Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 1. Leipzig, 1846.acht Uhr war, und bis gegen zehn Uhr pflegten sie gewöhnlich dort beisammen zu bleiben. Er ging in seine kleine Kammer, er zündete sich nicht erst seine kleine Oellampe an -- er hing beim Sternenlicht den Rock, den er auszog, an seinen Nagel, den Shwal über den hölzernen dreibeinigen Schemel, und legte sich auf seinen Strohsack. Es war kalt, aber seine Wangen brannten. Zuweilen aber doch überrieselte ihn ein kalter Schauer -- es kam aber nicht nur vom Frost und weil es kalt durch das kleine, in seinen Rahmen klappernde Fenster hereinzog -- dieser Schauer kam in den Momenten, wenn er daran dachte, daß Pauline gesagt hatte: "Helft mir, wenn ich noch unter Menschen bin!" Und immer wieder mußte er daran denken. Sie hatte diese vielen Stimmen gehört, diese Stimmen Derer, welche arme Arbeiter waren, wie er auch -- und sie hatte daran gezweifelt, unter Menschen zu sein -- ja sie hatte ihn in der Angst ihres Herzens herausgeschrieen diesen ungeheuern Vorwurf! Ach, freilich! Sie hatte diese Trunkenen, diese rohen Schreier gehört, welche sich sogar mir niedrigen Worten an ihr vergangen hatten -- an Menschenwürde hatte sie ja da wohl zweifeln müssen! Und ach, das war es ja eben -- sie war auch vor ihm geflohen, denn er war ja auch unter diesen armen, unglücklichen Menschen ohne Menschenrechte, an deren Fähigkeit zur edelsten Menschenwürde acht Uhr war, und bis gegen zehn Uhr pflegten sie gewöhnlich dort beisammen zu bleiben. Er ging in seine kleine Kammer, er zündete sich nicht erst seine kleine Oellampe an — er hing beim Sternenlicht den Rock, den er auszog, an seinen Nagel, den Shwal über den hölzernen dreibeinigen Schemel, und legte sich auf seinen Strohsack. Es war kalt, aber seine Wangen brannten. Zuweilen aber doch überrieselte ihn ein kalter Schauer — es kam aber nicht nur vom Frost und weil es kalt durch das kleine, in seinen Rahmen klappernde Fenster hereinzog — dieser Schauer kam in den Momenten, wenn er daran dachte, daß Pauline gesagt hatte: „Helft mir, wenn ich noch unter Menschen bin!“ Und immer wieder mußte er daran denken. Sie hatte diese vielen Stimmen gehört, diese Stimmen Derer, welche arme Arbeiter waren, wie er auch — und sie hatte daran gezweifelt, unter Menschen zu sein — ja sie hatte ihn in der Angst ihres Herzens herausgeschrieen diesen ungeheuern Vorwurf! Ach, freilich! Sie hatte diese Trunkenen, diese rohen Schreier gehört, welche sich sogar mir niedrigen Worten an ihr vergangen hatten — an Menschenwürde hatte sie ja da wohl zweifeln müssen! Und ach, das war es ja eben — sie war auch vor ihm geflohen, denn er war ja auch unter diesen armen, unglücklichen Menschen ohne Menschenrechte, an deren Fähigkeit zur edelsten Menschenwürde <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0170" n="160"/> acht Uhr war, und bis gegen zehn Uhr pflegten sie gewöhnlich dort beisammen zu bleiben.</p> <p>Er ging in seine kleine Kammer, er zündete sich nicht erst seine kleine Oellampe an — er hing beim Sternenlicht den Rock, den er auszog, an seinen Nagel, den Shwal über den hölzernen dreibeinigen Schemel, und legte sich auf seinen Strohsack. Es war kalt, aber seine Wangen brannten. Zuweilen aber doch überrieselte ihn ein kalter Schauer — es kam aber nicht nur vom Frost und weil es kalt durch das kleine, in seinen Rahmen klappernde Fenster hereinzog — dieser Schauer kam in den Momenten, wenn er daran dachte, daß Pauline gesagt hatte:</p> <p>„Helft mir, wenn ich noch unter Menschen bin!“</p> <p>Und immer wieder mußte er daran denken. Sie hatte diese vielen Stimmen gehört, diese Stimmen Derer, welche arme Arbeiter waren, wie er auch — und sie hatte daran gezweifelt, unter Menschen zu sein — ja sie hatte ihn in der Angst ihres Herzens herausgeschrieen diesen ungeheuern Vorwurf! Ach, freilich! Sie hatte diese Trunkenen, diese rohen Schreier gehört, welche sich sogar mir niedrigen Worten an ihr vergangen hatten — an Menschenwürde hatte sie ja da wohl zweifeln müssen! Und ach, das war es ja eben — sie war auch vor ihm geflohen, denn er war ja auch unter diesen armen, unglücklichen Menschen ohne Menschenrechte, an deren Fähigkeit zur edelsten Menschenwürde </p> </div> </body> </text> </TEI> [160/0170]
acht Uhr war, und bis gegen zehn Uhr pflegten sie gewöhnlich dort beisammen zu bleiben.
Er ging in seine kleine Kammer, er zündete sich nicht erst seine kleine Oellampe an — er hing beim Sternenlicht den Rock, den er auszog, an seinen Nagel, den Shwal über den hölzernen dreibeinigen Schemel, und legte sich auf seinen Strohsack. Es war kalt, aber seine Wangen brannten. Zuweilen aber doch überrieselte ihn ein kalter Schauer — es kam aber nicht nur vom Frost und weil es kalt durch das kleine, in seinen Rahmen klappernde Fenster hereinzog — dieser Schauer kam in den Momenten, wenn er daran dachte, daß Pauline gesagt hatte:
„Helft mir, wenn ich noch unter Menschen bin!“
Und immer wieder mußte er daran denken. Sie hatte diese vielen Stimmen gehört, diese Stimmen Derer, welche arme Arbeiter waren, wie er auch — und sie hatte daran gezweifelt, unter Menschen zu sein — ja sie hatte ihn in der Angst ihres Herzens herausgeschrieen diesen ungeheuern Vorwurf! Ach, freilich! Sie hatte diese Trunkenen, diese rohen Schreier gehört, welche sich sogar mir niedrigen Worten an ihr vergangen hatten — an Menschenwürde hatte sie ja da wohl zweifeln müssen! Und ach, das war es ja eben — sie war auch vor ihm geflohen, denn er war ja auch unter diesen armen, unglücklichen Menschen ohne Menschenrechte, an deren Fähigkeit zur edelsten Menschenwürde
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Zitationshilfe: | Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 1. Leipzig, 1846, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/otto_schloss01_1846/170>, abgerufen am 22.07.2024. |