Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

Bild:
<< vorherige Seite

In Lear bildete die Schlußscene mit der todten Kordelia die Krone des Ganzen, doch schon von Anfang an wußte Devrient, mit meisterhafter Kunst in Shakspeares Gedanken eingehend, den Lear als einen ziemlich einfältigen alten Mann darzustellen, der erst die Liebe seiner Töchter nach der Elle messen will, dann sein ganzes Reich verschenkt, in der thörichten Hoffnung, daß man ihm dafür dankbar sein werde, und zuletzt überschnappt.

In Richard III. war die Werbung um die Königin Maria am Sarge ihres ermordeten Gatten, die mir beim Lesen sehr unwahrscheinlich vorgekommen war, von einer solchen Wahrheit des Gefühls, daß man die Möglichkeit davon zugeben mußte. Bei der Verurtheilung des Grafen Hastings ließ sich Garrick, einer Theatertradition zufolge, statt der Stachelbeeren einen Teller Kirschen geben, und warf die Kerne mit einer diabolischen Grimasse zur Erde. Diese Freiheit nahm sich Devrient nicht, doch war die Zerstreutheit, mit der er die Früchte verzehrte, und die Gleichgültigkeit, mit der er das: Schlagt ihm den Kopf ab! aussprach, von der tiefsten Wirkung.

Im Shylok zeigte er eine wunderbare Mischung von tödtlichem Christenhaß, von nagendem Bewußtsein der eignen Ohnmacht und von wilder Verzweiflung über den Verlust seiner Tochter und seiner Schätze. Man wurde aus einem Affekt in den andern hinübergerissen. Bei dem, mit innerstem Ausdruck gesprochenen Verse: denn Dulden ist das Erbtheil unsers Stamms! konnte einem der arme getretene und angespiene Jude sogar leid thun.

Sein Fallstaff zeigte jenen naturwüchsigen Urhumor eines verdorbenen Genies, das "nicht blos selbst witzig ist, sondern auch andre witzig macht". Es lag eine ge-

In Lear bildete die Schlußscene mit der todten Kordelia die Krone des Ganzen, doch schon von Anfang an wußte Devrient, mit meisterhafter Kunst in Shakspeares Gedanken eingehend, den Lear als einen ziemlich einfältigen alten Mann darzustellen, der erst die Liebe seiner Töchter nach der Elle messen will, dann sein ganzes Reich verschenkt, in der thörichten Hoffnung, daß man ihm dafür dankbar sein werde, und zuletzt überschnappt.

In Richard III. war die Werbung um die Königin Maria am Sarge ihres ermordeten Gatten, die mir beim Lesen sehr unwahrscheinlich vorgekommen war, von einer solchen Wahrheit des Gefühls, daß man die Möglichkeit davon zugeben mußte. Bei der Verurtheilung des Grafen Hastings ließ sich Garrick, einer Theatertradition zufolge, statt der Stachelbeeren einen Teller Kirschen geben, und warf die Kerne mit einer diabolischen Grimasse zur Erde. Diese Freiheit nahm sich Devrient nicht, doch war die Zerstreutheit, mit der er die Früchte verzehrte, und die Gleichgültigkeit, mit der er das: Schlagt ihm den Kopf ab! aussprach, von der tiefsten Wirkung.

Im Shylok zeigte er eine wunderbare Mischung von tödtlichem Christenhaß, von nagendem Bewußtsein der eignen Ohnmacht und von wilder Verzweiflung über den Verlust seiner Tochter und seiner Schätze. Man wurde aus einem Affekt in den andern hinübergerissen. Bei dem, mit innerstem Ausdruck gesprochenen Verse: denn Dulden ist das Erbtheil unsers Stamms! konnte einem der arme getretene und angespiene Jude sogar leid thun.

Sein Fallstaff zeigte jenen naturwüchsigen Urhumor eines verdorbenen Genies, das „nicht blos selbst witzig ist, sondern auch andre witzig macht“. Es lag eine ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p>
          <pb facs="#f0102" n="94"/>
        </p><lb/>
        <p>In Lear bildete die Schlußscene mit der todten Kordelia die Krone des Ganzen, doch schon von Anfang an wußte Devrient, mit meisterhafter Kunst in Shakspeares Gedanken eingehend, den Lear als einen ziemlich einfältigen alten Mann darzustellen, der erst die Liebe seiner Töchter nach der Elle messen will, dann sein ganzes Reich verschenkt, in der thörichten Hoffnung, daß man ihm dafür dankbar sein werde, und zuletzt überschnappt. </p><lb/>
        <p>In Richard III. war die Werbung um die Königin Maria am Sarge ihres ermordeten Gatten, die mir beim Lesen sehr unwahrscheinlich vorgekommen war, von einer solchen Wahrheit des Gefühls, daß man die Möglichkeit davon zugeben mußte. Bei der Verurtheilung des Grafen Hastings ließ sich Garrick, einer Theatertradition zufolge, statt der Stachelbeeren einen Teller Kirschen geben, und warf die Kerne mit einer diabolischen Grimasse zur Erde. Diese Freiheit nahm sich Devrient nicht, doch war die Zerstreutheit, mit der er die Früchte verzehrte, und die Gleichgültigkeit, mit der er das: Schlagt ihm den Kopf ab! aussprach, von der tiefsten Wirkung. </p><lb/>
        <p>Im Shylok zeigte er eine wunderbare Mischung von tödtlichem Christenhaß, von nagendem Bewußtsein der eignen Ohnmacht und von wilder Verzweiflung über den Verlust seiner Tochter und seiner Schätze. Man wurde aus einem Affekt in den andern hinübergerissen. Bei dem, mit innerstem Ausdruck gesprochenen Verse: denn Dulden ist das Erbtheil unsers Stamms! konnte einem der arme getretene und angespiene Jude sogar leid thun. </p><lb/>
        <p>Sein Fallstaff zeigte jenen naturwüchsigen Urhumor eines verdorbenen Genies, das &#x201E;nicht blos selbst witzig ist, sondern auch andre witzig macht&#x201C;. Es lag eine ge-
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[94/0102] In Lear bildete die Schlußscene mit der todten Kordelia die Krone des Ganzen, doch schon von Anfang an wußte Devrient, mit meisterhafter Kunst in Shakspeares Gedanken eingehend, den Lear als einen ziemlich einfältigen alten Mann darzustellen, der erst die Liebe seiner Töchter nach der Elle messen will, dann sein ganzes Reich verschenkt, in der thörichten Hoffnung, daß man ihm dafür dankbar sein werde, und zuletzt überschnappt. In Richard III. war die Werbung um die Königin Maria am Sarge ihres ermordeten Gatten, die mir beim Lesen sehr unwahrscheinlich vorgekommen war, von einer solchen Wahrheit des Gefühls, daß man die Möglichkeit davon zugeben mußte. Bei der Verurtheilung des Grafen Hastings ließ sich Garrick, einer Theatertradition zufolge, statt der Stachelbeeren einen Teller Kirschen geben, und warf die Kerne mit einer diabolischen Grimasse zur Erde. Diese Freiheit nahm sich Devrient nicht, doch war die Zerstreutheit, mit der er die Früchte verzehrte, und die Gleichgültigkeit, mit der er das: Schlagt ihm den Kopf ab! aussprach, von der tiefsten Wirkung. Im Shylok zeigte er eine wunderbare Mischung von tödtlichem Christenhaß, von nagendem Bewußtsein der eignen Ohnmacht und von wilder Verzweiflung über den Verlust seiner Tochter und seiner Schätze. Man wurde aus einem Affekt in den andern hinübergerissen. Bei dem, mit innerstem Ausdruck gesprochenen Verse: denn Dulden ist das Erbtheil unsers Stamms! konnte einem der arme getretene und angespiene Jude sogar leid thun. Sein Fallstaff zeigte jenen naturwüchsigen Urhumor eines verdorbenen Genies, das „nicht blos selbst witzig ist, sondern auch andre witzig macht“. Es lag eine ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wolfgang Virmond: Bereitstellung der Texttranskription. (2014-01-07T13:04:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2014-01-07T13:04:32Z)
Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Sign. Av 4887-1) (2014-01-07T13:04:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • Kolumnentitel: nicht übernommen
  • Kustoden: nicht übernommen
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/102
Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/102>, abgerufen am 23.11.2024.