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[Fortsetzung] mich losgelassen, und stürzt sich mit einer Fluth von Verwünschungen und Racheschreien über mein Haupt. Die Schwachen und Gleichgültigen selbst werden von diesem allgemeinen Strom mit fortgerissen,
und noch bei Eröffnung des Prozesses las man in einem Journal hier in Bourges: „Blanqui! Ah, wenden wir unsere Augen ab von diesem blutdürstigen Ungeheuer!“ Die Griechen hatten in
Hercules alle Heldenthaten ihres heroischen Zeitalters personifizirt: die Reaktion wollte in mir alle Infamien und Schandthaten des ihrigen konzentriren, sie hat mich zum Hercules der Verbrechen
gemacht. (Lange, lebhafte Aufregung im Publikum.)
In der That, wie hätten die Elenden in ihrem Treiben auch Maß halten sollen, nachdem ihnen das Signal dazu aus dem Munde eines Ministers gegeben worden war, wenn die Verläumdung ungestraft,
geschützt, geheiligt von der Höhe der Tribüne auf einen in seiner einsamen Zelle begrabenen Geächteten niederfallen darf? Wer, frage ich, wer hätte nicht Steine und Koth nach mir geworfen? Lesen Sie
diese schmachvollen, ehrlosen Seiten Ihrer Zeitgeschichte, wo die ehemals gefeierten Volksmänner bei dem ersten Schritt, den sie in die mephitische Region der Gewalt thun, ich weiß nicht welche
verpestete, giftige Atmosphäre athmen, die sie berauscht und der gewöhnlichen Regungen der Gerechtigkeit und des Schamgefühls entkleidet. Es ist ein geächteter, vertheidigungsloser, in der Stille
seiner Zelle stumm, gemachter Gefangener, gegen welchen alle diese großen Männer in langer Prozession zu Felde ziehen, um ihm Mann für Mann den feigen Tritt des Thieres in der Fabel zu versetzen.
Sie selbst haben in diesen Verhandlungen das tiefe Gewebe gegen mich vereinigter Privatleidenschaften gesehen; aber ich zweifle, daß man in meinem ganzen Leben nur die leiseste Spur von Privathaß
gegen irgend eine Person der Welt entdecken wird. Stets und einzig für die Sache des Volks auf der Bresche, haben mich alle Schläge nicht unterdrücken können. Es ist das Bewußtsein der mit Ruhe und
Zähigkeit erfüllten Pflicht, was mein Haupt aufrecht gehalten hat mitten unter den grausamsten Prüfungen, indem es vor meinen Augen von Weitem den Tag der Enttäuschungen und der Genugthuungen leuchten
ließ. Mag dieser Tag auch nur auf ein Gefängniß herabscheinen, wenig liegt mir daran! Er wird mich finden in meinem gewohnten Domizil, das ich seit 12 Jahren wenig verlassen habe. Die siegreiche
Revolution hatte mich ihm einen Augenblick entrissen, die verrathene und besiegte Revolution läßt mich darin zurückstürzen. Das eben ist unser Ruhm: leiden und triumphiren mit den Leiden und dem
Triumph jenes großen Volkes von Enterbten! Unser ganzes Leben war dem Kultus und der Propaganda der Prinzipien gewidmet, die es dem Fegefeuer des Elends und der Unwissenheit entreißen werden. Das ist
unser Ruhm, das ist auch unser Verbrechen! Wir haben ein anderes begangen, wir haben die Repressalien verschmäht. Es ist dies das Verbrechen der Großmuth, ein unkluges Verbrechen, das dem Schimpf der
Niederlage den Schimpf empfangener Milde hinzufügt. Zweimal in 18 Jahren haben wir dies Verbrechen begangen und zweimal es gebüßt mit unsern Thränen und unserm Blut. Aber so sind wir einmal: der Sieg
entreißt unserm Herzen den Zorn und unsern Händen die Waffe. Wir reichen unsern alten Feinden die Hand, die sich wieder aufrichten und uns niederschlagen.
Die Sitten der Parteien sind die Töchter ihrer Doktrinen: die einen, tiefbeseelt von der Empfindung der Brüderlichkeit, wissen in das Unglück den Stolz und den Muth zu tragen, in den Sieg das
Vergessen und das Mitleid; die andern, kalte Egoisten, zeigen sich kriechend in der Niederlage, grausam, unerbittlich im Erfolg.
Umsturzdoktrinen! sagt man, antisoziale Doktrinen! Wir kennen diese Worte, sie sind fast so alt wie die Menschen; es war dies die Sprache der Inquisition, die Sprache des Heidenthums, das die
ersten Christen abschlachtete: es ist dies die Sprache der Welten, die im Untergehen begriffen sind.
Als im 16ten Jahrhundert die Reform in Europa eklatirte, beim Rufe Luthers und Calvins, was war der Schlachtschrei jenes von Lastern zerfressenen Schwarms, dessen Ausgelassenheit den ersten Anstoß
zu dieser mächtigen Revolte des Gedankens gab? Der Schrei, derselbe Schrei, den wir heute gegen die neuen Ideen brüllen hören: Gottlose Doktrinen, verkehrte Theorien! Und vorwärts gegen die Feinde
Gottes und der Gesellschaft. Die Torturen, das Schaffot, die Scheiterhaufen! Was war der Erfolg dieser wilden Repressionen? Ein Bürgerkrieg, der ein Jahrhundert durch Europa mit Blut und
Schlächtereien erfüllt hat und schließlich endet mit dem Triumphe des bestrittenen Princips, der Gewissensfreiheit.
Die Organe des öffentlichen Ministeriums sind gekommen, sie auch, donnern, der Runde nach, das Anathem der Rücksichtslosigkeit gegen die unmöglichen und schuldvollen Utopieen, gegen die
gesellschaftsauflösenden Theorieen. Dieselben Philippiken hatte ich schon gehört, fast mit denselben Worten, durch die Requisitorien der Monarchie. Die Presse, die Tribüne, die Kanzel, der Lehrstuhl,
der Thron fabriciren täglich unzählbare Muster dieser Moralrhetorik. Ich will mich begnügen mit zwei Proben:
Proklamation des östreichischen Generals Haynau nach der Einnahme von Chiavenna: „Die Truppen haben die Insurgenten geschlagen und zersprengt; sie haben ihre Schlupfwinkel verbrannt und es
bleibt nur noch diese Stadt der verdienten Züchtigung zu unterwerfen. Möge dieser abermals gescheiterte Versuch und diese revolutionäre und verbrecherische Expedition den verirrten Menschen die Augen
öffnen und sie verzichten lassen auf die Ausführung sinnloser und unpraktischer Theorieen.“
Brief des Kaisers Nikolaus an den Ban Jelachich bei Uebersendung des St. Wladimirordens: „General, Ihre edlen Anstrengungen, um vor einem Schiffbruch die Prinzipieen der gesellschaftlichen
Ordnung zu retten, die durch ein anarchisches Wort mit Füßen getreten worden sind, haben Ihnen gerechte Ansprüche auf meine Achtung erworben.“
Sie sehen, es ist dies absolut dieselbe Rhetorik. Wer hat sich hier des Plagiats schuldig gemacht, die östreichischen Generale, der Kaiser Nikolaus oder die Requisitorien? Ich frage Sie. Manchmal
begegnen sich auch die schönen Seelen, oder wenn Sie wollen, die gutgesinnten Seelen. Dieselben Interessen, derselbe Zorn hat dieselbe Sprache in den Mund dieser verschiedenen Herren gelegt; es ist
dies eine Verbrüderung wie eine andere.
Utopie, Unmöglichkeit! niederschmetterndes Wort, durch unsere Feinde auf unsre Stirn genagelt und das sagen will: Mörder!
Es giebt keine Utopisten im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Es giebt Denker, die eine neue, brüderlichere Gesellschaft ahnen. Einige dieser Denker bleiben wie Moses auf dem Berge stehn, versunken in
die Betrachtung jenes fernen Landes, das ewig ihre Blicke täuscht mit phantastischen Spiegelbildern. Die andern sagen: Gehn wir voran! Dort ist die Straße! Sie führt durch unbekannte Gegenden, aber
voran! ohne uns jemals aufzuhalten, ohne jemals zurückzublicken. Am 24. Februar haben sie mit einem Ansatz über einen Abgrund zwischen zwei Felsen hinweggesetzt. Manchmal, wenn der Graben zu breit ist
oder der Anlauf zu kurz genommen wird, bleiben viele in der Tiefe des Abgrunds. Auf diesem Wege ist das Gefängniß nur ein Ruhposten für die Verwundeten, welche durch neue Gefährten in der Arbeit
ersetzt werden.
Ich bin einer dieser Reisenden; gestern nannten sie sich Revolutionäre, heute Socialisten.
Welche großartige Perspektive zeigte sich uns nach dem Februar! Wie rasch verschwand sie! Der Weg zeigte sich von weitem so schön und so breit, und der Unverstand hat uns in ein gräßliches
Schlammloch hineingestürzt!
Meine Stimme versuchte sich gegen die Perfiden zu erheben, sie haben sie erstickt unter der Verläumdung. Die Revolution von 1848 wollte die Korruption entthronen. Ist es ihr gelungen? Nein. Nun
wohl! Der Sturm wird von neuem beginnen.
Die Korruption lenkt Frankreich; alle Parteien kranken daran; die 18 Jahre des Reichs Louis Philippe's haben das venerische Gift den entferntesten Verzweigungen des gesellschaftlichen
Körpers inokulirt. Die Regierungsgewalt hat das Uebel verursacht, sie allein kann es heilen; möge sie wenigstens diese Aehnlichkeit mit der Lanze des Achilles haben. Vor allem aber möge sie die
homöopathische Methode aufgeben; sie hat ihr sehr schlecht angeschlagen bis auf diesen Tag. (Lachen.) Frankreich sieht in den Staatsmännern nur mehr einen gierenden Schwarm, ohne Scham und ohne
Ueberzeugung. (Bewegung.) Republik, Kaiserthum, Königthum flößen ihm gleichmäßig Verachtung und Mißtrauen ein. Betrogen, ruinirt, demoralisirt, glaubt es an nichts mehr und wälzt sich auf seinem
Schmerzenslager.
Die Republik hatte ihm Erleichterung der öffentlichen Lasten und Rechtschaffenheit versprochen, und das lautete in die Wirklichkeit übersetzt: 45 Centimessteuer und Erpressungen. Die
Präsidentschaft hatte Zurückzahlungen versprochen, sie schickt Soldaten zur Einquartierung. Die provisorische Regierung nahm drei Monate Elend als Opfer auf dem Altare des Vaterlandes von den
Arbeitern an und sprach jedem ihrer Mitglieder täglich 200 Frs. zu Betrügereien, Unterschleife, Immoralitäten immer und überall; auch ist der Glaube und die Geduld zu Ende, nichts bleibt mehr, als
überreizte Gelüste, verzehrendes Elend, todte Gewissen. Allgemeine Auflösung, bald das Chaos!
Ohne eine Radikalreform, wird diese Gesellschaft untersinken. Man kann ihr zurufen mit Jonas: „Noch 40 Tage und Ninive wird zerstört sein!“
Alexander, in der Wüste, verschüttet in den Sand die wenigen Wassertropfen, die man ihm in einem Helme gebracht hatte und ruft aus: „Alle oder Niemand!“ Diese Selbstverleugnung ihres
Anführers elektrisirt und rettet die macedonische Armee. Wenn das Volk fastet, muß Niemand essen. ‒ Das war die Utopie, die ich am Morgen des Februars träumte. Wie viel unversöhnliche Feinde
hat sie mir geschaffen! Sie dachten nur daran, die Interessen zu entfesseln ‒ ich wollte die Gewissen in Leidenschaft setzen. Es handelte sich indeß keineswegs darum, eine Republik von
Spartanern, es handelte sich nur darum, eine Republik ohne Heloten zu gründen.
Ich gehe jetzt zum zweiten Theil meiner Vertheidigung über.
(Die Sitzung wird auf einige Minuten ausgesetzt. Nach dieser kurzen Ruhe geht Blanqui auf die Untersuchung der Thatsachen über und schließt nach einem glänzenden, von Geist und Energie erfüllten
Plaidoyer diesen zweiten Theil seiner Vertheidigung:)
Man hat gesagt, daß ich die Assemblée stürzen wollte. Und warum haben wir nicht die Mobil- und Nationalgarden auf unsere Seite gebracht? Warum haben wir so viel Zeit in Reden und
Diskussionen verloren, statt einfach die Repräsentanten zum Fenster hinauszuwerfen und mit den Waffen in der Hand nach dem Hotel-de-Ville zu ziehen, um unsere Regierung zu proklamiren? Statt alle dem
ließen wir unsere Schaaren sich zerstreuen und die Nationalgarde durch den Rappel zusammentrommeln. Unsere Faktieusen, wie man sie nennt, waren noch da, als die Stimme jenes Wahnsinnigen die Auflösung
der Assemblée verkündete: warum ließen wir sie nicht die Mobilen und Nationalgarden entwaffnen? Aber nein; man ist einfältig, wie man kam, zurückgekehrt und und nichts, nicht der geringste
Zufall deutet auf die Vorbereitung oder Zusammenwirkung zu einem Attentat.
In Betreff der Reisebeschreibung nach meinem Weggehen aus der Assemblée, will ich mit dem Herrn Generalprokurator nicht rechten, da derselbe offenbar von der Topographie von Paris nicht viel
versteht. Doch möchte ich gern wissen, welchen Weg der Generalprokurator eingeschlagen haben würde, um von der Assemblée nach dem Quai de la Megisserie zu kommen, ohne in der Richtung des Hotel
de Ville zu gehen.
Warum hätte ich nach dem Hotel de Ville gehen sollen? Das hieße, wie man sagt, köpflings von den Thürmen der Notre-Dame springen, und ich hatte keine Lust, auf meinen Kopf zu springen. Nach Allem,
meine Herren Geschworenen, stehen sie in der Alternative: wenn sie nach den Thatsachen richten, werden sie uns freisprechen; wenn sie uns aber im Gegentheil als wilde Thiere ansehen, verurtheilen sie
uns; aber dann reden sie auch nicht im Namen der menschlichen Gerechtigkeit, dann nehmen sie auch die ganze klägliche Erinnerung dieses hohen Gerichtshofes auf ihre Schultern.
(Nach der Rede Blanqui's wird die Sitzung auf eine halbe Stunde ausgesetzt).
General-Prokurator Baroche erhält das Wort zur Beantwortung der Vertheidigung.
Derselbe resumirt die Hauptbelastungspunkte der Anklage namentlich gegen Blanqui, Raspail, Sobrier und Courtais. Er glaubt bei dieser Gelegenheit auch auf die Berichte und Artikel einiger
demokratischen Blätter, besonders des „Peuple“, über den Prozeß von Bourges eingehen zu müssen, um zu zeigen, von welcher Partei und in welchem Sinn die Freisprechung der Angeklagten
gewünscht werde *). In der Sache selbst endlich erklärt er, auf allen Punkten des
Requisitoriums, namentlich gegen Blanqui, Sobrier, Raspail und Courtais zu beharren, und ruft den Geschworenen zu, daß die Schuldigsprechung ihre Pflicht sei, wenn sie nicht die öffentliche Gewalt in
die Nothwendigkeit versetzen wollten, noch einmal mit bewaffneter Hand den Frieden im Lande herzustellen.
Schluß der Sitzung 7 Uhr.