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Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 4. Tübingen, 1805.

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jedes Kind ein Kind, und die Aurora klang un¬
zählig darein. Die hohe Bildsäule des Donner¬
gottes stand in der Landes-Mitte. Ein Kind um
das andere flog auf den Stein-Arm, und setzte
einen Schmetterling auf den lebendigen Adler, der
den Gott umkreiset. Dann flatterte das Kind wie
leichtsinnig auf die nächste Wolke, und sah her¬
ab nach seinem andern, das liebende Arme auf¬
hob. Ach so wird schon Gott, vor dem wir ja
alle Kinder sind, unser Lieben nehmen! Darauf
spielten die Kinder untereinander "Liebens."
"Sey meine rothe Tulpe," sagte das eine, und
das andere war sie, und ließ sich an die Brust
stecken. "Sei mein liebes Sternchen oben," und
es war es und wurde -- an die Brust gesteckt.
"Sey mein Gott" -- "und du meiner," aber
dann verwandelten sich beide nicht, sondern sa¬
hen sich lange an voll zu großer Liebe, und ver¬
schwanden wie sterbend dahin. -- "Bleibe bei
mir, mein Kind, wenn du von mir gehst,"
sagte das bleibende; da wurde das scheidende
in der Ferne ein kleines Abendroth, dann ein
Abendsternchen, dann tiefer ins Land hinein nur

jedes Kind ein Kind, und die Aurora klang un¬
zaͤhlig darein. Die hohe Bildſaͤule des Donner¬
gottes ſtand in der Landes-Mitte. Ein Kind um
das andere flog auf den Stein-Arm, und ſetzte
einen Schmetterling auf den lebendigen Adler, der
den Gott umkreiſet. Dann flatterte das Kind wie
leichtſinnig auf die naͤchſte Wolke, und ſah her¬
ab nach ſeinem andern, das liebende Arme auf¬
hob. Ach ſo wird ſchon Gott, vor dem wir ja
alle Kinder ſind, unſer Lieben nehmen! Darauf
ſpielten die Kinder untereinander „Liebens.“
„Sey meine rothe Tulpe,“ ſagte das eine, und
das andere war ſie, und ließ ſich an die Bruſt
ſtecken. „Sei mein liebes Sternchen oben,“ und
es war es und wurde — an die Bruſt geſteckt.
„Sey mein Gott“ — „und du meiner,“ aber
dann verwandelten ſich beide nicht, ſondern ſa¬
hen ſich lange an voll zu großer Liebe, und ver¬
ſchwanden wie ſterbend dahin. — „Bleibe bei
mir, mein Kind, wenn du von mir gehſt,“
ſagte das bleibende; da wurde das ſcheidende
in der Ferne ein kleines Abendroth, dann ein
Abendſternchen, dann tiefer ins Land hinein nur

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[308/0314] jedes Kind ein Kind, und die Aurora klang un¬ zaͤhlig darein. Die hohe Bildſaͤule des Donner¬ gottes ſtand in der Landes-Mitte. Ein Kind um das andere flog auf den Stein-Arm, und ſetzte einen Schmetterling auf den lebendigen Adler, der den Gott umkreiſet. Dann flatterte das Kind wie leichtſinnig auf die naͤchſte Wolke, und ſah her¬ ab nach ſeinem andern, das liebende Arme auf¬ hob. Ach ſo wird ſchon Gott, vor dem wir ja alle Kinder ſind, unſer Lieben nehmen! Darauf ſpielten die Kinder untereinander „Liebens.“ „Sey meine rothe Tulpe,“ ſagte das eine, und das andere war ſie, und ließ ſich an die Bruſt ſtecken. „Sei mein liebes Sternchen oben,“ und es war es und wurde — an die Bruſt geſteckt. „Sey mein Gott“ — „und du meiner,“ aber dann verwandelten ſich beide nicht, ſondern ſa¬ hen ſich lange an voll zu großer Liebe, und ver¬ ſchwanden wie ſterbend dahin. — „Bleibe bei mir, mein Kind, wenn du von mir gehſt,“ ſagte das bleibende; da wurde das ſcheidende in der Ferne ein kleines Abendroth, dann ein Abendſternchen, dann tiefer ins Land hinein nur

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Zitationshilfe: Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 4. Tübingen, 1805, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_flegeljahre04_1805/314>, abgerufen am 24.11.2024.