Gleichwohl war sie nicht verlegen; er hielt es für Unrecht gegen Flamin, ihre Gesinnungen gegen ihn selber zu beobachten; aber so viel merkte er doch, daß das Observatorium, auf dem man die Phasen ihres Herzens beobachten wollte, höher seyn müsse als gegen andre Weiber nöthig ist. Die Ge¬ wohnheit bewundert zu werden, hatte sie gegen die Vorspieglung des Eindrucks ihrer Reize, mit der sich die Männer so oft die Aufmerksamkeit der weibli¬ chen Eitelkeit erwerben, fest gemacht. Sie war wie gesagt nicht verlegen: sondern erzählte ihrem Zuhö¬ rer noch etwas von Emanuels Karakter, was sie neulich vor so unheilige Ohren aus Achtung für ih¬ ren Lehrer nicht bringen wollte -- daß er nämlich gewiß glaube, er werde zu Johannis übers Jahr zu Mitternacht sterben. Viktor konnte leicht errathen, daß sie es selber glaube; aber das errieth er nicht, daß diese Stolze aus bloßer Weichheit des Herzens ihren Termin, zu Johanni aus Maienthal zu ziehen, beschleuniget habe, um nicht dem geliebten Menschen an dem Namenstage des künftigen Sterbetages zu begegnen. Nach ihrer Erzählung hatte dieser Ema¬ nuel eine fürchterlich erhabne Stellung unter den Menschen: er war allein, an seiner Brust waren große Freunde gewesen -- aber alles war ihm unter die Erde gegangen -- darum wollt' er auch sich darunter verhüllen. Die Jahre geben den stürmi¬
Gleichwohl war ſie nicht verlegen; er hielt es fuͤr Unrecht gegen Flamin, ihre Geſinnungen gegen ihn ſelber zu beobachten; aber ſo viel merkte er doch, daß das Obſervatorium, auf dem man die Phaſen ihres Herzens beobachten wollte, hoͤher ſeyn muͤſſe als gegen andre Weiber noͤthig iſt. Die Ge¬ wohnheit bewundert zu werden, hatte ſie gegen die Vorſpieglung des Eindrucks ihrer Reize, mit der ſich die Maͤnner ſo oft die Aufmerkſamkeit der weibli¬ chen Eitelkeit erwerben, feſt gemacht. Sie war wie geſagt nicht verlegen: ſondern erzaͤhlte ihrem Zuhoͤ¬ rer noch etwas von Emanuels Karakter, was ſie neulich vor ſo unheilige Ohren aus Achtung fuͤr ih¬ ren Lehrer nicht bringen wollte — daß er naͤmlich gewiß glaube, er werde zu Johannis uͤbers Jahr zu Mitternacht ſterben. Viktor konnte leicht errathen, daß ſie es ſelber glaube; aber das errieth er nicht, daß dieſe Stolze aus bloßer Weichheit des Herzens ihren Termin, zu Johanni aus Maienthal zu ziehen, beſchleuniget habe, um nicht dem geliebten Menſchen an dem Namenstage des kuͤnftigen Sterbetages zu begegnen. Nach ihrer Erzaͤhlung hatte dieſer Ema¬ nuel eine fuͤrchterlich erhabne Stellung unter den Menſchen: er war allein, an ſeiner Bruſt waren große Freunde geweſen — aber alles war ihm unter die Erde gegangen — darum wollt' er auch ſich darunter verhuͤllen. Die Jahre geben den ſtuͤrmi¬
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Gleichwohl war ſie nicht verlegen; er hielt es
fuͤr Unrecht gegen Flamin, ihre Geſinnungen gegen
ihn ſelber zu beobachten; aber ſo viel merkte er
doch, daß das Obſervatorium, auf dem man die
Phaſen ihres Herzens beobachten wollte, hoͤher ſeyn
muͤſſe als gegen andre Weiber noͤthig iſt. Die Ge¬
wohnheit bewundert zu werden, hatte ſie gegen die
Vorſpieglung des Eindrucks ihrer Reize, mit der ſich
die Maͤnner ſo oft die Aufmerkſamkeit der weibli¬
chen Eitelkeit erwerben, feſt gemacht. Sie war wie
geſagt nicht verlegen: ſondern erzaͤhlte ihrem Zuhoͤ¬
rer noch etwas von Emanuels Karakter, was ſie
neulich vor ſo unheilige Ohren aus Achtung fuͤr ih¬
ren Lehrer nicht bringen wollte — daß er naͤmlich
gewiß glaube, er werde zu Johannis uͤbers Jahr zu
Mitternacht ſterben. Viktor konnte leicht errathen,
daß ſie es ſelber glaube; aber das errieth er nicht,
daß dieſe Stolze aus bloßer Weichheit des Herzens
ihren Termin, zu Johanni aus Maienthal zu ziehen,
beſchleuniget habe, um nicht dem geliebten Menſchen
an dem Namenstage des kuͤnftigen Sterbetages zu
begegnen. Nach ihrer Erzaͤhlung hatte dieſer Ema¬
nuel eine fuͤrchterlich erhabne Stellung unter den
Menſchen: er war allein, an ſeiner Bruſt waren
große Freunde geweſen — aber alles war ihm unter
die Erde gegangen — darum wollt' er auch ſich
darunter verhuͤllen. Die Jahre geben den ſtuͤrmi¬
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/149>, abgerufen am 24.11.2024.
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