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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795.

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Herz gefallen und trunken und weinend in seinen
Busen versunken, um zu stammeln: "wie glücklich ist
"der Mensch!"

Er mußte weinen ohne zu wissen worüber -- er
sang Worte ohne Sinn, aber ihr Ton ging in sein
Herz -- er lief, er stand -- er tauchte das glühende
Angesicht in die Wolke der Blütenstauden und wollte
sich verlieren in die sumsende Welt zwischen den
Blättern -- er drückte das zerritzte Angesicht ins
hohe kühlende Gras und hieng sich im Taumel an
die Brust der unsterblichen Mutter des Frühlings.

Wer ihn von weitem sah, hielt ihn für wahnsin¬
nig: vielleicht jetzt mancher noch, der es nie selber
erfahren hat, daß durch die ausgehellte selige Brust,
wie durch den heitersten Himmel, Sturmwinde zie¬
hen können, die in beiden in Regen zerfließen.

In dieser Tageszeit seines Wiedergeburts-Tages
gab sein Genius seinem Herzen die Feuertaufe einer
Liebe, die alle Menschen und alle Wesen in ihre
Flammen faßte. Es giebt gewisse köstliche Wonne-
Minuten -- ach warum nicht Jahre? -- wo eine
unaussprechliche Liebe gegen alle menschliche Ge¬
schöpfe durch dein ganzes Wesen fließet und deine
Arme sanft für jeden Bruder aufthut. Das wenig¬
ste war, daß Viktor, dessen Herz in der Sonnenseite
der Liebe war, jedem der ihm neben einem Berge
aufsties, gegen die steile Seite auswich -- daß er

Herz gefallen und trunken und weinend in ſeinen
Buſen verſunken, um zu ſtammeln: »wie gluͤcklich iſt
»der Menſch!«

Er mußte weinen ohne zu wiſſen woruͤber — er
ſang Worte ohne Sinn, aber ihr Ton ging in ſein
Herz — er lief, er ſtand — er tauchte das gluͤhende
Angeſicht in die Wolke der Bluͤtenſtauden und wollte
ſich verlieren in die ſumſende Welt zwiſchen den
Blaͤttern — er druͤckte das zerritzte Angeſicht ins
hohe kuͤhlende Gras und hieng ſich im Taumel an
die Bruſt der unſterblichen Mutter des Fruͤhlings.

Wer ihn von weitem ſah, hielt ihn fuͤr wahnſin¬
nig: vielleicht jetzt mancher noch, der es nie ſelber
erfahren hat, daß durch die ausgehellte ſelige Bruſt,
wie durch den heiterſten Himmel, Sturmwinde zie¬
hen koͤnnen, die in beiden in Regen zerfließen.

In dieſer Tageszeit ſeines Wiedergeburts-Tages
gab ſein Genius ſeinem Herzen die Feuertaufe einer
Liebe, die alle Menſchen und alle Weſen in ihre
Flammen faßte. Es giebt gewiſſe koͤſtliche Wonne-
Minuten — ach warum nicht Jahre? — wo eine
unausſprechliche Liebe gegen alle menſchliche Ge¬
ſchoͤpfe durch dein ganzes Weſen fließet und deine
Arme ſanft fuͤr jeden Bruder aufthut. Das wenig¬
ſte war, daß Viktor, deſſen Herz in der Sonnenſeite
der Liebe war, jedem der ihm neben einem Berge
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[218/0229] Herz gefallen und trunken und weinend in ſeinen Buſen verſunken, um zu ſtammeln: »wie gluͤcklich iſt »der Menſch!« Er mußte weinen ohne zu wiſſen woruͤber — er ſang Worte ohne Sinn, aber ihr Ton ging in ſein Herz — er lief, er ſtand — er tauchte das gluͤhende Angeſicht in die Wolke der Bluͤtenſtauden und wollte ſich verlieren in die ſumſende Welt zwiſchen den Blaͤttern — er druͤckte das zerritzte Angeſicht ins hohe kuͤhlende Gras und hieng ſich im Taumel an die Bruſt der unſterblichen Mutter des Fruͤhlings. Wer ihn von weitem ſah, hielt ihn fuͤr wahnſin¬ nig: vielleicht jetzt mancher noch, der es nie ſelber erfahren hat, daß durch die ausgehellte ſelige Bruſt, wie durch den heiterſten Himmel, Sturmwinde zie¬ hen koͤnnen, die in beiden in Regen zerfließen. In dieſer Tageszeit ſeines Wiedergeburts-Tages gab ſein Genius ſeinem Herzen die Feuertaufe einer Liebe, die alle Menſchen und alle Weſen in ihre Flammen faßte. Es giebt gewiſſe koͤſtliche Wonne- Minuten — ach warum nicht Jahre? — wo eine unausſprechliche Liebe gegen alle menſchliche Ge¬ ſchoͤpfe durch dein ganzes Weſen fließet und deine Arme ſanft fuͤr jeden Bruder aufthut. Das wenig¬ ſte war, daß Viktor, deſſen Herz in der Sonnenſeite der Liebe war, jedem der ihm neben einem Berge aufſties, gegen die ſteile Seite auswich — daß er

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Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/229>, abgerufen am 26.11.2024.