Deutschland.
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] Koln, 19. Januar.
Der letzte und höchste Trumpf, den die volksfeindliche Parthei ausgespielt, ist, wie schon gesagt, ein eigenhändiges vom Minister Hrn. Manteuffel gegengezeichnetes, Schreiben des preußischen
Königs.
Es war eine kitzliche Frage, wie sich wohl die Einmischung des letztern am besten bewerkstelligen ließe. Doch den Herren „mit Gott für König und Junkerschaft“ gelang endlich nach
langem Nachdenken ihre Lösung.
Ein gewisser Schulze Krengel in Nessin (einem kleinem Dorfe) bei Kolberg mußte nebst mehreren Tagelöhnern eine schriftliche Anfrage an den König unterschreiben, worin sie um Aufklärung nber Zweifel
baten, die in ihnen nach Lesung gewisser, angeblich im Namen des Königs verbreiteter Flugschriften aufgestiegen seien.
Je naiver man die Leute fragen ließ, um desto wahrscheinlicher, daß der eigentliche Ursprung dieses saubern Wahlmanöver's verhüllt bleiben würde.
Sie mußten daher fragen, ob es denn wahr sei, daß Se. Maj. wirklich beabsichtigtige, das Grundeigenthum zu theilen und den Besitzlosen zuzuwenden?
Man kann sich den Todesschrecken und die schlaflosen Nächte der Tagelöhner von Nessin vorstellen, als sie von solcher Absicht hörten. Wie? Der König will den Grundbesitz theilen? Wir Tagelöhner,
die wir bis jetzt für 5 Sgr. täglich mit solcher Wollust den Acker des gnädigen Herrn bestellten, sollen aufhören zu tagelöhnern, und unser eignes Feld bearbeiten? Der gnädige Majoratsherr, der 80-90
Dominien besitzt und blos einige hunderttausend Morgen Landes, von dem sollen so und so viel Morgen an uns gegeben werden?
Nein, bei dem bloßen Gedanken an so schreckliches Unheil zitterten unsre Tagelöhner an allen Gliedern. Sie hatten keine ruhige Stunde mehr, bis sie die Versicherung hatten, daß man sie wirklich
nicht in dieses bodenlose Elend stürzen, die drohenden Morgen Landes fern halten und den gnädigen Herrn nach wie vor belassen wolle.
Ganze Provinzen kann man wohl den Besitzern wegnehmen, aber im Kleinen muß Alles beim Alten bleiben.
Eine zweite Frage lag den guten Leuten auch schwer auf dem Herzen. Ob denn Se. Maj. zur Auflösung der Nationalversammlung durch seine Rathgeber gezwungen worden? Drittens aber mußten sie schönstens
um eine „bestimmte Anweisung über die Person des zu Wählenden bitten, indem sie nur zu Allerhöchstdenselben in dieser Beziehung (also in andern Beziehungen, z. B. in Geldsachen und dergleichen
kitzlichen Geschichten nicht? O ihr Löwen aus der Nessiner Fabel, ihr seid vielleicht nicht so dumm, als ihr ausseht) volles Vertrauen hätten und das, was ihnen von Sr. Maj. angerathen werde,
unbedingt ausführen würden.“
Mit diesen Anfragen denken die Brandenburg-Manteuffel's zwei Fliegen auf einmal zu schlagen. Einerseits wollen sie zeigen, was es noch für Prachtexemplare von urweltlichen Unterthanen giebt
oder doch geben könnte, und dann haben sie, was hier die Hauptsache ist, das Mittel gefunden, daß endlich der König selbst als oberster Wahlagitator der preußischen Adels-, Beamten- und
Geldsack-Partei auftreten kann.
Sofort wird das Antwortschreiben abgefaßt.
Darin beruhigt der König die noch immer angstvoll bebenden Tagelöhner, daß er sie in ihrer Besitzlosigkeit durchaus nicht stören werde und gar nicht daran denke, sie durch Verleihung von Ackerland
auf ewig in's Elend zu stürzen.
Die Tagelöhner athmen freier auf.
Ihre Ungewißheit über Auseinandersprengung der Nationalversammlung wird beseitigt, indem ihnen der preußische König folgendes erklärt:
„Die zur Vereinbarung der Verfassung berufene Versammlung habe ich auf den Rath Meiner Minister, aber in eigner freier Entschließung aufgelöst (woran höchstens p. p. Krengel und Genossen
zweifeln konnten). Niemand anders hat mich dazu gezwungen, als jene Versammlung selbst, indem die Mehrzahl ihrer Mitglieder (also keine Fraktion?) Meinem Rufe, in Brandenburg ihre Berathung
fortzusetzen, nicht folgte und durch gesetzwidrige Beschlüsse den Staat und Mein königl. Haus in die äußersten Gefahren brachte.“
Die Vereinbarer selbst waren Schuld, daß sie zum Teufel gejagt wurden!
Hätten sie nicht den im christlich-germanischen Staat aufgethürmten Unrath etwas ausmisten und den Verschleuderungen der Staatseinnahmen im Civil- und Militär, den unerträglich gewordenen Schikanen
in allen Richtungen des Lebens, den süßen Genüssen der bevorrechteten Adels- und Beamtenkaste zu Leibe gehen wollen, sondern hätten sie hübsch meine königlichen Vorschläge, mittelst deren das Volk
nach wie vor geknechtet und ausgebeutelt werden kann, ohne lange Widerrede angenommen: so wären wir gute Freunde geblieben und die Vereinbarer säßen wohl noch bei einander.
Ja, in solchem Falle wäre es auf einige hunderttausend Thaler mehr oder weniger nicht angekommen. Ihr wißt doch, wie Preußens Könige in solchen Dingen, wenn man nur nicht mit den Rechten des Volkes
Ernst machen will, mit den Geldern der geliebten Unterthanen durchaus nicht geizen.
Haben nicht die 8 Provinzen seit 1823 ihre Landtage gehabt, die eine Summe gekostet haben, mit der man eine Nationalversammlung über 4 Jahre aushalten kann? Allein, diese Landstände, das waren auch
meistens so liebe, so gute Burschen, daß wir königlichen Wohlgefallen an ihnen hatten und wenn uns etwas nicht gefiel an ihnen, so klopften wir sie beim Abschiede tüchtig auf die Finger und so hatten
wir zwar einen theuern, aber sehr ergötzlichen Carnevalsspaß.
Die Vereinbarer glaubten aber mehr zu sein und thaten, als hätte sie das Volk nach Berlin geschickt, um seine Forderungen festzustellen, seine Rechte „auf breitester Grundlage“ zu
befestigen, ihm Erleichterungen zu verschaffen und die Staatseinrichtungen zu befestigen, die zum Vortheile einer verhältnißmäßig höchst geringen Zahl von Adligen, Beamten und Geldsäcken so lange
Jahrzehnte auf ihm lasteten.
Die Vereinbarer gingen in ihrer Frechheit sogar bis zu dem Punkte, daß sie Entfernung der reaktionären Offiziere forderten, die, wie z. B. in Schweidnitz, die bürgerliche Kanaille, schwangere
Frauen und Kinder ohne den mindesten Anlaß niederzuschießen befahlen. Damit nicht genug, beschlossen sie Aufhebung des Adels! Wahrlich, schon dieser eine Versuch, diese Stütze „Meines
Thrones“, diese Königsmänner, den Liebling, welcher aus den Taschen des Volkes jährlich die prächtigsten Sümmchen unter dem einen oder andern Namen bezieht (wie die vermaledeite
Vereinbarungskommission in ihrer Frechheit vor aller Welt ausgeplaudert hat) zu bloßen Menschen zu erniedrigen, wozu einmal „Mein Adel“ nicht erzogen ist: schon dieser Versuch hatte die
Geduld erschöpft; aber die Rüstungen waren noch nicht ganz beendigt und so lange die Geschichte in Wien unentschieden war, mußte der Aerger hineingeschluckt werden.
Inzwischen gingen die Kerls immer weiter: sie schafften die Orden ab und alle nicht zu einem bestimmten Amt gehörigen Titel. Mit einem Orden, der etwa ein Paar Thaler kostet, kann man sich Spione
kaufen und erhalten, die sonst große Summen kosten würden. Auch ist für die, welche nichts im Herzen haben, irgend ein Bändchen, Sternchen etc. auf dem Herzen unerläßlich, eben so, wie den
Charakterlosen mit geringer Mühe zu einem Charakter, z. B. als Hofrath, Kammerherr, Kommerzienrath etc. allerhöchst verholfen werden kann.
Nun, wie die allerhöchste Galle kochte, könnt Ihr Euch denken, geliebter Krengel und Genossen von Nessin (bei Kolberg notabene)!
Leider mußte auch das noch geduldet werden. An den Belagerungszuständen arbeiteten zwar die Getreuen Tag und Nacht; aber es fehlte noch hie und da bald an Diesem bald an Jenem.
Und, geliebte Tagelöhner von Nessin! diese höllischen Buben von Volksvertretern erklärten die Jagd für frei, das heißt, die gnädigen Gutsherren, große und kleine, und die Mitglieder des
königl. Hauses als Gutsbesitzer mit darunter, wir waren auf einmal um das schöne Vorrecht geprellt, die Felder der Bauern fernerhin zu zertreten und durch unser gehegtes und geheiligtes Wild verwüsten
zu lassen.
Noch Schlimmeres stand bevor. Jene Volksvertreter wollten nun gar die Lasten der Bauern erleichtern, ihre Hofdienste und ihre Abgaben an die Gutsherren, als ein abscheuliches, wenn auch
Jahrhunderte lang geduldetes Unrecht, zumeist ohne Entschädigung für aufgehoben erklären.
Schöne Aussicht! So wären für den theuern Adel gerade die allerergiebigsten Vorrechte dahin gewesen.
Dies ist eine kurze Uebersetzung jener königlichen Worte in klares, aufrichtiges Deutsch.
„Ich durfte es nicht dulden“, lautet das königl. Plakat weiter, „daß durch die Verirrungen (die wir eben theilweise bezeichnet) jener Abgeordneten, die von Mir verheißenen
Freiheiten länger dem Lande vorenthalten und Ruhe und Ordnung länger gestört und dadurch das Gedeihen der Gewerbe und die Wohlfahrt des Landmannes beeinträchtigt wurden. Ich habe demnach bei Auflösung
jener Versammlung ebenfalls aus freier, eigner Bewegung (ja wohl, und aus guten Gründen) Meinem Volke ausgedehnte Rechte und Freiheiten in einer Verfassungsurkunde feierlich verbrieft. Die nochmalige
genaue Prüfung und jede mögliche Verbesserung der Verfassung sind vorbehalten und werden unter Mitwirkung der jetzt zu wählenden Abgeordneten ausgeführt werden.“
Dies der königlich-preußische Wortlaut. Sehen wir einen Augenblick näher zu.
Denn „zwischen Uns sei Wahrheit!“
Im April vorigen Jahres (vergleiche die Gesetzsammlung) verordnete der König von Preußen, freilich nur durch die Märzereignisse dazu gezwungen, daß eine Volksvertretung erwählt und mit ihr eine
Verfassung („auf breitester Grundlage“) vereinbart werden solle.
Der Nämliche ließ aus den oben angeführten Gründe die Erwählten des Volkes auseinander jagen.
„Ruhe und Ordnung“ wurden nun erst recht gestört, gestört durch Belagerungszustände, durch Soldatengräuel aller Art, durch die täglich wachsende Willkür des Beamtenthums.
Was aber das Gedeihen der Gewerbe und die „Wohlfahrt des Landmannes“ angeht, so wurde für sie durch kostspielige, ununterbrochene Hin- und Hermärsche der Truppen, durch drückende
Einquartierung und endlich dadurch gesorgt, daß man die Landwehr ihren Familien und ihrer Beschäftigung beim Landbaue und in den Gewerben entriß, ihre Familien in Noth stürzte und die Landwehr selbst,
die doch nur im Fall eines Angriffs von Außen zusammentreten soll, wider ihren Willen nöthigte, mitsammt dem stehenden Heere auf Kosten der Steuerzahlenden zu leben.
Und weshalb? Lediglich um die alte saubere Staatswirthschaft herzustellen und stützen zu helfen, lediglich im Interesse des absoluten Königthums und des mit ihm verschwornen Adels-, Offizier- und
Beamtenstandes.
Auf den Staatsstreich gegen die Vereinbarer folgte eine oktroyirte, das heißt, allerhöchst und huldseligst verliehene Verfassung.
„Einem geschenkten Gaul, sieht man nicht ins Maul,“ sagt ein ganz richtiges Sprichwort.
Wir müssen aber „dem geschenkten Gaule“ nothwendig „ins Maul“ sehen, um wenigstens einige Hauptmerkmale kennen zu lernen.
Das Volk hat im März dem Könige die Krone geschenkt. Aus Dankbarkeit schenkt ihm der König eine Verfassung.
Erinnert Euch der Geschichte von dem Bauern, der zum erstenmal in einem englischen Park lustwandelte. Er erblickte ein wunderschönes Häuschen. Wie niedlich! wie elegant! welche Farbenpracht! welch!
anziehende modische Form! Der überraschte Bauer, ging näher und öffnete. Entsetzt fuhr er zurück:
Entsetzlich waren die Düfte, o Gott!
Die sich nachher erhuben;
Es war als fegte man den Mist
Aus sechs und dreißig Gruben.
Eine gleiche Bewandtniß hat es mit unserer ziemlich nett aufgeputzten Verfassung.
In der unter Kanonen und Wrangel'schen Bajonetten bescheerten Verfassung sind zwei Kammern, zwei ganz verschiedene Volksvertretungen, beliebt worden: eine erste Kammer, die ganz in der Hand
des Königs, seiner Minister, des Adels, der Beamten und Geldsäcke ist; sodann eine zweite, zu welcher alle 24 Jahr alten „selbstständigen“ Staatsbürger wählen.
Die Wahl geschieht nicht geradezu, sondern auf Umwegen, durch Wahlmänner.
Zur ersten Kammrr dürfen nur mitwählen, wer 8 Thlr. jährlich Klassensteuer zahlt, oder 500 Thlr. reines Einkommen, oder einen Grundbesitz von mindestens 5000 Thlr. im Werth nachweisen kann.
Was bei diesen Bestimmungen für Wahlen herauskommen können und werden, begreift Jeder, dessen Kopf nicht ganz vernagelt ist.
Begreiflicher wird's noch, nimmt man die Bedingungen der Wählbarkeit hinzu.
Wählbar ist nur, wer das Schwabenalter erreicht, also 40 Jahr zurückgelegt hat, während ein königlicher Prinz, der 18 Jahr alt, für fähig erklärt wird, über ein ganzes Volk zu herrschen. Das ist
die wunderliche Lehre von der menschlichen Früh- und Spätreife im preußischen Klima.
Der mindestens 40jährige Erwählte muß sodann Haus und Hof, Familie und Alles im Stich lassen können, das heißt, ein königl. Beamter oder ein dickwanstiger Banquier, ein reicher Gutsbesitzer u.
dergl. sein, um seinen Platz in der ersten Kammer einzunehmen. Denn er muß in Berlin während der ganzen Sitzung vom eigenen Fett zehren, da er keine Diäten erhält. Dazu gehört Geld, viel Geld.
Das ist ganz schlau eingefädelt. Die erste Kammer ist eben als Hemmschuh bestimmt gegen Alles, was die zweite Kammer im Namen des Volkes fordern könnte.
Ein Artikel in der geschenkten Verfassung sagt, daß irgend ein Gesetz dem Könige nur dann zur Bestätigung vorgelegt werden dürfe, wenn's zuvor die Genehmigung beider Kammern erlangt hat.
Da nun die erste Kammer in ihrer Mehrheit an Volksverachtung und am Festhalten der Vorrechte ihrer eigenen Klicke oder Kaste noch die Herrenkurie vom Vereinigten Landtag übertreffen wird: so könnte
die zweite Kammer sich auf den Kopf stellen und sie wird mit ihren Forderungen jedesmal schon von der ersten ab- und zur Ruhe verwiesen. Aber selbst ein Wunder zugegeben, daß eine so entstandene erste
Kammer je einer Forderung des Volkes nachgeben sollte: so sagt die Verfassung weiter, daß sich der König gar nicht daran zu kehren braucht, falls er nicht will.
Und das eben so große Wunder angenommen, daß ein König irgend einmal ein Gesetz zum Vortheil des Volkes vorlegen sollte: die erste Kammer darf nur dagegen sein: so wird wieder nichts daraus.
Doch vor diesem zweiten Wunder brauchen wir nicht Bange zu haben.
Genug, schon die Wahlart und die Wahl- und Wählbarkeitsbestimmungen für die erste Kammer rufen uns laut in die Ohren,
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daß wir die erbärmlichsten Tölpel wären, ließen wir uns in einer solchen Wolfsgrube fangen.
Aber es kommt noch besser.
Ihr wißt, daß der Geldbeutel der Unterthanen dasjenige Ding ist, aus und von dessen Gnaden der König lebt und seine Kammerherren und Lakaien, seine Minister und Marschälle, seine Beamten und
Soldaten besoldet, seine Geldgeschenke und Gnadenbezeugungen austheilt u. s. w.
Eben weil wir bisher das preußische Königthum mit unsern Geldern so unverantwortlich haben schalten und walten lassen: deßhalb hatten wir keine Kraft, wir hatten uns ihrer entäußert und wurden
verspottet von denen, die unsere Kraft aussaugten und boten das Schauspiel des von der Delila geschwächten Simson.
Ihr könnt Euch wohl denken, daß der preuß. König bei seinem Geschenk sein Bedacht darauf genommen.
Seine Verfassung setzt fest, daß die Steuern so wie bisher fort erhoben werden, so lange die beiden Kammern nicht etwas Anderes bestimmen und — der König es genehmigt hat.
Nun wird schon die erste Kammer sich hüten, für Steuerverminderung zu stimmen. Denn aus den Steuern des Volks ziehen ja gerade die bevorrechteten Stände, die in der ersten Kammer vertreten sind,
den besten Theil. Eine gerechtere Steuervertheilung werden sie eben so wenig zugeben, da alsdann die gnädigen Gutsherren und die Reichen überhaupt mehr blechen müßten, als bisher.
Aber dafür ist in einem eigenen Artikel der sogenannten Verfassung gesorgt, daß der König mit seinen Ministern neue Steuern ausschreiben oder alte erhöhen kann, je nach Belieben.
Indeß nicht nur die ganze Steuerangelegenheit hat der preußische König in seiner Verfassung seinem Belieben und seiner Laune vorbehalten, sondern auch das Recht, jeden Artikel der Verfassung und
die ganze Verfassung insgesammt für die Zeit, wo die Kammern nicht versammelt sind, außer Kraft zu setzen.
Nun, das ist nur ein kleines Pröbchen von den Schlichen, Kniffen und Fallstricken der neuen Musterverfassung.
Die rheinischen Bauern sind indeß keine Nessiner oder pommersche Taglöhner. Vor allen Dingen mögen sie beherzigen, daß wir zum zweiten Mal wählen, wenn gleich jetzt unter tausenderlei von der
Regierung bereiteten Hindernissen.
Das erste Mal — im Mai vorigen Jahres wählten wir Leute, denen wir zutrauten, sie würden unsere Rechte und Forderungen würdig zu vertreten und durchzusetzen wissen.
Wir hatten uns insofern getäuscht, als unsere Vertreter, sei's Feigheit, sei's Dummheit, sei's beides zusammen, die beste Zeit verstreichen ließen, in welcher sie mit Energie
und Einsicht die zeitweilig erschrockenen Volksfeinde für immer unschädlich machen und ihnen die Stützen im Militär und Civil wegziehen konnten, an denen sie sich später wieder aufrichteten und nun
ihrerseits eine Revolution im entgegengesetzten Sinne zu Stande brachten.
Als es zu spät war, da kam unsern Vertretern erst das nöthige Licht. Da war's eben zu spät und so wurde mit ihnen geendigt, wie sie hätte beginnen sollen.
Drum müssen wir dies Mal von vorn herein ganz entschiedene Männer zu Wahlmännern nehmen und diesen auftragen, nur völlig energische und dem Volk ergebene Deputirte nach Berlin zu
senden.
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] Breslau, 16. Jan.
Die Bourgeoisie ist hier in großen Nöthen. Die Cholera rafft täglich neue Opfer und in großer Anzahl dahin. Träfe dies Loos lediglich die Proletarier, so würde sie sich vor Freude nicht kennen.
Würde man doch einiges von diesem verhaßten „Pack“ ohne weitere Kosten los und so ginge man ruhig schlafen. Aber die Cholera! Sie kann schließlich auch die Bourgeoisie bei der Kehle
packen. Das immer mehr an ihr erkrankende und dahin geraffte Proletariat verpestet die Luft und wir können uns am Ende weder durch Kudraß'schen Cholera-Liqueur, noch weniger aber durch seine
abdestillirten Poesien vor dem drohenden Würgengel schützen. Es wird den Bourgeois immer unheimlicher, ängstlicher. Leichenzug über Leichenzug hören und sehen sie an ihren Thüren vorbei passiren und
die Todtengräber reichen kaum hin, um zur Einscharrung der „Nasenquetschen“ (wie hier die Särge der Proletarier heißen) Löcher genug fertig zu bringen. Unter solchen Umständen wird die
Bourgeoisie aus zärtlicher Sorge für sich selbst auf einige Zeit wieder besorgt für die Armen, wird wohlthätig und giebt einige Thaler mehr an Almosen als sonst.
Um die Kasematten, eine Art englischen Arbeitshauses, hatte man sich lange nicht bekümmert. Die Armendirektion hat natürlich andere Geschäfte, als für die Armen zu sorgen.
In jenen „Kasematten“, eine Zufluchtsstätte für zeitweilig Obdachlose, brach die Cholera aus.
Welches Feld sich ihr in diesen Räumen bot, kann eigentlich nur der Augenzeuge begreifen. Ich habe dieses Gebäude besucht und werde den Anblick nie vergessen.
In den langgewölbten Zimmern, von deren Wänden das Wasser herunterläuft, in der Mitte ein nichtheizender Ofen und in jedem dieser Räume 20-25 Personen. Die noch Gesunden (so weit hier diese
Benennung überhaupt zuläßig) mitten unter kranken und todten Kindern in den Winkeln zusammengekauert; Leichen, die nicht begraben wurden, eine Nahrung, die das Vieh verschmähen würde, für die Meisten
gar keine vorhanden.
In den Zimmern, die ich durchwanderte, überall derselbe Anblick: Männer und Frauen, Kinder und Greise nackt oder mit wenigen Lumpen bedeckt, durcheinander vom Frost erstarrt, auf faulem Stroh, eine
Todesatmosphäre durch's ganze Gebäude.
Jetzt erst, nachdem bereits hier in diesem Fokus der scheußlichsten Miasmen, die Cholera ausgebrochen: erinnerte sich unsere Bourgeoisie, daß es hier „Kasematten“ gibt.
Man sonderte endlich die sogenannten Gesunden von den Kranken, schaffte die letzteren in die Hospitäler, die Leichen ins Loch, sammelte Geld und kaufte Decken, Schuhe etc.
Da wir in einem Polizeistaat leben, und die preuß. Regierung sich immer damit brüstet, daß sie für die ungeheuren Summen, mit denen sie aus unsern Taschen jährlich ihre Beamtenmaschinerie
einschmiert, auch ganz prächtig für die „Wohlfahrt“ der geliebten Unterthanen sorge: so frägt sich's, was thut die Behörde?
Am 28. Dezember brach die Cholera in den „Kasematen“ aus, am 4. Jan. fingen einige hiesige Bewohner ihre milden Sammlungen an und am 6. Jan. fuhr der Hr.
Brandenburg-Manteuffel'sche Polizeipräsident bei den „Kasematten“ vor, um zu sehen, ob dort Etwas zu thun sei.
Und die Väter der Stadt? Ei, stört sie doch nicht in Abfassung royalistischer Dankadressen, in ihren Bestrebungen „für Gesetz und Ordnung“, in ihrem Freudentaumel über die
gottbegnadete Verfassung, in ihren Weihnachtsfreuden und ihren sonstigen dringlichen Angelegenheiten!
Wie die Armenpflege hier beschaffen ist, davon findet man ein hübsches Pröbchen im hiesigen eigentlichen „Armenhause“, das unter spezieller Obhut des sehr löblichen Stadtraths
steht.
Bis noch vor wenigen Tagen wurde in dieser stadtväterlichen Anstalt selbst bei der strengsten Kälte nur ein Mal des Tages geheizt. Der beständige Arzt der Anstalt hat zu viel mit Privatpraxis zu
thun, wie sollte er sich um die Insassen des Armenhauses kümmern? Kümmert sich doch auch Niemand um sein Nichtkümmern!
Binnen 2 Tagen erkrankten hier unter 260 Insassen 42 Personen an der Cholera. Der Inspektor und der Buchhalter wurden dahin gerafft; aber man dachte nicht daran, daß die schlechte Kost, die
verpestete Luft, der Lebensüberdruß der hierhin durch Armuth genöthigten Leute die Krankheit bis zu einer so erschrecklichen Höhe ausbilden würden.
Endlich aber wurde der Bourgeoisie natürlich auch hier Angst, und so errichtete man im Armenhause selbst — weil die Spitäler überfüllt seien — 2 Krankensäle, niedrige und doch kaum
erheizbare Zimmer. Dann sollten in der nächsten Sitzung der Stadtverordneten die weitern Einrichtungen beschlossen werden. Der Tag der Sitzung kam, aber nicht — die Stadtverordneten; sie waren
nicht beschlußfähig und gingen wieder zu einem Glase „Bairisch“ etc.
Man sieht aus diesem Wenigen, daß sich die hiesige Bourgeoisie in Betreff der Armenanstalten ganz getrost der englischen an die Seite stellen kann. In ihren „Kasematten“ und in ihrem
„Armenhause“ hat sie ihr Muster von einem „Breslauer Workhause“ und einer Anstalt für Armenkinder, wie die neulich erwähnte von Tooting (bei London) den Andern zur
Nachahmung aufzustellen gewußt!