieft, bald auf Gipfel
der Waͤlder, bald auf Gipfel der Berge gezogen —

Dieſes Voruͤberfliehen der Szenen verdunkelte
ſein benetztes Auge und erhellte die innere Welt:
aber das Stehenbleiben eines unaufhoͤrlichen Tones,
dieſes uͤber ihm bleibende Lerchenchor, deſſen ſtrei¬
tende Rufe in ſeiner Seele zu Einem zerfloſſen, die¬
ſes entfernte Getoͤne aus Waͤldern und Buͤſchen und
Luͤften, dieſe Harmonika der Natur machte, daß er
zu ſich ſagte: »warum halt' ich in dieſer Einſam¬
keit jeden Tropfen der fallen will? Nein, ich bin
ohnehin heute zu weich, und ich will mich erſchoͤpfen
eh' ich den großen Menſchen ſehe.«

Endlich ſtieg er erſchuͤttert den breiten Berg hin¬
auf, der ſich vor das zu deſſen Fuͤßen gruͤnende
Maienthal mit ſeinen zerſtreueten Baumſaͤulen
und grauen Quadern ſtellt. . . . Da klang die vom
Ewigen geſtimmte Erde mit tauſend Saiten; da be¬
wegte dieſelbe Harmonie den in Gold und Nacht
zerſtuͤckten Strom und den ſumſenden Blumenkelch
und die bewohnte Luft und den durchwehten Buſch;
da ſtanden der geroͤthete Oſten und der geroͤthete
Weſten wie die zwei roſataftnen Fluͤgelthuͤren eines
Fluͤgels aufgeſpannt und ein hebendes Meer quoll
aus dem geoͤfneten Himmel und aus der geoͤfneten
Erde. . .

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0321" n="310"/>
mit entkleideten Kindern &#x2014; Die ge&#x017F;enkte Sonne<lb/>
wurde bald erhoben bald vertieft, bald auf Gipfel<lb/>
der Wa&#x0364;lder, bald auf Gipfel der Berge gezogen &#x2014;</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;es <hi rendition="#g">Voru&#x0364;berfliehen</hi> der Szenen verdunkelte<lb/>
&#x017F;ein benetztes Auge und erhellte die innere Welt:<lb/>
aber das Stehenbleiben eines unaufho&#x0364;rlichen Tones,<lb/>
die&#x017F;es u&#x0364;ber ihm bleibende Lerchenchor, de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;trei¬<lb/>
tende Rufe in &#x017F;einer Seele zu Einem zerflo&#x017F;&#x017F;en, die¬<lb/>
&#x017F;es entfernte Geto&#x0364;ne aus Wa&#x0364;ldern und Bu&#x0364;&#x017F;chen und<lb/>
Lu&#x0364;ften, die&#x017F;e Harmonika der Natur machte, daß er<lb/>
zu &#x017F;ich &#x017F;agte: »warum halt' ich in die&#x017F;er Ein&#x017F;am¬<lb/>
keit jeden Tropfen der fallen will? Nein, ich bin<lb/>
ohnehin heute zu weich, und ich will mich er&#x017F;cho&#x0364;pfen<lb/>
eh' ich den großen Men&#x017F;chen &#x017F;ehe.«</p><lb/>
        <p>Endlich &#x017F;tieg er er&#x017F;chu&#x0364;ttert den breiten Berg hin¬<lb/>
auf, der &#x017F;ich vor das zu de&#x017F;&#x017F;en Fu&#x0364;ßen gru&#x0364;nende<lb/><hi rendition="#g">Maienthal</hi> mit &#x017F;einen zer&#x017F;treueten Baum&#x017F;a&#x0364;ulen<lb/>
und grauen Quadern &#x017F;tellt. . . . Da klang die vom<lb/>
Ewigen ge&#x017F;timmte Erde mit tau&#x017F;end Saiten; da be¬<lb/>
wegte die&#x017F;elbe Harmonie den in Gold und Nacht<lb/>
zer&#x017F;tu&#x0364;ckten Strom und den &#x017F;um&#x017F;enden Blumenkelch<lb/>
und die bewohnte Luft und den durchwehten Bu&#x017F;ch;<lb/>
da &#x017F;tanden der gero&#x0364;thete O&#x017F;ten und der gero&#x0364;thete<lb/>
We&#x017F;ten wie die zwei ro&#x017F;ataftnen Flu&#x0364;gelthu&#x0364;ren eines<lb/>
Flu&#x0364;gels aufge&#x017F;pannt und ein hebendes Meer quoll<lb/>
aus dem geo&#x0364;fneten Himmel und aus der geo&#x0364;fneten<lb/>
Erde. . .</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[310/0321] mit entkleideten Kindern — Die geſenkte Sonne wurde bald erhoben bald vertieft, bald auf Gipfel der Waͤlder, bald auf Gipfel der Berge gezogen — Dieſes Voruͤberfliehen der Szenen verdunkelte ſein benetztes Auge und erhellte die innere Welt: aber das Stehenbleiben eines unaufhoͤrlichen Tones, dieſes uͤber ihm bleibende Lerchenchor, deſſen ſtrei¬ tende Rufe in ſeiner Seele zu Einem zerfloſſen, die¬ ſes entfernte Getoͤne aus Waͤldern und Buͤſchen und Luͤften, dieſe Harmonika der Natur machte, daß er zu ſich ſagte: »warum halt' ich in dieſer Einſam¬ keit jeden Tropfen der fallen will? Nein, ich bin ohnehin heute zu weich, und ich will mich erſchoͤpfen eh' ich den großen Menſchen ſehe.« Endlich ſtieg er erſchuͤttert den breiten Berg hin¬ auf, der ſich vor das zu deſſen Fuͤßen gruͤnende Maienthal mit ſeinen zerſtreueten Baumſaͤulen und grauen Quadern ſtellt. . . . Da klang die vom Ewigen geſtimmte Erde mit tauſend Saiten; da be¬ wegte dieſelbe Harmonie den in Gold und Nacht zerſtuͤckten Strom und den ſumſenden Blumenkelch und die bewohnte Luft und den durchwehten Buſch; da ſtanden der geroͤthete Oſten und der geroͤthete Weſten wie die zwei roſataftnen Fluͤgelthuͤren eines Fluͤgels aufgeſpannt und ein hebendes Meer quoll aus dem geoͤfneten Himmel und aus der geoͤfneten Erde. . .

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/321
Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/321>, abgerufen am 25.11.2024.