Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871].habe es nun auf Rußland abgesehn, da der Mangel einer Flotte ihn hindre, mit England anzubinden. Fassen wir hier kurz die materiellen Mittel zusammen, die dem französischen Kaiser zu Gebote standen, und wiederholen wir ein paar statistische Notizen, wie wir sie i. J. 1812 in der Schule gelernt. Ihm gehörte das Kaiserthum Frankreich mit 130 Departements und 42 Millionen Einwohnern; daran gränzte das Königreich Italien mit 61/2 Millionen Einwohnern. Das Königreich Neapel, bis an die Meerenge von Messina, besaß sein Schwager Murat, auf dem spanischen Throne saß sein Bruder Joseph, auf dem westphälischen sein Bruder Jerome; der Rheinbund mit 13 Millionen Einwohnern stand unter seinem Protektorate. Alle diese Reiche zusammen stellten eine Kriegsmacht von 400,000 Mann ins Feld. Oestreich war durch die neuen Verwandtschaftsbande an Frankreich geknüpft; Preußen von französischen Truppen fast ganz besetzt. Die Türkei in ihrer Schwäche kam gar nicht in Betracht. Es blieben also nur noch Rußland und England zu besiegen. Wer sich jenen Zustand der vollkomnen politischen Niedergedrücktheit vergegenwärtigen kann, der wird es nicht auffallend finden, daß als die Kunde von dem beabsichtigten russischen Feldzuge sich vergewisserte, viele - ja die meisten an dem Gelingen desselben kaum zu zweifeln wagten. Ein fürchterliches Wort Napoleons, das fürchterlichste, was ich je in dieser Art gehört oder gelesen, ging damals in unserem Kreise von Mund zu Munde; als Talleyrand ihm abrieth, den russischen Feldzug anzufangen, da der spanische noch nicht beendigt sei, sollte er geäußert haben: j'ai a depenser par an 100,000 hommes! habe es nun auf Rußland abgesehn, da der Mangel einer Flotte ihn hindre, mit England anzubinden. Fassen wir hier kurz die materiellen Mittel zusammen, die dem französischen Kaiser zu Gebote standen, und wiederholen wir ein paar statistische Notizen, wie wir sie i. J. 1812 in der Schule gelernt. Ihm gehörte das Kaiserthum Frankreich mit 130 Departements und 42 Millionen Einwohnern; daran gränzte das Königreich Italien mit 6½ Millionen Einwohnern. Das Königreich Neapel, bis an die Meerenge von Messina, besaß sein Schwager Murat, auf dem spanischen Throne saß sein Bruder Joseph, auf dem westphälischen sein Bruder Jerome; der Rheinbund mit 13 Millionen Einwohnern stand unter seinem Protektorate. Alle diese Reiche zusammen stellten eine Kriegsmacht von 400,000 Mann ins Feld. Oestreich war durch die neuen Verwandtschaftsbande an Frankreich geknüpft; Preußen von französischen Truppen fast ganz besetzt. Die Türkei in ihrer Schwäche kam gar nicht in Betracht. Es blieben also nur noch Rußland und England zu besiegen. Wer sich jenen Zustand der vollkomnen politischen Niedergedrücktheit vergegenwärtigen kann, der wird es nicht auffallend finden, daß als die Kunde von dem beabsichtigten russischen Feldzuge sich vergewisserte, viele – ja die meisten an dem Gelingen desselben kaum zu zweifeln wagten. Ein fürchterliches Wort Napoléons, das fürchterlichste, was ich je in dieser Art gehört oder gelesen, ging damals in unserem Kreise von Mund zu Munde; als Talleyrand ihm abrieth, den russischen Feldzug anzufangen, da der spanische noch nicht beendigt sei, sollte er geäußert haben: j’ai à depenser par an 100,000 hommes! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div> <p><pb facs="#f0322" n="310"/> habe es nun auf Rußland abgesehn, da der Mangel einer Flotte ihn hindre, mit England anzubinden. </p><lb/> <p>Fassen wir hier kurz die materiellen Mittel zusammen, die dem französischen Kaiser zu Gebote standen, und wiederholen wir ein paar statistische Notizen, wie wir sie i. 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Es blieben also nur noch Rußland und England zu besiegen. </p><lb/> <p>Wer sich jenen Zustand der vollkomnen politischen Niedergedrücktheit vergegenwärtigen kann, der wird es nicht auffallend finden, daß als die Kunde von dem beabsichtigten russischen Feldzuge sich vergewisserte, viele – ja die meisten an dem Gelingen desselben kaum zu zweifeln wagten. </p><lb/> <p>Ein fürchterliches Wort Napoléons, das fürchterlichste, was ich je in dieser Art gehört oder gelesen, ging damals in unserem Kreise von Mund zu Munde; als Talleyrand ihm abrieth, den russischen Feldzug anzufangen, da der spanische noch nicht beendigt sei, sollte er geäußert haben: j’ai à depenser par an 100,000 hommes! </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [310/0322]
habe es nun auf Rußland abgesehn, da der Mangel einer Flotte ihn hindre, mit England anzubinden.
Fassen wir hier kurz die materiellen Mittel zusammen, die dem französischen Kaiser zu Gebote standen, und wiederholen wir ein paar statistische Notizen, wie wir sie i. J. 1812 in der Schule gelernt.
Ihm gehörte das Kaiserthum Frankreich mit 130 Departements und 42 Millionen Einwohnern; daran gränzte das Königreich Italien mit 6½ Millionen Einwohnern. Das Königreich Neapel, bis an die Meerenge von Messina, besaß sein Schwager Murat, auf dem spanischen Throne saß sein Bruder Joseph, auf dem westphälischen sein Bruder Jerome; der Rheinbund mit 13 Millionen Einwohnern stand unter seinem Protektorate. Alle diese Reiche zusammen stellten eine Kriegsmacht von 400,000 Mann ins Feld. Oestreich war durch die neuen Verwandtschaftsbande an Frankreich geknüpft; Preußen von französischen Truppen fast ganz besetzt. Die Türkei in ihrer Schwäche kam gar nicht in Betracht. Es blieben also nur noch Rußland und England zu besiegen.
Wer sich jenen Zustand der vollkomnen politischen Niedergedrücktheit vergegenwärtigen kann, der wird es nicht auffallend finden, daß als die Kunde von dem beabsichtigten russischen Feldzuge sich vergewisserte, viele – ja die meisten an dem Gelingen desselben kaum zu zweifeln wagten.
Ein fürchterliches Wort Napoléons, das fürchterlichste, was ich je in dieser Art gehört oder gelesen, ging damals in unserem Kreise von Mund zu Munde; als Talleyrand ihm abrieth, den russischen Feldzug anzufangen, da der spanische noch nicht beendigt sei, sollte er geäußert haben: j’ai à depenser par an 100,000 hommes!
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Zitationshilfe: | Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871], S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen01_1871/322>, abgerufen am 05.07.2024. |