Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.Ich glaube, daß für das subjektive Gefühl der galizischen Bevölkerung der Segen der Gewohnheit den Unsegen der Abstumpfung weitaus überragt. Für jeden durch die Kultur verfeinerten Menschen wäre ein Aufenthalt unter den dort landläufigen Bedingungen gleich dem in einer Folterkammer, die zur Verletzung aller unserer Sinne und Empfindungen eingerichtet ist. Ferner als eminent wichtig für die Beurteilung des Landes sind die Erwerbs- und Arbeitsverhältnisse Galiziens zu betrachten. Sich über diese umfassend und fachgemäß zu orientieren, bedürfte es kaufmännischer Vorkenntnisse und eingehender Enqueten. Uns bestätigte schon die laienhafte Beobachtung und Umfrage, oft auch eine unaufgefordert erfolgte Mitteilung die bekannte Tatsache, daß es für die Masse der Bevölkerung in Galizien zu wenig Arbeit und Verdienst gibt, hauptsächlich aber, daß die Leistungsfähigkeit der Juden zu ihrem eigenen unermeßlichen Nachteil und Schaden eine einseitig ausgebildete ist. Einen großen Irrtum, mit dem in der Beurteilung der Landesverhältnisse in Galizien oft gerechnet wird, bin ich heute in der Lage, richtig zu stellen: es gibt kein Handwerk und keinen Erwerb, den die Juden in Galizien nicht treiben dürfen. Ebenso können sie, wie mir von maßgebender Seite versichert wurde, Grund und Boden auch in kleinen Parzellen durch Kauf erwerben oder pachten. In der Regel sind sie nach dieser Richtung auch in der Praxis keiner anderen Handhabung und Auslegung der Gesetze unterworfen wie die christliche Bevölkerung. Freilich sind die Verhältnisse in Bezug auf Bodenbesitz im ganzen Lande sehr bedauerliche, da der Großgrundbesitz die bäuerliche Bevölkerung in ihren vitalsten Interessen schädigt. Nur die Schankgerechtigkeit und die Mautpacht sind diejenigen Erwerbszweige, die den Juden seitens der Regierung vollständig abgenommen und in christliche Hände übergeführt worden sind. Auch damit erzähle ich nichts Neues, wenn ich berichte, daß der Kleinhandel in den Händen der Juden liegt, und ich würde nur Bekanntes wiederholen, wollte ich auf die historische Begründung dieser sich in allen Ländern gleichbleibenden Erscheinung näher eingehen. Ich glaube, daß für das subjektive Gefühl der galizischen Bevölkerung der Segen der Gewohnheit den Unsegen der Abstumpfung weitaus überragt. Für jeden durch die Kultur verfeinerten Menschen wäre ein Aufenthalt unter den dort landläufigen Bedingungen gleich dem in einer Folterkammer, die zur Verletzung aller unserer Sinne und Empfindungen eingerichtet ist. Ferner als eminent wichtig für die Beurteilung des Landes sind die Erwerbs- und Arbeitsverhältnisse Galiziens zu betrachten. Sich über diese umfassend und fachgemäß zu orientieren, bedürfte es kaufmännischer Vorkenntnisse und eingehender Enqueten. Uns bestätigte schon die laienhafte Beobachtung und Umfrage, oft auch eine unaufgefordert erfolgte Mitteilung die bekannte Tatsache, daß es für die Masse der Bevölkerung in Galizien zu wenig Arbeit und Verdienst gibt, hauptsächlich aber, daß die Leistungsfähigkeit der Juden zu ihrem eigenen unermeßlichen Nachteil und Schaden eine einseitig ausgebildete ist. Einen großen Irrtum, mit dem in der Beurteilung der Landesverhältnisse in Galizien oft gerechnet wird, bin ich heute in der Lage, richtig zu stellen: es gibt kein Handwerk und keinen Erwerb, den die Juden in Galizien nicht treiben dürfen. Ebenso können sie, wie mir von maßgebender Seite versichert wurde, Grund und Boden auch in kleinen Parzellen durch Kauf erwerben oder pachten. In der Regel sind sie nach dieser Richtung auch in der Praxis keiner anderen Handhabung und Auslegung der Gesetze unterworfen wie die christliche Bevölkerung. Freilich sind die Verhältnisse in Bezug auf Bodenbesitz im ganzen Lande sehr bedauerliche, da der Großgrundbesitz die bäuerliche Bevölkerung in ihren vitalsten Interessen schädigt. Nur die Schankgerechtigkeit und die Mautpacht sind diejenigen Erwerbszweige, die den Juden seitens der Regierung vollständig abgenommen und in christliche Hände übergeführt worden sind. Auch damit erzähle ich nichts Neues, wenn ich berichte, daß der Kleinhandel in den Händen der Juden liegt, und ich würde nur Bekanntes wiederholen, wollte ich auf die historische Begründung dieser sich in allen Ländern gleichbleibenden Erscheinung näher eingehen. <TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0026" n="26"/> <p> Ich glaube, daß für das subjektive Gefühl der galizischen Bevölkerung der Segen der Gewohnheit den Unsegen der Abstumpfung weitaus überragt.</p> <p>Für jeden durch die Kultur verfeinerten Menschen wäre ein Aufenthalt unter den dort landläufigen Bedingungen gleich dem in einer Folterkammer, die zur Verletzung aller unserer Sinne und Empfindungen eingerichtet ist.</p> <p>Ferner als eminent wichtig für die Beurteilung des Landes sind die Erwerbs- und Arbeitsverhältnisse Galiziens zu betrachten. Sich über diese umfassend und fachgemäß zu orientieren, bedürfte es kaufmännischer Vorkenntnisse und eingehender Enqueten.</p> <p>Uns bestätigte schon die laienhafte Beobachtung und Umfrage, oft auch eine unaufgefordert erfolgte Mitteilung die bekannte Tatsache, daß es für die Masse der Bevölkerung in Galizien zu wenig Arbeit und Verdienst gibt, hauptsächlich aber, daß die Leistungsfähigkeit der Juden zu ihrem eigenen unermeßlichen Nachteil und Schaden eine einseitig ausgebildete ist. Einen großen Irrtum, mit dem in der Beurteilung der Landesverhältnisse in Galizien oft gerechnet wird, bin ich heute in der Lage, richtig zu stellen: es gibt kein Handwerk und keinen Erwerb, den die Juden in Galizien nicht treiben dürfen. Ebenso können sie, wie mir von maßgebender Seite versichert wurde, Grund und Boden auch in kleinen Parzellen durch Kauf erwerben oder pachten.</p> <p>In der Regel sind sie nach dieser Richtung auch in der Praxis keiner anderen Handhabung und Auslegung der Gesetze unterworfen wie die christliche Bevölkerung. Freilich sind die Verhältnisse in Bezug auf Bodenbesitz im ganzen Lande sehr bedauerliche, da der Großgrundbesitz die bäuerliche Bevölkerung in ihren vitalsten Interessen schädigt.</p> <p>Nur die Schankgerechtigkeit und die Mautpacht sind diejenigen Erwerbszweige, die den Juden seitens der Regierung vollständig abgenommen und in christliche Hände übergeführt worden sind.</p> <p>Auch damit erzähle ich nichts Neues, wenn ich berichte, daß der Kleinhandel in den Händen der Juden liegt, und ich würde nur Bekanntes wiederholen, wollte ich auf die historische Begründung dieser sich in allen Ländern gleichbleibenden Erscheinung näher eingehen.</p> </div> </body> </text> </TEI> [26/0026]
Ich glaube, daß für das subjektive Gefühl der galizischen Bevölkerung der Segen der Gewohnheit den Unsegen der Abstumpfung weitaus überragt.
Für jeden durch die Kultur verfeinerten Menschen wäre ein Aufenthalt unter den dort landläufigen Bedingungen gleich dem in einer Folterkammer, die zur Verletzung aller unserer Sinne und Empfindungen eingerichtet ist.
Ferner als eminent wichtig für die Beurteilung des Landes sind die Erwerbs- und Arbeitsverhältnisse Galiziens zu betrachten. Sich über diese umfassend und fachgemäß zu orientieren, bedürfte es kaufmännischer Vorkenntnisse und eingehender Enqueten.
Uns bestätigte schon die laienhafte Beobachtung und Umfrage, oft auch eine unaufgefordert erfolgte Mitteilung die bekannte Tatsache, daß es für die Masse der Bevölkerung in Galizien zu wenig Arbeit und Verdienst gibt, hauptsächlich aber, daß die Leistungsfähigkeit der Juden zu ihrem eigenen unermeßlichen Nachteil und Schaden eine einseitig ausgebildete ist. Einen großen Irrtum, mit dem in der Beurteilung der Landesverhältnisse in Galizien oft gerechnet wird, bin ich heute in der Lage, richtig zu stellen: es gibt kein Handwerk und keinen Erwerb, den die Juden in Galizien nicht treiben dürfen. Ebenso können sie, wie mir von maßgebender Seite versichert wurde, Grund und Boden auch in kleinen Parzellen durch Kauf erwerben oder pachten.
In der Regel sind sie nach dieser Richtung auch in der Praxis keiner anderen Handhabung und Auslegung der Gesetze unterworfen wie die christliche Bevölkerung. Freilich sind die Verhältnisse in Bezug auf Bodenbesitz im ganzen Lande sehr bedauerliche, da der Großgrundbesitz die bäuerliche Bevölkerung in ihren vitalsten Interessen schädigt.
Nur die Schankgerechtigkeit und die Mautpacht sind diejenigen Erwerbszweige, die den Juden seitens der Regierung vollständig abgenommen und in christliche Hände übergeführt worden sind.
Auch damit erzähle ich nichts Neues, wenn ich berichte, daß der Kleinhandel in den Händen der Juden liegt, und ich würde nur Bekanntes wiederholen, wollte ich auf die historische Begründung dieser sich in allen Ländern gleichbleibenden Erscheinung näher eingehen.
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