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Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

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dahin, den Werken von Raphael in Bezug auf geistige Tiefe unbedingt die erste Stelle einzuräumen. Zwar muß man zugeben, daß Michelangelo ihm in der gelehrten Kenntniß der Anatomie überlegen sei, und daß Correggio den Glanz des Fleisches noch blendender leuchten lasse, aber Raphael übertrifft sie beide an Adel der Gesinnung und Anmuth der Auffassung. Die Mappe mit Raphaels Logen in Aquilas Stichen konnte ich nicht oft genug zur Hand nehmen.

Bei anderen Werken kam ich erst nach und nach zur richtigen Einsicht, und bei einigen ist es mir bis diesen Tag noch nicht gelungen. Zu den letzten gehören zwei Bilder von Tizian, die eines unbestrittenen Ruhmes genießen: die Himmelfahrt Mariae in Venedig, und der ebenda vor einigen Jahren verbrannte Tod des Petrus Martyr. Von beiden besaß Kohlrausch alte Stiche, die oft betrachtet und besprochen wurden. Ich hütete mich wohl, gegen Rauch, Tiek oder Wach meine abweichenden Ansichten anders als in bescheidener Anfrage vorzutragen, und war auch mit einer ungenügenden Antwort zufrieden; wenn ich aber den Onkel Kohlrausch allein antraf, so sprach ich meine Zweifel unumwunden aus, und ward bald inne, daß er, als mittelmäßiger Kunstkenner, mich, den angehenden Kunstjünger, gar nicht überzeugen konnte. Später wagte ich gegen größere Autoritäten aufzutreten, gestehe aber, daß ich noch nicht bekehrt bin; ein bedeutender Maler in Berlin, bei dem ich eine kleine Farbenkopie der Himmelfahrt Mariae hängen sah, konnte weder das bauschige Gewand der Maria, noch den ausgerenkten Petrus mit den schmutzigen Füßen, noch die unklare Haltung des Vordergrundes u. s. w. vertheidigen, zuletzt gab er mir zu verstehn, daß über den wahren Werth des Bildes nur ein

dahin, den Werken von Raphael in Bezug auf geistige Tiefe unbedingt die erste Stelle einzuräumen. Zwar muß man zugeben, daß Michelangelo ihm in der gelehrten Kenntniß der Anatomie überlegen sei, und daß Correggio den Glanz des Fleisches noch blendender leuchten lasse, aber Raphael übertrifft sie beide an Adel der Gesinnung und Anmuth der Auffassung. Die Mappe mit Raphaels Logen in Aquilas Stichen konnte ich nicht oft genug zur Hand nehmen.

Bei anderen Werken kam ich erst nach und nach zur richtigen Einsicht, und bei einigen ist es mir bis diesen Tag noch nicht gelungen. Zu den letzten gehören zwei Bilder von Tizian, die eines unbestrittenen Ruhmes genießen: die Himmelfahrt Mariae in Venedig, und der ebenda vor einigen Jahren verbrannte Tod des Petrus Martyr. Von beiden besaß Kohlrausch alte Stiche, die oft betrachtet und besprochen wurden. Ich hütete mich wohl, gegen Rauch, Tiek oder Wach meine abweichenden Ansichten anders als in bescheidener Anfrage vorzutragen, und war auch mit einer ungenügenden Antwort zufrieden; wenn ich aber den Onkel Kohlrausch allein antraf, so sprach ich meine Zweifel unumwunden aus, und ward bald inne, daß er, als mittelmäßiger Kunstkenner, mich, den angehenden Kunstjünger, gar nicht überzeugen konnte. Später wagte ich gegen größere Autoritäten aufzutreten, gestehe aber, daß ich noch nicht bekehrt bin; ein bedeutender Maler in Berlin, bei dem ich eine kleine Farbenkopie der Himmelfahrt Mariae hängen sah, konnte weder das bauschige Gewand der Maria, noch den ausgerenkten Petrus mit den schmutzigen Füßen, noch die unklare Haltung des Vordergrundes u. s. w. vertheidigen, zuletzt gab er mir zu verstehn, daß über den wahren Werth des Bildes nur ein

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[76/0084] dahin, den Werken von Raphael in Bezug auf geistige Tiefe unbedingt die erste Stelle einzuräumen. Zwar muß man zugeben, daß Michelangelo ihm in der gelehrten Kenntniß der Anatomie überlegen sei, und daß Correggio den Glanz des Fleisches noch blendender leuchten lasse, aber Raphael übertrifft sie beide an Adel der Gesinnung und Anmuth der Auffassung. Die Mappe mit Raphaels Logen in Aquilas Stichen konnte ich nicht oft genug zur Hand nehmen. Bei anderen Werken kam ich erst nach und nach zur richtigen Einsicht, und bei einigen ist es mir bis diesen Tag noch nicht gelungen. Zu den letzten gehören zwei Bilder von Tizian, die eines unbestrittenen Ruhmes genießen: die Himmelfahrt Mariae in Venedig, und der ebenda vor einigen Jahren verbrannte Tod des Petrus Martyr. Von beiden besaß Kohlrausch alte Stiche, die oft betrachtet und besprochen wurden. Ich hütete mich wohl, gegen Rauch, Tiek oder Wach meine abweichenden Ansichten anders als in bescheidener Anfrage vorzutragen, und war auch mit einer ungenügenden Antwort zufrieden; wenn ich aber den Onkel Kohlrausch allein antraf, so sprach ich meine Zweifel unumwunden aus, und ward bald inne, daß er, als mittelmäßiger Kunstkenner, mich, den angehenden Kunstjünger, gar nicht überzeugen konnte. Später wagte ich gegen größere Autoritäten aufzutreten, gestehe aber, daß ich noch nicht bekehrt bin; ein bedeutender Maler in Berlin, bei dem ich eine kleine Farbenkopie der Himmelfahrt Mariae hängen sah, konnte weder das bauschige Gewand der Maria, noch den ausgerenkten Petrus mit den schmutzigen Füßen, noch die unklare Haltung des Vordergrundes u. s. w. vertheidigen, zuletzt gab er mir zu verstehn, daß über den wahren Werth des Bildes nur ein

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Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/84>, abgerufen am 25.11.2024.