Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871].über dem Chor von 20-30 Männerkehlen obenauf zu schwimmen. Etwas ähnliches ließ sich später bei dem gefeierten Tenoristen Stümer bemerken. Seine Stimme gehörte keineswegs zu den stärksten, sie zeichnete sich vielmehr durch eine unvergleichliche Weichheit aus; man wußte aber jedesmal, wenn er in den Chören der Abenceragen von Cherubini mitsang. Während meiner Schulzeit feierte Professor Härtung das 25jährige Bestehn seiner Anstalt durch einen großen Actus mit Gesang, Musik, Declamationen und Reden. Dies Ereigniß erschien mir als das höchste Glück, das die menschliche Phantasie sich überhaupt erdenken könne. Schon der lange Zeitraum von 25 Jahren, der durch ein schönes Lapidaralphabet von A-Z über dem Proscenium der Redner- und Gesangbühne angedeutet war, kam dem jugendlichen Geiste als etwas unermeßliches vor, und als der Professor in seiner Rede anführte, daß er bereits "ein halbes Jahrhundert" durchlebt habe, so verlor sich die Einbildungskraft des Knaben in unabsehliche Siriusweiten. Mein Antheil an der Feierlichkeit war ein sehr geringer. Wegen guter französischer Aussprache erhielt ich die Lafontainesche Fabel "Une grenouille vit un boeuf" zu deklamiren; aber wegen angeborner Befangenheit und schwacher Stimme wurde nur das wenigste von den Zuhörern verstanden. Meine Angehörigen befanden sich auch darunter, allein ich sah sie nicht, ich wagte kaum, die Augen aufzuschlagen. Nächst dem Professor Hartung muß ich unter den Lehrern des Predigers Pauli gedenken. Ihm bin ich zu dem grösten Danke verpflichtet: denn er hat durch die über dem Chor von 20–30 Männerkehlen obenauf zu schwimmen. Etwas ähnliches ließ sich später bei dem gefeierten Tenoristen Stümer bemerken. Seine Stimme gehörte keineswegs zu den stärksten, sie zeichnete sich vielmehr durch eine unvergleichliche Weichheit aus; man wußte aber jedesmal, wenn er in den Chören der Abenceragen von Cherubini mitsang. Während meiner Schulzeit feierte Professor Härtung das 25jährige Bestehn seiner Anstalt durch einen großen Actus mit Gesang, Musik, Declamationen und Reden. Dies Ereigniß erschien mir als das höchste Glück, das die menschliche Phantasie sich überhaupt erdenken könne. Schon der lange Zeitraum von 25 Jahren, der durch ein schönes Lapidaralphabet von A–Z über dem Proscenium der Redner- und Gesangbühne angedeutet war, kam dem jugendlichen Geiste als etwas unermeßliches vor, und als der Professor in seiner Rede anführte, daß er bereits „ein halbes Jahrhundert“ durchlebt habe, so verlor sich die Einbildungskraft des Knaben in unabsehliche Siriusweiten. Mein Antheil an der Feierlichkeit war ein sehr geringer. Wegen guter französischer Aussprache erhielt ich die Lafontainesche Fabel „Une grenouille vit un boeuf“ zu deklamiren; aber wegen angeborner Befangenheit und schwacher Stimme wurde nur das wenigste von den Zuhörern verstanden. Meine Angehörigen befanden sich auch darunter, allein ich sah sie nicht, ich wagte kaum, die Augen aufzuschlagen. Nächst dem Professor Hartung muß ich unter den Lehrern des Predigers Pauli gedenken. Ihm bin ich zu dem grösten Danke verpflichtet: denn er hat durch die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="1"> <p><pb facs="#f0096" n="84"/> über dem Chor von 20–30 Männerkehlen obenauf zu schwimmen. </p><lb/> <p>Etwas ähnliches ließ sich später bei dem gefeierten Tenoristen Stümer bemerken. Seine Stimme gehörte keineswegs zu den stärksten, sie zeichnete sich vielmehr durch eine unvergleichliche Weichheit aus; man wußte aber jedesmal, wenn er in den Chören der Abenceragen von Cherubini mitsang. </p><lb/> <p>Während meiner Schulzeit feierte Professor Härtung das 25jährige Bestehn seiner Anstalt durch einen großen Actus mit Gesang, Musik, Declamationen und Reden. Dies Ereigniß erschien mir als das höchste Glück, das die menschliche Phantasie sich überhaupt erdenken könne. Schon der lange Zeitraum von 25 Jahren, der durch ein schönes Lapidaralphabet von A–Z über dem Proscenium der Redner- und Gesangbühne angedeutet war, kam dem jugendlichen Geiste als etwas unermeßliches vor, und als der Professor in seiner Rede anführte, daß er bereits „ein halbes Jahrhundert“ durchlebt habe, so verlor sich die Einbildungskraft des Knaben in unabsehliche Siriusweiten. Mein Antheil an der Feierlichkeit war ein sehr geringer. Wegen guter französischer Aussprache erhielt ich die Lafontainesche Fabel „Une grenouille vit un boeuf“ zu deklamiren; aber wegen angeborner Befangenheit und schwacher Stimme wurde nur das wenigste von den Zuhörern verstanden. Meine Angehörigen befanden sich auch darunter, allein ich sah sie nicht, ich wagte kaum, die Augen aufzuschlagen. </p><lb/> <p>Nächst dem Professor Hartung muß ich unter den Lehrern des Predigers Pauli gedenken. Ihm bin ich zu dem grösten Danke verpflichtet: denn er hat durch die </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [84/0096]
über dem Chor von 20–30 Männerkehlen obenauf zu schwimmen.
Etwas ähnliches ließ sich später bei dem gefeierten Tenoristen Stümer bemerken. Seine Stimme gehörte keineswegs zu den stärksten, sie zeichnete sich vielmehr durch eine unvergleichliche Weichheit aus; man wußte aber jedesmal, wenn er in den Chören der Abenceragen von Cherubini mitsang.
Während meiner Schulzeit feierte Professor Härtung das 25jährige Bestehn seiner Anstalt durch einen großen Actus mit Gesang, Musik, Declamationen und Reden. Dies Ereigniß erschien mir als das höchste Glück, das die menschliche Phantasie sich überhaupt erdenken könne. Schon der lange Zeitraum von 25 Jahren, der durch ein schönes Lapidaralphabet von A–Z über dem Proscenium der Redner- und Gesangbühne angedeutet war, kam dem jugendlichen Geiste als etwas unermeßliches vor, und als der Professor in seiner Rede anführte, daß er bereits „ein halbes Jahrhundert“ durchlebt habe, so verlor sich die Einbildungskraft des Knaben in unabsehliche Siriusweiten. Mein Antheil an der Feierlichkeit war ein sehr geringer. Wegen guter französischer Aussprache erhielt ich die Lafontainesche Fabel „Une grenouille vit un boeuf“ zu deklamiren; aber wegen angeborner Befangenheit und schwacher Stimme wurde nur das wenigste von den Zuhörern verstanden. Meine Angehörigen befanden sich auch darunter, allein ich sah sie nicht, ich wagte kaum, die Augen aufzuschlagen.
Nächst dem Professor Hartung muß ich unter den Lehrern des Predigers Pauli gedenken. Ihm bin ich zu dem grösten Danke verpflichtet: denn er hat durch die
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Zitationshilfe: | Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871], S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen01_1871/96>, abgerufen am 27.07.2024. |