Sie sah ihn, wie er innen hielt, groß und schmerzlich an -- sagte aber kein Wort. Suschen war ein einfaches Naturkind, aber sie wußte gar wohl, was der Schulmei- ster mit diesen Worten ihr sagen wollte -- sie wußte aber auch, daß sie den Vorwurf, der darin lag: sie wolle nur, um Johannes wieder zu sehen, in die Stadt, nicht im Geringsten verdiente! Daß der Schulmeister sie so ver- kennen, ihren reinen Willen mißdeuten konnte, schmerzte sie so tief, daß sie im Gefühl ihrer Unschuld und Würde, ja auch im Gefühl ihrer Liebe, die so von dem rechten auf einen falschen Gegenstand übertragen und gesucht ward, ganz still schwieg und den Schulmeister nur mit einem langen, betrübten und zurechtweisenden Blick an- sah, daß er auch verstummte.
Sie wendete sich zu der Kranken, die sich eben regte, die Arme ausstreckte und einen Schrei ausstieß -- der Schrei klang, wie der Name "Johanneslein!" aber nur die, welche wußten, was ohngefähr wohl der Ruf heißen könne, konnten ihn verstehen, denn Mutter Eva vermochte die Sylben nicht deutlich zu sprechen. Suschen neigte sich über sie und flüsterte ihr leise zu: "Morgen wird er kommen, verschlaft nur die Nacht ruhig, dann habt Jhr ihn wieder!"
Mutter Eva streichelte Suschens Stirn, man sah ihr an, daß sie ihre Pflegerin erkannte, aber auch, daß
Sie ſah ihn, wie er innen hielt, groß und ſchmerzlich an — ſagte aber kein Wort. Suschen war ein einfaches Naturkind, aber ſie wußte gar wohl, was der Schulmei- ſter mit dieſen Worten ihr ſagen wollte — ſie wußte aber auch, daß ſie den Vorwurf, der darin lag: ſie wolle nur, um Johannes wieder zu ſehen, in die Stadt, nicht im Geringſten verdiente! Daß der Schulmeiſter ſie ſo ver- kennen, ihren reinen Willen mißdeuten konnte, ſchmerzte ſie ſo tief, daß ſie im Gefuͤhl ihrer Unſchuld und Wuͤrde, ja auch im Gefuͤhl ihrer Liebe, die ſo von dem rechten auf einen falſchen Gegenſtand uͤbertragen und geſucht ward, ganz ſtill ſchwieg und den Schulmeiſter nur mit einem langen, betruͤbten und zurechtweiſenden Blick an- ſah, daß er auch verſtummte.
Sie wendete ſich zu der Kranken, die ſich eben regte, die Arme ausſtreckte und einen Schrei ausſtieß — der Schrei klang, wie der Name „Johanneslein!“ aber nur die, welche wußten, was ohngefaͤhr wohl der Ruf heißen koͤnne, konnten ihn verſtehen, denn Mutter Eva vermochte die Sylben nicht deutlich zu ſprechen. Suschen neigte ſich uͤber ſie und fluͤſterte ihr leiſe zu: „Morgen wird er kommen, verſchlaft nur die Nacht ruhig, dann habt Jhr ihn wieder!“
Mutter Eva ſtreichelte Suschens Stirn, man ſah ihr an, daß ſie ihre Pflegerin erkannte, aber auch, daß
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Sie ſah ihn, wie er innen hielt, groß und ſchmerzlich
an — ſagte aber kein Wort. Suschen war ein einfaches
Naturkind, aber ſie wußte gar wohl, was der Schulmei-
ſter mit dieſen Worten ihr ſagen wollte — ſie wußte
aber auch, daß ſie den Vorwurf, der darin lag: ſie wolle
nur, um Johannes wieder zu ſehen, in die Stadt, nicht
im Geringſten verdiente! Daß der Schulmeiſter ſie ſo ver-
kennen, ihren reinen Willen mißdeuten konnte, ſchmerzte
ſie ſo tief, daß ſie im Gefuͤhl ihrer Unſchuld und Wuͤrde,
ja auch im Gefuͤhl ihrer Liebe, die ſo von dem rechten
auf einen falſchen Gegenſtand uͤbertragen und geſucht
ward, ganz ſtill ſchwieg und den Schulmeiſter nur mit
einem langen, betruͤbten und zurechtweiſenden Blick an-
ſah, daß er auch verſtummte.
Sie wendete ſich zu der Kranken, die ſich eben regte,
die Arme ausſtreckte und einen Schrei ausſtieß — der
Schrei klang, wie der Name „Johanneslein!“ aber nur
die, welche wußten, was ohngefaͤhr wohl der Ruf heißen
koͤnne, konnten ihn verſtehen, denn Mutter Eva vermochte
die Sylben nicht deutlich zu ſprechen. Suschen neigte
ſich uͤber ſie und fluͤſterte ihr leiſe zu: „Morgen wird er
kommen, verſchlaft nur die Nacht ruhig, dann habt Jhr
ihn wieder!“
Mutter Eva ſtreichelte Suschens Stirn, man ſah
ihr an, daß ſie ihre Pflegerin erkannte, aber auch, daß
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Otto-Peters, Louise: Ein Bauernsohn. Leipzig, 1849, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/otto_bauernsohn_1849/301>, abgerufen am 22.11.2024.
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