Oest, Johann Friedrich: Nöthige Belehrung und Warnung für Jüngling und solche Knaben. In: Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens: von einer Gesellschaft practischer Erzieher, Bd. 6. Wolfenbüttel, 1787. S. 293-434ersten Anblicke so sehr für ihn ein, daß ich eine genauere Bekanntschaft mit ihm suchte und auch -- jedoch nicht ohne Mühe -- fand. Bei einem nähern Umgange entdeckte ich in ihm einen edlen offenen Character, vereiniget mit den herrlichsten Fähigkeiten und Talenten. Oft forschte ich nach den Ursachen seiner Schwermuth und seiner beständigen blassen Gesichtsfarbe; allein lange umsonst; bis er endlich neulich, da ich mich seines Vertrauens versichert hatte, und von neuem stark in ihm drang, in folgende unglückliche Worte gegen mich ausbrach: "Freund! forschen Sie nicht länger nach den Ursachen meiner gerechten Betrübniß; denn gewiß werden Sie, wenn ich sie Jhnen entdecke, von Stund an meinen Umgang meiden und mich, als einen Verworfenen, meinen eigenen Gewissensbissen überlassen. -- Doch nein! Sie sind zu menschenfreundlich, als daß Sie so gegen mich verfahren könnten. Hören Sie demnach: das unglückliche Beispiel eines jungen Menschen, mit dem ich die Schule besuchte, hat mich zu dem verabscheuungswürdigen, die Menschheit entehrenden Laster der Selbstschwächung verleitet. Das Höchstschädliche dieser schändlichen Handlung sah ich damals noch nicht ein; seit einiger Zeit aber fühle ich ersten Anblicke so sehr für ihn ein, daß ich eine genauere Bekanntschaft mit ihm suchte und auch — jedoch nicht ohne Mühe — fand. Bei einem nähern Umgange entdeckte ich in ihm einen edlen offenen Character, vereiniget mit den herrlichsten Fähigkeiten und Talenten. Oft forschte ich nach den Ursachen seiner Schwermuth und seiner beständigen blassen Gesichtsfarbe; allein lange umsonst; bis er endlich neulich, da ich mich seines Vertrauens versichert hatte, und von neuem stark in ihm drang, in folgende unglückliche Worte gegen mich ausbrach: “Freund! forschen Sie nicht länger nach den Ursachen meiner gerechten Betrübniß; denn gewiß werden Sie, wenn ich sie Jhnen entdecke, von Stund an meinen Umgang meiden und mich, als einen Verworfenen, meinen eigenen Gewissensbissen überlassen. — Doch nein! Sie sind zu menschenfreundlich, als daß Sie so gegen mich verfahren könnten. Hören Sie demnach: das unglückliche Beispiel eines jungen Menschen, mit dem ich die Schule besuchte, hat mich zu dem verabscheuungswürdigen, die Menschheit entehrenden Laster der Selbstschwächung verleitet. Das Höchstschädliche dieser schändlichen Handlung sah ich damals noch nicht ein; seit einiger Zeit aber fühle ich <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0068" n="360"/> ersten Anblicke so sehr für ihn ein, daß ich eine genauere Bekanntschaft mit ihm suchte und auch — jedoch nicht ohne Mühe — fand. Bei einem nähern Umgange entdeckte ich in ihm einen edlen offenen Character, vereiniget mit den herrlichsten Fähigkeiten und Talenten. Oft forschte ich nach den Ursachen seiner Schwermuth und seiner beständigen blassen Gesichtsfarbe; allein lange umsonst; bis er endlich neulich, da ich mich seines Vertrauens versichert hatte, und von neuem stark in ihm drang, in folgende unglückliche Worte gegen mich ausbrach: “Freund! forschen Sie nicht länger nach den Ursachen meiner gerechten Betrübniß; denn gewiß werden Sie, wenn ich sie Jhnen entdecke, von Stund an meinen Umgang meiden und mich, als einen Verworfenen, meinen eigenen Gewissensbissen überlassen. — Doch nein! Sie sind zu menschenfreundlich, als daß Sie so gegen mich verfahren könnten. Hören Sie demnach: das unglückliche Beispiel eines jungen Menschen, mit dem ich die Schule besuchte, hat mich zu dem verabscheuungswürdigen, die Menschheit entehrenden Laster der Selbstschwächung verleitet. Das Höchstschädliche dieser schändlichen Handlung sah ich damals noch nicht ein; seit einiger Zeit aber fühle ich </p> </div> </body> </text> </TEI> [360/0068]
ersten Anblicke so sehr für ihn ein, daß ich eine genauere Bekanntschaft mit ihm suchte und auch — jedoch nicht ohne Mühe — fand. Bei einem nähern Umgange entdeckte ich in ihm einen edlen offenen Character, vereiniget mit den herrlichsten Fähigkeiten und Talenten. Oft forschte ich nach den Ursachen seiner Schwermuth und seiner beständigen blassen Gesichtsfarbe; allein lange umsonst; bis er endlich neulich, da ich mich seines Vertrauens versichert hatte, und von neuem stark in ihm drang, in folgende unglückliche Worte gegen mich ausbrach: “Freund! forschen Sie nicht länger nach den Ursachen meiner gerechten Betrübniß; denn gewiß werden Sie, wenn ich sie Jhnen entdecke, von Stund an meinen Umgang meiden und mich, als einen Verworfenen, meinen eigenen Gewissensbissen überlassen. — Doch nein! Sie sind zu menschenfreundlich, als daß Sie so gegen mich verfahren könnten. Hören Sie demnach: das unglückliche Beispiel eines jungen Menschen, mit dem ich die Schule besuchte, hat mich zu dem verabscheuungswürdigen, die Menschheit entehrenden Laster der Selbstschwächung verleitet. Das Höchstschädliche dieser schändlichen Handlung sah ich damals noch nicht ein; seit einiger Zeit aber fühle ich
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/oest_knaben_1787 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/oest_knaben_1787/68 |
Zitationshilfe: | Oest, Johann Friedrich: Nöthige Belehrung und Warnung für Jüngling und solche Knaben. In: Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens: von einer Gesellschaft practischer Erzieher, Bd. 6. Wolfenbüttel, 1787. S. 293-434, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/oest_knaben_1787/68>, abgerufen am 16.07.2024. |