Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

Bild:
<< vorherige Seite

einen Comfort, den alle Kunst und Industrie ihnen daheim nicht verschaffen kann: einen heitern erwärmenden Sonnenschein, ein mildes Klima ohne stinkende Nebel, ohne erkaltende atmosphärische Niederschläge.

In Canterbury bekamen wir in der Star-Inn das erste englische Abendessen: beefsteaks, toasts, welsh rabbits, shrimps, lauter Nationalgerichte; dazu ein klares kräftiges ale.

Der 18. März war ein Sonntag; wir konnten also in der Kathedrale vor Betrachtung der Merkwürdigkeiten dem englischen erzbischöflichen Gottesdienste beiwohnen. Es fungirte hier ein gutgeleiteter vierstimmiger Knaben- und Männerchor, wie wir ihn viele Jahre später im berliner Domchor kennen lernten. In Canterbury las zuerst ein Priester am Altare etwas aus der Bibel vor, dann folgte ein vierstimmiger Gesang mit Orgelbegleitung: dies wiederholte sich dreimal. Unter den Knabenstimmen tönten einige mit harmonischem Schmelz in der prachtvollen Spitzbogenwölbung; die Musikstücke schienen aus guter alter Zeit zu stammen; es waren fugirte Sätze darunter, deren akkurater Ausführung jedoch die Sänger nicht gewachsen schienen. Dann betrat ein anderer Priester die Kanzel, und las eine trockne Predigt in einem noch trockneren Tone. Er sprach so langsam und deutlich, daß ich jedes Wort fassen und verstehn konnte, aber er sah aus wie die personifizirte Langeweile und machte auch einen entsprechenden Eindruck; nur die Kürze dieser Predigt war zu loben. Als ich nachher den Williams wegen des Ablesens der Predigt interpellirte, das nach deutschen Begriffen jede lebendige Einwirkung des Redners auf Herz und Gemüth der Zuhörer ausschließe, so meinte er, das sei die allgemeine englische

einen Comfort, den alle Kunst und Industrie ihnen daheim nicht verschaffen kann: einen heitern erwärmenden Sonnenschein, ein mildes Klima ohne stinkende Nebel, ohne erkaltende atmosphärische Niederschläge.

In Canterbury bekamen wir in der Star-Inn das erste englische Abendessen: beefsteaks, toasts, welsh rabbits, shrimps, lauter Nationalgerichte; dazu ein klares kräftiges ale.

Der 18. März war ein Sonntag; wir konnten also in der Kathedrale vor Betrachtung der Merkwürdigkeiten dem englischen erzbischöflichen Gottesdienste beiwohnen. Es fungirte hier ein gutgeleiteter vierstimmiger Knaben- und Männerchor, wie wir ihn viele Jahre später im berliner Domchor kennen lernten. In Canterbury las zuerst ein Priester am Altare etwas aus der Bibel vor, dann folgte ein vierstimmiger Gesang mit Orgelbegleitung: dies wiederholte sich dreimal. Unter den Knabenstimmen tönten einige mit harmonischem Schmelz in der prachtvollen Spitzbogenwölbung; die Musikstücke schienen aus guter alter Zeit zu stammen; es waren fugirte Sätze darunter, deren akkurater Ausführung jedoch die Sänger nicht gewachsen schienen. Dann betrat ein anderer Priester die Kanzel, und las eine trockne Predigt in einem noch trockneren Tone. Er sprach so langsam und deutlich, daß ich jedes Wort fassen und verstehn konnte, aber er sah aus wie die personifizirte Langeweile und machte auch einen entsprechenden Eindruck; nur die Kürze dieser Predigt war zu loben. Als ich nachher den Williams wegen des Ablesens der Predigt interpellirte, das nach deutschen Begriffen jede lebendige Einwirkung des Redners auf Herz und Gemüth der Zuhörer ausschließe, so meinte er, das sei die allgemeine englische

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0492" n="484"/>
einen Comfort, den alle Kunst und Industrie ihnen daheim nicht verschaffen kann: einen heitern erwärmenden Sonnenschein, ein mildes Klima ohne stinkende Nebel, ohne erkaltende atmosphärische Niederschläge. </p><lb/>
        <p>In Canterbury bekamen wir in der Star-Inn das erste englische Abendessen: beefsteaks, toasts, welsh rabbits, shrimps, lauter Nationalgerichte; dazu ein klares kräftiges ale. </p><lb/>
        <p>Der 18. März war ein Sonntag; wir konnten also in der Kathedrale vor Betrachtung der Merkwürdigkeiten dem englischen erzbischöflichen Gottesdienste beiwohnen. Es fungirte hier ein gutgeleiteter vierstimmiger Knaben- und Männerchor, wie wir ihn viele Jahre später im berliner Domchor kennen lernten. In Canterbury las zuerst ein Priester am Altare etwas aus der Bibel vor, dann folgte ein vierstimmiger Gesang mit Orgelbegleitung: dies wiederholte sich dreimal. Unter den Knabenstimmen tönten einige mit harmonischem Schmelz in der prachtvollen Spitzbogenwölbung; die Musikstücke schienen aus guter alter Zeit zu stammen; es waren fugirte Sätze darunter, deren akkurater Ausführung jedoch die Sänger nicht gewachsen schienen. Dann betrat ein anderer Priester die Kanzel, und las eine trockne Predigt in einem noch trockneren Tone. Er sprach so langsam und deutlich, daß ich jedes Wort fassen und verstehn konnte, aber er sah aus wie die personifizirte Langeweile und machte auch einen entsprechenden Eindruck; nur die Kürze dieser Predigt war zu loben. Als ich nachher den Williams wegen des Ablesens der Predigt interpellirte, das nach deutschen Begriffen jede lebendige Einwirkung des Redners auf Herz und Gemüth der Zuhörer ausschließe, so meinte er, das sei die allgemeine englische
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[484/0492] einen Comfort, den alle Kunst und Industrie ihnen daheim nicht verschaffen kann: einen heitern erwärmenden Sonnenschein, ein mildes Klima ohne stinkende Nebel, ohne erkaltende atmosphärische Niederschläge. In Canterbury bekamen wir in der Star-Inn das erste englische Abendessen: beefsteaks, toasts, welsh rabbits, shrimps, lauter Nationalgerichte; dazu ein klares kräftiges ale. Der 18. März war ein Sonntag; wir konnten also in der Kathedrale vor Betrachtung der Merkwürdigkeiten dem englischen erzbischöflichen Gottesdienste beiwohnen. Es fungirte hier ein gutgeleiteter vierstimmiger Knaben- und Männerchor, wie wir ihn viele Jahre später im berliner Domchor kennen lernten. In Canterbury las zuerst ein Priester am Altare etwas aus der Bibel vor, dann folgte ein vierstimmiger Gesang mit Orgelbegleitung: dies wiederholte sich dreimal. Unter den Knabenstimmen tönten einige mit harmonischem Schmelz in der prachtvollen Spitzbogenwölbung; die Musikstücke schienen aus guter alter Zeit zu stammen; es waren fugirte Sätze darunter, deren akkurater Ausführung jedoch die Sänger nicht gewachsen schienen. Dann betrat ein anderer Priester die Kanzel, und las eine trockne Predigt in einem noch trockneren Tone. Er sprach so langsam und deutlich, daß ich jedes Wort fassen und verstehn konnte, aber er sah aus wie die personifizirte Langeweile und machte auch einen entsprechenden Eindruck; nur die Kürze dieser Predigt war zu loben. Als ich nachher den Williams wegen des Ablesens der Predigt interpellirte, das nach deutschen Begriffen jede lebendige Einwirkung des Redners auf Herz und Gemüth der Zuhörer ausschließe, so meinte er, das sei die allgemeine englische

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wolfgang Virmond: Bereitstellung der Texttranskription. (2014-01-07T13:04:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2014-01-07T13:04:32Z)
Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Sign. Av 4887-1) (2014-01-07T13:04:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • Kolumnentitel: nicht übernommen
  • Kustoden: nicht übernommen
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/492
Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/492>, abgerufen am 28.11.2024.