Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.Vielleicht wird die Geschichte seine Mission einmal darin erkennen, daß er die Fanfare war, die schlafenden Geister zu wecken, damit die Juden sich wieder aufraffen, mit anderen Völkern gleichen Schritt zu halten in Ausübung ihrer Pflichten und in der Inanspruchnahme ihrer Rechte. Dann hätte der Zionismus eine große Aufgabe erfüllt, auch wenn die Gründung eines jüdischen Staates Utopie bleibt. Ich hoffe, daß das jüdische Zweigkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels es begreift, warum ich in meinem Berichte erst so spät auf eine Materie zu sprechen komme, die ich als Delegierte dieser Vereinigung vielleicht an erster Stelle zu besprechen gehabt hätte. Da es aber nicht möglich ist, die Sittlichkeitsfrage eines Landes gerecht zu beurteilen, wenn man dessen allgemeine Lage und Verhältnisse nicht kennt, so war es notwendig, erst den Boden zu schildern, auf dem die in Bezug auf Sittlichkeit so traurigen Zustände sich entwickeln konnten. Unbildung, Erwerbslosigkeit, Armut, erschreckende Wohnverhältnisse, Haltlosigkeit oder Lüge in religiösen Dingen, nachdem ich versucht habe, alle diese Momente darzustellen, kann der logische Schluß vom Standpunkt der Sittlichkeitsfrage aus nur ein solcher sein, wie er sich mit den tatsächlichen Verhältnissen deckt. Zwar, wer erwartet, daß ich meinen Bericht über diese wichtigste Seite meiner Beobachtungen mit pikanten Details würzen kann, wird enttäuscht sein. Nicht einmal mein kurzer Besuch einiger öffentlicher Häuser in Krakau brachte etwas, was in dieser Richtung sensationell zu nennen wäre. Aber gerade die Selbstverständlichkeit, mit der in allen Schichten der Bevölkerung von dem Vorhandensein und der "notwendigen" Ausdehnung eines unsittlichen Gewerbes gesprochen wird, in der gedankenlosen und kritiklosen Beurteilung desselben liegt die furchtbare Gefahr für die Gesellschaft. Ich hatte Gelegenheit, in Krakau mit einigen Damen zu sprechen, die bemüht sind, in national-polnischen Kreisen der hygienischen Auffassung der Sittlichkeitsfrage Boden zu bereiten. Auch sie bestätigten für die Offiziers- und Studentenkreise eine rapide Zunahme beängstigender Symptome. Die Zahl der Vielleicht wird die Geschichte seine Mission einmal darin erkennen, daß er die Fanfare war, die schlafenden Geister zu wecken, damit die Juden sich wieder aufraffen, mit anderen Völkern gleichen Schritt zu halten in Ausübung ihrer Pflichten und in der Inanspruchnahme ihrer Rechte. Dann hätte der Zionismus eine große Aufgabe erfüllt, auch wenn die Gründung eines jüdischen Staates Utopie bleibt. Ich hoffe, daß das jüdische Zweigkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels es begreift, warum ich in meinem Berichte erst so spät auf eine Materie zu sprechen komme, die ich als Delegierte dieser Vereinigung vielleicht an erster Stelle zu besprechen gehabt hätte. Da es aber nicht möglich ist, die Sittlichkeitsfrage eines Landes gerecht zu beurteilen, wenn man dessen allgemeine Lage und Verhältnisse nicht kennt, so war es notwendig, erst den Boden zu schildern, auf dem die in Bezug auf Sittlichkeit so traurigen Zustände sich entwickeln konnten. Unbildung, Erwerbslosigkeit, Armut, erschreckende Wohnverhältnisse, Haltlosigkeit oder Lüge in religiösen Dingen, nachdem ich versucht habe, alle diese Momente darzustellen, kann der logische Schluß vom Standpunkt der Sittlichkeitsfrage aus nur ein solcher sein, wie er sich mit den tatsächlichen Verhältnissen deckt. Zwar, wer erwartet, daß ich meinen Bericht über diese wichtigste Seite meiner Beobachtungen mit pikanten Details würzen kann, wird enttäuscht sein. Nicht einmal mein kurzer Besuch einiger öffentlicher Häuser in Krakau brachte etwas, was in dieser Richtung sensationell zu nennen wäre. Aber gerade die Selbstverständlichkeit, mit der in allen Schichten der Bevölkerung von dem Vorhandensein und der „notwendigen“ Ausdehnung eines unsittlichen Gewerbes gesprochen wird, in der gedankenlosen und kritiklosen Beurteilung desselben liegt die furchtbare Gefahr für die Gesellschaft. Ich hatte Gelegenheit, in Krakau mit einigen Damen zu sprechen, die bemüht sind, in national-polnischen Kreisen der hygienischen Auffassung der Sittlichkeitsfrage Boden zu bereiten. Auch sie bestätigten für die Offiziers- und Studentenkreise eine rapide Zunahme beängstigender Symptome. 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Dann hätte der Zionismus eine große Aufgabe erfüllt, auch wenn die Gründung eines jüdischen Staates Utopie bleibt.</p> <p>Ich hoffe, daß das jüdische Zweigkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels es begreift, warum ich in meinem Berichte erst so spät auf eine Materie zu sprechen komme, die ich als Delegierte dieser Vereinigung vielleicht an erster Stelle zu besprechen gehabt hätte.</p> <p>Da es aber nicht möglich ist, die Sittlichkeitsfrage eines Landes gerecht zu beurteilen, wenn man dessen allgemeine Lage und Verhältnisse nicht kennt, so war es notwendig, erst den Boden zu schildern, auf dem die in Bezug auf Sittlichkeit so traurigen Zustände sich entwickeln konnten.</p> <p>Unbildung, Erwerbslosigkeit, Armut, erschreckende Wohnverhältnisse, Haltlosigkeit oder Lüge in religiösen Dingen, nachdem ich versucht habe, alle diese Momente darzustellen, kann der logische Schluß vom Standpunkt der Sittlichkeitsfrage aus nur ein solcher sein, wie er sich mit den tatsächlichen Verhältnissen deckt.</p> <p>Zwar, wer erwartet, daß ich meinen Bericht über diese wichtigste Seite meiner Beobachtungen mit pikanten Details würzen kann, wird enttäuscht sein.</p> <p>Nicht einmal mein kurzer Besuch einiger öffentlicher Häuser in Krakau brachte etwas, was in dieser Richtung sensationell zu nennen wäre. Aber gerade die Selbstverständlichkeit, mit der in allen Schichten der Bevölkerung von dem Vorhandensein und der „notwendigen“ Ausdehnung eines unsittlichen Gewerbes gesprochen wird, in der gedankenlosen und kritiklosen Beurteilung desselben liegt die furchtbare Gefahr für die Gesellschaft.</p> <p>Ich hatte Gelegenheit, in Krakau mit einigen Damen zu sprechen, die bemüht sind, in national-polnischen Kreisen der hygienischen Auffassung der Sittlichkeitsfrage Boden zu bereiten.</p> <p>Auch sie bestätigten für die Offiziers- und Studentenkreise eine rapide Zunahme beängstigender Symptome. Die Zahl der </p> </div> </body> </text> </TEI> [45/0045]
Vielleicht wird die Geschichte seine Mission einmal darin erkennen, daß er die Fanfare war, die schlafenden Geister zu wecken, damit die Juden sich wieder aufraffen, mit anderen Völkern gleichen Schritt zu halten in Ausübung ihrer Pflichten und in der Inanspruchnahme ihrer Rechte. Dann hätte der Zionismus eine große Aufgabe erfüllt, auch wenn die Gründung eines jüdischen Staates Utopie bleibt.
Ich hoffe, daß das jüdische Zweigkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels es begreift, warum ich in meinem Berichte erst so spät auf eine Materie zu sprechen komme, die ich als Delegierte dieser Vereinigung vielleicht an erster Stelle zu besprechen gehabt hätte.
Da es aber nicht möglich ist, die Sittlichkeitsfrage eines Landes gerecht zu beurteilen, wenn man dessen allgemeine Lage und Verhältnisse nicht kennt, so war es notwendig, erst den Boden zu schildern, auf dem die in Bezug auf Sittlichkeit so traurigen Zustände sich entwickeln konnten.
Unbildung, Erwerbslosigkeit, Armut, erschreckende Wohnverhältnisse, Haltlosigkeit oder Lüge in religiösen Dingen, nachdem ich versucht habe, alle diese Momente darzustellen, kann der logische Schluß vom Standpunkt der Sittlichkeitsfrage aus nur ein solcher sein, wie er sich mit den tatsächlichen Verhältnissen deckt.
Zwar, wer erwartet, daß ich meinen Bericht über diese wichtigste Seite meiner Beobachtungen mit pikanten Details würzen kann, wird enttäuscht sein.
Nicht einmal mein kurzer Besuch einiger öffentlicher Häuser in Krakau brachte etwas, was in dieser Richtung sensationell zu nennen wäre. Aber gerade die Selbstverständlichkeit, mit der in allen Schichten der Bevölkerung von dem Vorhandensein und der „notwendigen“ Ausdehnung eines unsittlichen Gewerbes gesprochen wird, in der gedankenlosen und kritiklosen Beurteilung desselben liegt die furchtbare Gefahr für die Gesellschaft.
Ich hatte Gelegenheit, in Krakau mit einigen Damen zu sprechen, die bemüht sind, in national-polnischen Kreisen der hygienischen Auffassung der Sittlichkeitsfrage Boden zu bereiten.
Auch sie bestätigten für die Offiziers- und Studentenkreise eine rapide Zunahme beängstigender Symptome. Die Zahl der
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