Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].oder ein andrer später Rhetor besessen, so mochte auch sein Vortrag mit der gebildeten Recitation eines römischen Vorlesers übereinstimmen oder wenigstens ihr nahe kommen. Seine Kollegien las Wolf sehr nachlässig, und verführte dadurch auch die Studenten zur Unpünktlichkeit. Kaum waren die Stunden 14 Tage lang in Gang gekommen, so strahlte uns, wenn wir voll Wißbegierde um 11 Uhr an der Thür des Auditoriums anlangten, ein weißer Zettel entgegen, auf den Wolf mit seiner karaktervollen Hand die Worte hingeworfen: Wegen meines Unwohlseins fällt die heutige Vorlesung aus. Was konnte man besseres thun, als die leere Stunde zu einem Spaziergange unter den Linden benutzen? Da sah man denn, wie Wolf ganz wohlgemuth mit einem Freunde aus einer Konditorei trat, wo er gefrühstückt, und wie er dann ebenfalls im heiteren Gespräche gemächlich lustwandelte. Da dies mehr als einmal geschah, und die Vorlesungen manchmal ganze Wochen ausfielen, so konnte es nicht fehlen, daß auch die Studenten saumselig wurden, und die Bänke der Zuhörer sich immer mehr lichteten. Wolf spottete selbst darüber und sagte einst über sein Collegium publicum, er lese es gratis und frustra! Da mein Oheim Kohlrausch Wolfs Hausarzt war, so sah ich ihn hier einige Male in Abendgesellschaften, war aber nicht sehr erbaut von seinen Gesprächen. Die Jugend erwartet immer von einem hochberühmten Manne, daß alle seine Worte einen gewichtigen, gleichsam weltgeschichtlichen Inhalt haben sollen; sie ist nicht wenig verwundert, auch einmal etwas alltägliches und gewöhnliches zu hören. So ging es mir mit Wolf, dessen Gespräche fast nur in spöttischen Bemerkungen über mehrere mir bekannte und unbekannte oder ein andrer später Rhetor besessen, so mochte auch sein Vortrag mit der gebildeten Recitation eines römischen Vorlesers übereinstimmen oder wenigstens ihr nahe kommen. Seine Kollegien las Wolf sehr nachlässig, und verführte dadurch auch die Studenten zur Unpünktlichkeit. Kaum waren die Stunden 14 Tage lang in Gang gekommen, so strahlte uns, wenn wir voll Wißbegierde um 11 Uhr an der Thür des Auditoriums anlangten, ein weißer Zettel entgegen, auf den Wolf mit seiner karaktervollen Hand die Worte hingeworfen: Wegen meines Unwohlseins fällt die heutige Vorlesung aus. Was konnte man besseres thun, als die leere Stunde zu einem Spaziergange unter den Linden benutzen? Da sah man denn, wie Wolf ganz wohlgemuth mit einem Freunde aus einer Konditorei trat, wo er gefrühstückt, und wie er dann ebenfalls im heiteren Gespräche gemächlich lustwandelte. Da dies mehr als einmal geschah, und die Vorlesungen manchmal ganze Wochen ausfielen, so konnte es nicht fehlen, daß auch die Studenten saumselig wurden, und die Bänke der Zuhörer sich immer mehr lichteten. Wolf spottete selbst darüber und sagte einst über sein Collegium publicum, er lese es gratis und frustra! Da mein Oheim Kohlrausch Wolfs Hausarzt war, so sah ich ihn hier einige Male in Abendgesellschaften, war aber nicht sehr erbaut von seinen Gesprächen. Die Jugend erwartet immer von einem hochberühmten Manne, daß alle seine Worte einen gewichtigen, gleichsam weltgeschichtlichen Inhalt haben sollen; sie ist nicht wenig verwundert, auch einmal etwas alltägliches und gewöhnliches zu hören. So ging es mir mit Wolf, dessen Gespräche fast nur in spöttischen Bemerkungen über mehrere mir bekannte und unbekannte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0226" n="218"/> oder ein andrer später Rhetor besessen, so mochte auch sein Vortrag mit der gebildeten Recitation eines römischen Vorlesers übereinstimmen oder wenigstens ihr nahe kommen. </p><lb/> <p>Seine Kollegien las Wolf sehr nachlässig, und verführte dadurch auch die Studenten zur Unpünktlichkeit. Kaum waren die Stunden 14 Tage lang in Gang gekommen, so strahlte uns, wenn wir voll Wißbegierde um 11 Uhr an der Thür des Auditoriums anlangten, ein weißer Zettel entgegen, auf den Wolf mit seiner karaktervollen Hand die Worte hingeworfen: Wegen meines Unwohlseins fällt die heutige Vorlesung aus. Was konnte man besseres thun, als die leere Stunde zu einem Spaziergange unter den Linden benutzen? Da sah man denn, wie Wolf ganz wohlgemuth mit einem Freunde aus einer Konditorei trat, wo er gefrühstückt, und wie er dann ebenfalls im heiteren Gespräche gemächlich lustwandelte. Da dies mehr als einmal geschah, und die Vorlesungen manchmal ganze Wochen ausfielen, so konnte es nicht fehlen, daß auch die Studenten saumselig wurden, und die Bänke der Zuhörer sich immer mehr lichteten. Wolf spottete selbst darüber und sagte einst über sein Collegium publicum, er lese es gratis und frustra! </p><lb/> <p>Da mein Oheim Kohlrausch Wolfs Hausarzt war, so sah ich ihn hier einige Male in Abendgesellschaften, war aber nicht sehr erbaut von seinen Gesprächen. Die Jugend erwartet immer von einem hochberühmten Manne, daß alle seine Worte einen gewichtigen, gleichsam weltgeschichtlichen Inhalt haben sollen; sie ist nicht wenig verwundert, auch einmal etwas alltägliches und gewöhnliches zu hören. So ging es mir mit Wolf, dessen Gespräche fast nur in spöttischen Bemerkungen über mehrere mir bekannte und unbekannte </p> </div> </body> </text> </TEI> [218/0226]
oder ein andrer später Rhetor besessen, so mochte auch sein Vortrag mit der gebildeten Recitation eines römischen Vorlesers übereinstimmen oder wenigstens ihr nahe kommen.
Seine Kollegien las Wolf sehr nachlässig, und verführte dadurch auch die Studenten zur Unpünktlichkeit. Kaum waren die Stunden 14 Tage lang in Gang gekommen, so strahlte uns, wenn wir voll Wißbegierde um 11 Uhr an der Thür des Auditoriums anlangten, ein weißer Zettel entgegen, auf den Wolf mit seiner karaktervollen Hand die Worte hingeworfen: Wegen meines Unwohlseins fällt die heutige Vorlesung aus. Was konnte man besseres thun, als die leere Stunde zu einem Spaziergange unter den Linden benutzen? Da sah man denn, wie Wolf ganz wohlgemuth mit einem Freunde aus einer Konditorei trat, wo er gefrühstückt, und wie er dann ebenfalls im heiteren Gespräche gemächlich lustwandelte. Da dies mehr als einmal geschah, und die Vorlesungen manchmal ganze Wochen ausfielen, so konnte es nicht fehlen, daß auch die Studenten saumselig wurden, und die Bänke der Zuhörer sich immer mehr lichteten. Wolf spottete selbst darüber und sagte einst über sein Collegium publicum, er lese es gratis und frustra!
Da mein Oheim Kohlrausch Wolfs Hausarzt war, so sah ich ihn hier einige Male in Abendgesellschaften, war aber nicht sehr erbaut von seinen Gesprächen. Die Jugend erwartet immer von einem hochberühmten Manne, daß alle seine Worte einen gewichtigen, gleichsam weltgeschichtlichen Inhalt haben sollen; sie ist nicht wenig verwundert, auch einmal etwas alltägliches und gewöhnliches zu hören. So ging es mir mit Wolf, dessen Gespräche fast nur in spöttischen Bemerkungen über mehrere mir bekannte und unbekannte
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/226 |
Zitationshilfe: | Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/226>, abgerufen am 16.07.2024. |