Deutschland.
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105
] Münster, 12. Jan.
In der reformirten Kirchengesellschaft zu Frankfurt a. M. hat in der Sitzung vom 9. der „duellfeste“ westphälische Ritter Vinke gewagt zu behaupten, die Details über die Verhaftung
des Hrn. Temme seien durch die Zeitung sehr verfälscht worden; Herr Temme befände sich nicht im Zuchthause, wie allgemein verbreitet worden, sondern das Untersuchungsgericht von Münster halte
seine Sitzungen im Zuchthause, weil kein anderes Lokal vorhanden sei. Der 13ahnige Freiherr von Ickern (Ritter p. p. Vinke) ist in Münster geboren, wenigstens groß geworden, er muß also die
hiesigen Verhältnisse wohl kennen; gleichwohl wollen wir nicht, wie dieser Don Ranudo da Colibrados des Rechtsbodens sofort von Verfälschungen sprechen, sondern es nur einem vielleicht
augenblicklichen Irrthume des Herrn v. Vinke zuschreiben, daß er in jedem seiner Worte eine Unwahrheit gesprochen. Herr Temme und die übrigen hiesigen politischen Gefangenen werden allerdings in dem
hiesigen Zuchthause detinirt, mitten zwischen den eigentlichen Züchtlingen; selbst die Corridors, an denen ihre Gefängnißzellen liegen, führen zugleich zu andern Stuben, welche Züchtlingen zum
Aufenthalt dienen. Das Untersuchungsgericht zu Münster hält seine Sitzungen nicht im Zuchthause, wie der ehemals als Referendarius hier beschäftigte Vinke so dreist erzählt, sondern in dem eine
ganze Straße lang davon entfernt gelegenen Inquisitoriatsgebäude. In diesem werden auch die Verhöre abgehalten, zu denen Hr. Temme und die übrigen Gefangenen durch Schildwachen oder Aufseher hin und
zurück transportirt werden. Ja es geschieht dies sogar in gewöhnlicher Zuchthauskleidung bei allen, die nicht im Stande sind, mindestens 10 Thlr. praenumerando zu zahlen. „Vielleicht ist die
Zeit nicht fern, wo Hr. v. Vinke dies alles aus Erfahrung kennen lernt.“ Temme ist, nach so eben hier eingetroffenen Nachrichten im Kreise Chemnitz ebenfalls und zwar einstimmig zum
Abgeordneten nach Frankfurt gewählt. Wir freuen uns, daß Temme, auf diese Weise bald aus dem Zuchthause kommt, hoffen aber trotz alledem, daß Hr. v. Vinke recht bald zu seinen ursprünglichen
Beschäftigungen „Grütze machen und Schweine mästen“ nach Ickern zurückkehren wird.
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68
] Münster, 12. Januar.
Hohes Justizministerium.
Bereits vor mehr als 14 Tagen haben wir ein Perhorrescenz-Gesuch gegen das hiesige Oberlandesgericht eingereicht, ohne bis jetzt einen Bescheid darauf zu erhalten. Zwar hegen wir nicht den
geringsten Zweifel, daß unser Gesuch für begründet erachtet wird, aber selbst um die Möglichkeit eines abschläglichen Bescheides zu beseitigen, halten wir uns verpflichtet, nochmals auf diesen
Gegenstand zurückzukommen. Möge Ein hohes Ministerium sich überzeugen, daß wir nicht allein unsertwegen, sondern auch und hauptsächlich zur Rettung des in neuster Zeit ohnehin tief erschütterten Rufs
der Ehrenhaftigkeit des preußischen Richterstandes nochmals das Wort nehmen.
I. Der Criminalsenat des Oberlandesgerichts zu Münster ist bekanntlich der Einzige im Staate, welcher und zwar ohne alle Befugniß, durch besonderen Erlaß die Untergerichte des Departements geradezu
auffordert, gegen alle diejenigen die Untersuchung einzuleiten und Verhaftungen vorzunehmen, welche in dem Streite über das Recht der Krone zur Verlegung und Vertagung der Nationalversammlung mit Wort
oder That auf Seiten der Letzteren getreten. Ja der Criminalsenat des Oberlandesgerichts fordert in seinem desfalsigen Erlasse die Gerichte sogar auf von 4 zu 4 Wochen Bericht über die eingeleiteten
Untersuchungen zu erstatten; — das Oberlandesgericht verläßt hierdurch offenbar seinen Standpunkt als Richtercollegium und nimmt den eines Provocations-Agenten an. Es fordert mit andern Worten
die Gerichte auf, Untersuchungen zu finden und den Denuncianten zu machen! Ist das ein parteiloses Richtercollegium? Können wir wegen politischer Meinungen oder wenn man will, wegen sogenannter
politischer Verbrechen von einem solchen Gerichtshofe einem unparteiischem Urtheile entgegensehen?
II. Das Oberlandesgericht zu Münster fordert bekanntlich in seiner Immediat-Eingabe an den König die Entfernung seines Directors, Temme, vom Amte. Der Schritt ist längst von der öffentlichen
Meinung gerichtet und wir wollen das Ungesetzliche desselben, indem ein Richter ohne richterliches Urtheil nicht absetzbar ist, nicht weiter berühren. Der Schritt ist offenbar eine verblümte
Majestätsbeleidigung. Aber das müssen wir hervorheben, daß die Renitenz wegen der Verlegung und Vertagung der Nationalversammlung, so wie der Steuerbeschluß von diesem Gerichtshofe als Rebellion
bezeichnet wird.
Ueber das Recht der Krone in dieser Streitfrage, das ist doch Thatsache, waren die Meinungen der Juristen und Bevölkerung getheilt, ja ohne Uebertreibung können wir behaupten, daß 2/[3] der Nation
der Nationalversammlung das Recht geben. — Wenn nun fast allein im Staate das Oberlandesgericht Münster die Entscheidung der streitigen Frage von vorn herein ohne Acten, ohne Untersuchung, in
ungebührlicher Form und Weise Rebellion nennt, wie kann dann dieser Gerichtshof ein unpartheiisches Urtheil in der gegen uns anhängigen Untersuchung abgeben, da gerade diese staatsrechtliche Frage die
Basis der Entscheidung bildet.
III. Der Criminalsenat des Oberlandesgerichts zu Münster hat sich durch die ferneren Schritte gegen den Oberlandesgerichts-Director Temme, worin es auch wieder einzig in seiner Art dasteht, in der
That als parteiisch oder unfähig gezeigt, indem es durch die Verhaftung und Einleitung der Untersuchung, so wie durch die Suspension in jeder Beziehung seine Competenz überschritten, und ein Màaß
von juristischem Unverstande entwickelt hat, der billig jeden denkenden Menschen mit Grausen erfüllen muß.
Wenn nun Ein hohes Ministerium bezüglich des Temme die Perhorrescenz als begründet angenommen, so können wir nur mit Zuversicht hoffen, daß solches auch rücksichtlich unseres Antrages der Fall.
Denn das uns zur Last gelegte angebliche Verbrechen steht mit der inculpirten Thätigkeit des Temme als Deputirten in unauflöslicher Beziehung.
IV. Endlich machen wir auf die sonstigen Verhältnisse des Münsterschen Gerichtshofes nochmals aufmerksam, die so scharfsinnigen Männern, wie Kisker nicht entgangen sind, wie der Fall mit dem
Assessor von Stockhausen beweist.
1. Der O.-L.-G.-Rath Tüshaus ist verschwägert mit dem Inkulpaten A. Keller.
2. Der O.-L.-G.-R. von Viebahn ist mit dem Kanonikus von Schmitz, ebenfalls Mitglied des Congresses verwandt, derselbe ist mit der leiblichen Schwester des von Schmitz verheirathet.
3. Der Präsident von Olfers ist an die Ehefrau des Coinculpaten Assessor Gruwe verwandt.
4. Der Assessor von Druffel hat eine fiskalische Untersuchung wegen Beleidigung gegen den Justizkommissär Gierse eingeleitet und dieser hat hinwieder auf Rüge gegen Druffel angetragen.
5. Der O.-L.-G.-R. Moellendorf ist als Richter ausgeschlossen, weil sein Sohn der O.-L.-G.-Assessor Moellendorf Mitglied des Congresses war, worin lediglich unser „Verbrechen“
besteht.
6. Der O.-L.-G.-R. von Unzer ist der Schwager des Congreß-Mitgliedes Boelling.
7. Das Oberlandesgericht sowohl als das Stadtgericht haben sich durch die unerklärliche und beleidigende Auswahl der Angeklagten und Verhafteten alles und jeden Vertrauens unwürdig gemacht. Es
giebt keinen denkbaren Grund — wenigstens für keinen vernünftigen Menschen — warum nicht die übrigen Mitglieder des Congresses mindestens ebenso schuldig sind, als wir und doch sind sie
nicht einm[a]l zur Untersuchung gezogen.
8. Das Stadtgericht in Münster führt die Untersuchung Werden wir freigesprochen, so erscheint unsere Verhaftung ungerecht. Diese zu rechtfertigen, muß sehnlicher Wunsch des Stadtgerichts sein. Es
steht also zu furchten, daß namentlich der Assessor von Stockhausen, Mitglied dieses Gerichts, seinen schon früher durch unfreiwillige Versetzung an das Stadtgericht gerü[unleserlicher Text]ten aber in demselben
Verhältnisse gebliebenen verwandtschaftlichen Einfluß auf seinen Schwiegervater Präsident von Olfers aufbieten wird, durch ein Urtheil das Gerichts und resp. ihn persönlich vor dem Richterspruche der
öffentlichen Meinung zu retten.
Wir wollen zur Zeit nicht auf das, was öffentliche Blätter sonst über hiesige Verhältnisse enthalten sollen, eingehen; glauben aber darauf aufmerksam machen zu müssen, daß gesetzlich ein ganzer
Gerichtshof perhorrescirt werden kann, wenn der Präsident desselben (von Olfers, Temme, Tüshaus) mit Grund recusirt werden kann.
Aus allen diesen Gründen müssen wir unserem früheren Perhorrescenz-Gesuch inhaeriren und um schleunigste Bescheidung bitten.
Münster, den 5. Januar 1849.
Hamacher. Gruwe. Blumenfeld. Loeher. Jacobi. Gierse. Graumann. Reinhardt. Groneweg. Mirbach. Schmitz. A. Keller. F. A. Hartmann.
Am 18. Dezember reichen die Verhafteten das erste Perhorrescenzgesuch ein, da sie 14 Tage vergeblich auf Antwort gewartet, wird am 5. Januar obiges zweites Gesuch abgeschickt, da kommt endlich
unterm 11. Januar nachfolgendes, vom 3. Januar datirtes Schreiben (Poststempel Berlin 9/1 4-5.):
Auf die von Ihnen und mehreren Anderen unterzeichnete Vorstellung vom 18. Dezember v. J. die Untersuchungssache wider Hamacher und Genossen betreffend, eröffnet Ihnen der Justiz-Minister, daß nach
§ 47 cf. der Criminal-Ordnung die generelle Recusation des dortigen Oberlandesgerichts nicht für begründet erachtet werden kann.
Glauben Sie Veranlassung zu haben, einzelne Mitglieder des Oberlandesgerichts zu rekusiren, so haben Sie sich zunächst an das Oberlandesgericht zu wenden und dessen Bescheidung zu gewärtigen.
Berlin, den 3 Januar 1849.
Der Justiz-Minister Rintelen.
Will Herr Rintelen nicht auch gefälligst den §. angeben, nach welchem die „Dezember-Verhafteten“ 3 Wochen auf dieselbe Antwort warten müssen, die Herr Temme innerhalb weniger Tage
erhielt. Gleichheit vor dem Gesetze!
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103
] Berlin, 12. Jan.
Es beruht meinerseits auf einem Mißverständniß, wenn ich in meiner Korrespondenz vom 6. Januar angeführt habe, daß die Antwort Rintelens „morgen“ erfolgen solle. Die Antwort Rintelens
auf dieses Schreiben Temmes existirt noch gar nicht. Wozu auch eilen? Temme ist ja gut aufgehoben. Richtig angegeben ist in der Münster'schen *Korrespondenz derselben Nummer Ihres Blattes die
hier bereits bekannt gewordene Antwort Rintelens, die sich jedoch auf Temme's erstes Schreiben bezieht, während Rintelens früherer Brief eine Antwort Temme's Protokollerklärung bei
seiner Verhaftung abgiebt.
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*
] Berlin, 12. Januar.
Welch' schreckliches Ungeheuer die „Habeas-Corpus-Akte“ ist, kann man am besten aus der „Galgenzeitung“ ersehen. Sie theilt aus Lippehne ein Schreiben des
dortigen „Vereins zum Schutze des Eigenthums etc.“ (eine christlich-germanische Erfindung des Jahres 1848) an ein „Hohes Staatsministerium“ mit worin gesagt
wird:
Die gemeinen Diebstähle hätten wegen jenes Gesetzes über persönliche Freiheit auf eine so furchterregende Weise zugenommen, daß der ehrenwerthe Verein unmöglich länger ruhig zusehen
könne. Das Staatsministerium möge daher nur bald jenes Gesetz zurücknehmen und der Polizei wieder die alte Gewalt zurückgeben.
Man sieht, es geht nichts über Vereine „zum Schutz des Eigenthums,“ besonders wenn er in Lippehne seinen Sitz hat.
Wirkt jenes Gesetz schon so schaudererregend, da es doch nur auf dem Papiere steht: was müßte aus uns Menschenkindern erst werden, wenn's in die Wirklichkeit träte und praktische Geltung
erlangte? Wir würden jedenfalls einander auffressen und das Hauptübel für die Weltgeschichte bestände eben darin, daß die „Galgenzeitung“ mit ihrem Lippehner Verein ebenfalls zu Grunde
gehen könnte. Schreckliche Aussicht!
Die Knaben Metterling und Henneberg, welche, wie früher berichtet worden, wegen des Tragens einer rothen Fahne am Tage nach dem Arbeiteraufstande auf dem Köpnicker Felde vom Polizeigericht früher
zu einer 8tägigen Gefängnißstrafe bei Wasser und Brod bestraft worden sind, sind, nachdem sie diese Strafe bereits verbüßt hatten, jetzt vom Kammergericht in zweiter Instanz freigesprochen worden,
weil sie die Fahne nicht entfaltet, sondern zusammengewickelt getragen hatten.
Das Sinken des Real-Credits von Berlin wird durch wahrhaft Schrecken erregende Thatsachen täglich mehr bestätigt. Bedenkt man, wie mit dem Ruin des Grundbesitzes die Wohlfahrt der
Gesammtheit unmöglich sei, so muß dies bei allen Bürgern dieser Stadt die gerechtesten Besorgnisse erregen. Hypotheken sind unverkäuflich geworden. Auch für die sichersten an erster Stelle wird 20
pCt. Verlust gefordert, und auf palastartige Häuser in den besten Gegenden der Stadt ist innerhalb des ersten Fünftheils der Feuertaxe kein Geld zu erhalten. In den Subhastationen gehen, falls nicht
Hypothekarien mitbieten, die Häuser zu Spottpreisen weg. So ist kürzlich auf dem Schiffbauerdamm ein Haus, worauf im vorigen Jahre 27,000 Thlr. vergebens geboten waren, für 5000 Thlr. zugeschlagen
worden. — „Wie gefällt Euch das, Berliner!“ sagt Exc. Wrangel.
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*
] Berlin, 11. Januar.
Wir beeilen uns, unsern Lesern folgendes interessante Aktenstück mitzutheilen:
„Am 19. Januar 1847 machte Hr. Harkort bei einem Münchener Lithographen, der auf den Betrieb eigener und fremder Bilder reifte, in Paris eine Bestellung im Betrag von 327 Fl. Die Bilder
sollten von München nach Berlin an den Schwiegersohn Herrn H.'s geschickt und das Geld bei diesem nachgenommen werden. Im Sommer 1847 schickte der Verkäufer die bestellten Bilder mit
unterschriebener Rechnung nach Berlin. Aber dem wiederholten Bemühen zweier Freunde desselben, achtbarer Männer, Künstler und Gelehrten, gelang es nicht, den Schwiegersohn Hrn. H.'s zur Annahme
der Bilder zu bewegen. Der Verkäufer mahnte öfter. Endlich im Junius 1848 gab der Schwiegersohn die Aeußerung von sich, in 4-6 Wochen, hoffe er dem Verkäufer zu seinem Gelde helfen zu können. Am 22.
Mai war die Nationalversammlung in Berlin zusammengetreten, Hr. H. ihr Mitglied. Es ist undenkbar, daß er von dieser Erklärung seines Schwiegersohns nichts gewußt habe. Vier Monate verstrichen und es
geschah nichts. Da wandte sich der Verkäufer an einen dritten Freund in Berlin und bevollmächtigte diesen, seine Forderung alles Ernstes zu betreiben. Er legte das Original des Bestellscheins in die
Hände dieses Freundes. Dieser begab sich am 21. Dez. 1848 in des Schwiegersohnes Haus und traf dort den Hrn. H. in seiner eigenen Wohnung. Er glaubte, es bedürfe nur, den Verkäufer, die Bestellung und
ihr Datum und was in der Sache bisher geschehen und nicht geschehen, zu nennen, um Alles sogleich geordnet zu sehen. Er irrte sich. Hr. H. gab gar keine mündliche Erklärung, sondern bemerkte, er werde
dem Bevollmächtigten schreiben. Er schrieb einen längeren Brief, worin er viel davon sprach, was er, ohne Provision zu nehmen, bei Dritten für den Lithographen seinen Freund gethan, um ihm zum
Verschluß seiner Bilder zu helfen; — von der gemachten Besteilung — keine Silbe! Hierüber drückte der Bevollmächtigte, rückschreibend, sein höchstes Erstaunen aus und setzte Hrn.
H. mit kurzen Worten einen Termin bis zum 26. Dez. mit der Anzeige, wenn dieser verstreiche ohne eine genügende Erklärung Seitens Hrn. H's., so sehe man sich genöthigt, die Oeffentlichkeit und
die Gerichte zu Hülfe zu nehmen. Hr. H. erwiderte brieflich am 27. Dez., auf solche Weise diene der Bevollmächtigte seinem Freunde nicht, es sei seine Pflicht, erst eine getreue Abschrift der Rechnung
einzusenden, finde er es umgekehrt besser, gerichtliche Schritte zu thun, d. h. ihn (H.) zwingen zu wollen, eine Katze im Sacke zu kaufen, so bleibe ihm dies überlassen. Der Bevollmächtigte antwortete
am 28. Dez., zeigte Hrn. H., „daß er auch diesmal um die Sache herum gehe, daß vom Kaufen einer Katze im Sack nirgends die Rede sei, zählte ihm aus dem Bestellschein speziell die einzelnen
Bilder und ihren Preis auf und schloß mit einer energischen Ansprache an Hrn. H's. Gewissen, obigen Termin bis zum 4. Jan. prolongirend. Keine Antwort kam bis zum 5. Januartag, und demnach wird
Hr. Harkort als Mensch zuvörderst der Oeffentlichkeit übergeben, mit um so mehr Gerechtigkeit, als Hr. H. qua Schriftsteller den Charakter einer öffentlichen Person in Anspruch nimmt, und diesen in
erbaulichen Ermahnungen an das Volk, Mein und Dein wohl zu unterscheiden, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers etc. exerzirt. — So die Worte — so die Thaten des Hrn. Friedrich Harkort
von Wetter.“
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X
] Breslau, 12. Januar.
Der Handelsminister von der Heydt lud bekanntlich die Provinzen ein, je zwei Meister und einen Gesellen nach Berlin zu deputiren, um über Handwerkerangelegenheiten zu berathen. Das hiesige
Gesellen-Comite hat gegen diesen Schritt protestirt und schickt keinen Deputirten. Dieser Protest ist dem Ministerium motivirt eingereicht worden und endet ungefähr mit folgenden Worten: „Wir
erblicken einzig und allein das Heil des Handwerkerstandes in einer freien Association der Gesellen — wie in Paris —, gehen in allen unsern Ansichten von dem Prin
[1064]
zip der Gleichberechtigkeit aus, protestiren also gegen eine Bevorziehung der Meister vor den Gesellen und wählen deßhalb keinen Vertreter.“
Die Beamtenwelt wird mit jedem Tage unverschämter Der Landrath des Breslauer Kreises Graf Koenigsdorf redet Schulzen, die für die Linke Unterschriften sammelten, immer nur mit den Worten:
Schweinhund, Schuft etc. an und begleitet gewöhnlich jedes dieser Worte mit einem Faustschlage in's Gesicht.
Trotz der großen Kälte 14-17[unleserlicher Text] R. wird im hiesigen Armenhause nur zweimal eingeheizt. In Folge dessen sind sehr viele Cholerakrankheitsfälle vorgefallen.
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X
] Liegnitz, 11. Januar.
Ganz erschöpft von den hiesigen Vorfällen schreibe ich Ihnen doch noch diese Nacht. Ich bemerke, daß mein Schreiben zwar dem Inhalte, aber nicht der Form nach Anspruch auf Geltung macht und hoffe,
daß Sie die nöthigen Reflexionen dazu machen werden. Insbesondere mache ich Sie darauf aufmerksam, daß die Schlesier, wenn diese Mißhandlungen durch die Prätorianer des Preußenkönigs weiter
fortdauern, wieder auf den Gedanken zurückkommen könnten, einst wieder unter östreichischen Schutz zurückzukehren. Wir werden jetzt in der That wie eine eroberte Provinz behandelt, aber viel schlimmer
wie im Zahre 1742.
Die reaktionäre Partei, nachdem sie bemerkt hat, daß trotz aller erdenklichen Anstrengungen (Plakate, [Harkort] Bestechungen, Lügen) die bevorstehenden Wahlen dennoch mit einer Niederlage für sie
enden dürften, greift jetzt in Niederschlesien zur offenen Gewalt, um die Volkspartei wo möglich zu vernichten. Da aber das Volk, und insbesondere die Proletarier bei uns aufgeklärt genug sind, um
nicht in ihre Fallen zu gehen, so bleiben ihnen von Proletariern nur die Soldaten übrig, um als blinde Werkzeuge ihrer abscheulichen Pläne gemißbraucht zu werden. Sprengung der Vereine, damit
Vereitlung volksthümlicher Wahlen, Herbeiführung des offenen Belagerungszustandes (es liegen fast in jedem Städtchen und in vielen Dörfern Soldaten), Ermordung der demokratischen Führer, so lautet der
Wahlspruch einer Partei, die kein Mittel mehr verschmäht, um zum Ziele zu gelangen. In Löwenberg, Bunzlau, Hirschberg, hat man bereits den Anfang gemacht, namentlich an ersterem Orte. Der gestrige Tag
war dazu bestimmt, unsere Stadt zum Schauplatze von Scheußlichkeiten zu machen, die sich den bereits vorgefallenen würdig anreihen und deren Krone bilden.
Bereits seit mehreren Tagen trug man sich mit Gerüchten von einem beabsichtigten Attentat auf die Person des Redakteurs der hiesigen Zeitschrift Silesia und derzeitigen Präsidenten des
demokratischen Vereins, Otto Cunerth. Derselbe hatte selbst schon bemerkt, daß er im Vorbeigehen auf der Straße von einem Unteroffiziere mehreren seiner Soldaten unter Drohung bezeichnet worden war,
ebenso waren mehrfache Warnungen an ihn ergangen, sich in Acht zu nehmen.
Der Dienstag, als der Tag, an welchem der demokratische Verein gewöhnlich Sitzung hält, scheint endlich dazu gewählt worden zu sein, das beabsichtigte Attentat zur Ausführung zu bringen. Vielfache
Aussagen beweisen bereits fast zur Evidenz, daß die Preußen von einer gewissen Partei dazu systematisch aufgereizt worden sind und daß selbst manche ihrer Vorgesetzten an diesen Hetzereien Antheil
genommen haben. Schon gegen 6 Uhr dieses Tages versammelten sich deßhalb im Gasthofe „zum deutschen Kaiser“ dem Sitzungslokale dieses Vereins, eine ungeheure Menge von Preußen.
Unteroffiziere sind unter ihnen und lassen den Gemeinen wacker einschenken. Das Vereinskomite hatte indessen schon mehrere Tage vorher wegen der beginnenden großen Wahlversammlungen beschlossen, die
Sitzung ausfallen zu lassen. Als die Soldaten dies erfuhren, stießen sie so wüthende Drohungen gegen Cunerth aus, daß der Gastwirth sich bewogen fand, zum Major von Gansauge, dem Kommandanten der
Stadt zu gehen und ihm mitzutheilen, daß die bei ihm befindlichen Soldaten die wildesten Mordanschläge gegen Cunerth besprächen. Der Major hört ihn zwar an, versichert aber unter Achselzucken: es sei
schlimm, der Cunerth habe das Militär durch einen Artikel in der Silesia sehr gereizt, seine Ehre verletzt u. s. w. Als der Gastwirth ihm bemerklich macht, daß er auch Soldat gewesen, daß es aber zu
seiner Zeit den Soldaten nicht erlaubt gewesen sei, denjenigen zu ermorden, der etwas geschrieben, was ihnen nicht gefallen habe, so entläßt er ihn mit dem Bemerken, er werde thun, was möglich sei;
indeß geschieht nicht das Geringste zur Verhütung des beabsichtigten Mordversuches. Dies geschah um 6 Uhr. Der Gastwirth begibt sich noch hierauf mit mehreren Bekannten zu Cunerth und warnt denselben,
aus den bezeichneten Gründen heute nicht auszugehen, was dieser auch zu thun verspricht. Nach 8 Uhr indessen dringt ein wüthender Haufen mit Seitengewehren circa 1-200 Mann Preußen v. 5. u. 20. Okt.
seit hier garnisonirenden Regiment (ihre Thaten siehe im letzten Art. datirt Liegnitz) mit furchtbarem Gebrüll in die Buchdruckerei des Hrn. H. Dönch und verlangen Cunerth zu sprechen. Die Drucker
verweigern die Anzeige seines Aufenthalts und flüchten, indessen erfüllen die Horden tobend und brüllend alle Räume des Hauses und dringen endlich in das Wohnzimmer Cunerths im 2. Stock. Hier
ergreifen sie denselben nach kurzem Wortwechsel und schleppen ihn auf die Straße hinab, wo ihn zwei heldenmüthige Krieger an den Armen packen und fortschleifen, während die übrigen die Eskorte bilden
und ihn fortwährend durch Stöße und Schläge auf alle erdenkliche Weise mißhandeln, über den Markt zum Schlosse. Bei der starken Kälte befanden sich nur wenige Leute auf den Strayen und diesen war es
unmöglich, etwas zur Befreiung des Gefangenen gegen den rasenden Haufen zu versuchen. Einige wenige, die dies bereits in und vor dem Hause Dönchs versucht hatten, waren gemißhandelt oder verjagt
worden. Mehrere von diesen haben die Bedienten und Kutscher einiger gnädigen hier wohnenden Herren dabei bemerkt, welche die Preußen durch lauten Zuruf zum Morde aufstachelten: Bravo, schlagt doch den
Hund gleich todt! Mittlerweile eilt einer der Drucker, der sich über den Gartenzaun hinten aus der Werkstatt geflüchtet, auf die Hauptwache und verlangt eine Patrouille zur Rettung Cunerths. Als der
dort befindliche Unteroffizier diesen Namen hört, sagt er, daß es diesem nichts schaden könne, gibt indeß schließlich eine Patrouille von 4 Mann mit. Dieselbe wird von der Horde mit dem Rufe:
„Brüder, Kameraden, laßt uns, wir haben einen von den Bürgerhunden u. dgl. empfangen,“ macht Front vor dem Zuge, und versucht nicht das Geringste zur Befreiung.
Unterdessen eilt der Bürgerwehroberst, kürzlich suspendirter (Steuerverw.), Regierungsrath v. Merckel, von dem Vorfalle benachrichtigt, auf die Straße und bei dem Haufen angelangt, hört er den Ruf
Cunerths: Retten Sie mich, Hr. Merckel, man tödtet mich! Merckel fordert von den Soldaten die sofortige Freilassung ihres Opfers und auf die Weigerung, das Gebrüll und Hohngelächter der Rotte, macht
er dieser bemerklich, daß er der Bürgerwehroberst sei, für die Ruhe und Ordnung in der Stadt zu sorgen habe und nöthigenfalls dem kommandirenden General v. Stößer Anzeige machen werde. Hierauf stürzen
10-15 Soldaten mit dem Gebrüll: das ist der Merckel, der Bürgerwehrhund, schlagt den Hund todt! auch auf diesen, einer spaltet ihm mit dem Säbel den Hut von oben bis unten und beschädigt ihn am Kopfe,
während die andern ebenfalls auf ihn losschlagen, ihn zu Boden werfen und ihm seinen Stock entreißen. Indessen entringt er sich, obgleich schwer am Kopfe verletzt, der wüthenden Rotte und entkommt,
von ihr verfolgt, ins Regierungsgebäude (Schloß) unter den Schutze der dortigen Wache. Die Soldaten fahren indessen fort, Cunerth zu mißhandeln und schleppen ihn bis zum glogauer Thor, wahrscheinlich,
um ihn in den benachbarten Baumanlagen vollends zu ermorden. Auch empfängt er beim Thore eine tiefe Wunde in den Hinterkopf und sinkt endlich bewußtlos zusammen, worauf sich die Mörderbande in der
Meinung, er sei todt, eiligst zerstreut. Unterdessen füllen sich bei dem Tumult allmälich die Straßen mit Menschen; einige heben den Bewußtlosen auf und tragen ihn auf die Schloßwache, von wo er von
Bürgern auf einem Wagen, den sie selbst ziehen, in seine Wohnung zurückgebracht wird. Obgleich mit Contusionen und Wunden bedeckt und sehr krank, befindet er sich doch bereits ziemlich außer Gefahr,
ebenso Hr. v. Merckel.
Während diese Gräuelscene in der Stadt spielt, dringt eine andere Rotte Soldaten unter Leitung eines Unteroffiziers in den in der Vorstadt gelegenen Saal des Badehauses, wo eine Bürgerversammlung
gemischter politischer Farbe über Reklamationen für die Wählerregister beräth. Die Preußen, ebenfalls zum Theil mit Seitengewehren bewaffnet, dringen damit und mit Knütteln, die sie sich durch
Demolirung eines Geländers und Abhauen junger Bäume verschafften, auf die Bürger ein, die sich unbewaffnet unvorbereitet so gut als möglich zur Wehre setzen. Es fallen viele, jedoch nicht erhebliche
Verletzungen vor; mehreren Soldaten werden die Achselklappen abgerissen, die Mützen genommen und die Kleider zerrissen. Einer wird gefangen und ihm der Säbel abgenommen. Auf die Hauptwache von den
Bürgern gebracht, schillt ihn der dortige Unteroffizier, wie er so dumm habe sein können, sich fangen zu lassen, zumal er ein Seitengewehr habe, mit dem er doch um sich habe stechen können und läßt
ihn laufen.
Unterdessen hatte sich der Markt und die Hauptstraßen der Stadt theilweise mit Menschen gefüllt. Die Erbitterung war furchtbar. Die Soldaten der Hauptwache, die unterdeß verstärkt worden, so wie
die der zahlreich ausgesandten Patrouillen und ausgestellten Trupps wurden mit den lautesten Vorwürfen und dem Geschrei: „Räuber, Mörder,“ die Offiziere mit
„Räuberhauptmann“ u. s. w. begleitet und angerufen. Hier und da kleine Handgemenge und Prügeleien, doch die grimmige Kälte der Januarnacht zerstreute allmählig das aufgebrachte Volk.
Eine Sommernacht und es entstand eine furchtbare Metzelei! Der Magistrat hat in seiner heutigen Sitzung beschlossen: 1) Sofortiger Antrag auf strengste Untersuchung und Bestrafung der Schuldigen beim
Oberpräsidenten. Einsetzung einer gemischten Kommission dafür. Bereits heute sind eine große Anzahl Zeugen vernommen und die Anzeichen, welche auf einen tief angelegten Plan, in welchen Leute von
einer gewissen bürgerlichen und militärischen Stellung verwickelt scheinen, häufen sich. Darnach sollten sich die Mordscenen heute erneuern und eine ganze Liste volksthümlicher Männer treffen. 2)
Verlegung der Garnison. Die hiesige Regierung und der General v. Stößer sind mit diesen Anträgen offiziell bekannt gemacht worden. Das Bürgerwehrkommando hat noch besondere Beschwerde eingelegt.
Mordanfälle in der eigenen Wohnung werden laut Landrecht mit 20 Jahren Zuchthaus bestraft.
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Schweidnitz, im Jan.
Die Reaktion in und um Schweidnitz wühlt auf eine tolle Weise, um den Herrn Minister-Präsidenten Grafen Brandenburg als Deputirten für die erste Kammer bei den Wahlen durchzubringen. Sie legt durch
dieses Treiben ihre ganze Bornirtheit auf ergötzliche Weise an den Tag, und fügt dabei zugleich eine solche Beleidigung den Urwählern und Wahlmännern zu, daß diese sich auf eine glänzende Art werden
rächen müssen. Die Agitation geschieht durch den Gorkauer-, den hiesigen Veteranen- und den Denunzianten-Verein, alles Sippschaften, die von unserem gesunden Volk mit der höchsten Verachtung gestraft
werden.
Der bekannte, jetzt sehr berühmt gewordene Exbürgermeister soll Regierungsrath in Bromberg werden. Möglich wäre es, denn der Herr Major v. Gersdorf, der das Niederschießen Schweidnitzer Bürgerwehr
für Blitze eines Gewitters oder für einen Nordschein u. s. w. angesehen, ist zum Oberstlieutenant avancirt, und der Hauptmann v. Skribenski, der diejenige Kompagnie kommandirte, welche die Bürger
erschoß, ist unter Versetzung in das Kriegsministerium zum Major befördert worden; ergo!
[(Freischütz.)]
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Posen, 4. Jan.
In unserer, im Allgemeinen sehr konservativ gesinnten Stadt herrscht heute eine ungemeine Aufregung unter der deutschen Bevölkerung, über eine Rede, welche unser Deputirter bei der
Nationalversammlung in Berlin, Landgerichtsrath Neumann, vorgestern Abend in der Versammlung des hiesigen demokratisch-konstitutionellen Vereins gehalten hat, und in welcher er die dem preußischen
Staate von dem Könige verliehene Verfassung, nach einer heute bereits erfolgten Mittheilung, ein „perfides Machwerk“ genannt hat.
[(D. A. Z.)]
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121
] Wien, 10. Januar.
Die uns von Windischgrätz versprochenen Details über die Einnahme Budapesth's sind noch nicht eingetroffen, wenigstens habe ich weder etwas davon vernommen, noch gesehen. Statt ihrer haben
wir gestern Abend ein 13. Armeebulletin erhalten, welches Sie in der heutigen Wiener Zeitung finden werden, und dessen radikale Bedeutungslosigkeit in die Augen springt. Sonderbares Schweigen! Auf der
andern Seite versichern die Standrechtsblätter, obwohl sie über Ungarn heute gänzlich schweigen, die Postverbindung zwischen hier und Pesth sei wieder hergestellt. Dies ist insofern eine offenbare
Lüge, als bisher nur Briefe aus dem Rücken der Armee, die freilich „Pesth“ datirt sind, hier anlangten. Im Dunkeln ist gut munkeln. Windischgrätz belügt Europa, indessen er mit Russen,
Türken und einem halben hundert auffanatisirter Natiönchen Ungarn zu Boden schlägt.
Die Blätter besprechen heute vorzugsweise das Ereigniß in Kremsier. Die „Presse“ sagt unter andern: „Das Kabinet ist sich selbst untreu geworden. Das jetzige Ministerium
übernahm die Geschäfte zu einer Zeit, wo sie sehr zerrüttet waren, sie versprachen zu regieren und die Ordnung im höhern Sinne zu gründen. Es war unserer Meinung nach ihnen ganz Ernst damit. Aber der
Eifer der Subalternen ging weiter. Man trieb das Ministerium in eine Theorie; sie war keine glückliche; ein einzigesmal verließen sie die praktische Ansicht und wurden Dogmatiker, aber sie verletzten
dadurch die reizbarste Seite berathender Versammlungen; sie verletzten das Gefühl der Unabhängigkeit, das in ihnen wohnen muß.“ Der „Lloyd“ aber bemerkt im Abendblatt: „Wir
müssen uns dahin aussprechen, daß der Vorwurf, der jetzt dem Ministerium gemacht worden, einer ist, welcher in den parlamentarischen Geschäften der Welt bisher unerhört gewesen. Das Benehmen der
Majorität der Kammer hat nur ein Verdienst — das Verdienst der Neuheit.“ Die Sprache beider Blätter heißt nicht viel, wenn man bedenkt, daß sie beide halboffiziell sind, und ein
abgekartetes Duell halten, zwischen welchem das Ministerium agirt, während die Schafe stutzen und geschoren werden. — Derselbe Lloyd lobt auch den Herrn Schuselka „wegen seines
würdigen Vortrags und seines edeln Anstandes, und weil er sich ausdrücklich gegen die Auslegung gewahrt, als ob der Antrag (Pinka's), wenn angenommen, als ein Mißtrauensvotum gegen das
Ministerium angesehen werden könne.“ Viel standrechtliche Ehre für den Ministerkandidaten Schuselka, der zu jeder Erbärmlichkeit die Hand bietet. Die Minister blieben in einer Minorität von 97
Stimmen. Aber nicht das Ministerium, sondern der Reichstag wird weichen. Man versteht hier das konstitutionelle Leben, wenn überhaupt ernstliche Rede davon sein kann, umgekehrt. Daß der Reichstag
aufgelöst worden, bestätigt sich den Zeitungen nach heute noch nicht, aber gestern war es hier ein allgemeines Gerücht. Bei der Hartnäckigkeit, Bosheit und Macht der Czechen über die andern Slaven
könnte die Auflösung des Reichstages bedenkliche Folgen haben. Man wird daher zur List seine Zuflucht nehmen.
Die Abendbeilage zur Wienerin enthält einen geharnischten Aufsatz wider das preußische Primat in Deutschland, worin unter andern vorkommt: „Oesterreich bildet den Schlußstein zu
Deutschland's Größe“ (d. h. unter standrechtlichen Bedingungen). Das Werben für Friedrich Wilhelm's Kaiserkrone „der Deutschen“ (soll heißen: einiger Preußen)
geht eigentlich zunächst nur von 3 Schleswiger Professoren aus“ u. s. w.
Gestern sind wieder 89 Fremde mit dem Schub forttransportirt worden, bei einer Kälte von 18 Graden. Arme Leute ohne Kleider und Mittel. Mit welcher Bestialität die Subalternbeamten bei Ausweisungen
verfahren, davon werde ich Ihnen nächstens ein Beispiel erzählen.
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121
] Wien, 9. Jan.
Budapesth ohne Schwertstreich, der Reichstag in Kremsier aufgelöst, die Czechen mit der äußersten Linken (das Wort äußerste bedeutet hier nicht gar viel) verbrüdert, das sind seit gestern die
Angelpunkte, um welche sich unser politisches Leben dreht. Außer diesen gibt's indessen noch einen andern Angelpunkt, den die politischen Rechner gerne übersehen möchten. Die Kälte wird immer
intensiver, die Erwerbsquellen versiegen immer mehr, der Hunger steigt im Preise, das Proletariat an Zahl; der Zorn des Volkes beginnt zu donnern. Einstweilen erfriert dies Volk noch in den Straßen,
wird wahnsinnig oder verhungert, während das Militär besoffen einhertölpelt; das sind aber nur die ersten Töne der Verzweiflung, denen die Thaten der Verzweiflung unvermeidlich folgen
müssen.
In Galizien ist eine neue Nation entdeckt worden: die Nation der Hukuler. Diese Nation wird gebildet von Banditen, wie die der Seresanen oder besser Sarazenen. Sie tragen rothe Mäntel,
Pistolen, Dolche, ellenlange Messer u. s. w., wie diese. Der jugendliche Standrechtskaiser mit seinen unvermeidlichen Kalbsaugen hat ihnen einen Banditengeneral zugesandt, der sie nun gegen die
Magyaren führt. Die sogenannten Ruthenen genügten nicht, denn diese sind in der Wirklichkeit lauter Juden und deutsche Beamte. Die Hukuler aber sind reine 1846ger. Die Lemberger Universität wird
unterdessen mit ruthenischen Professoren versorgt; wer polnisch dozirt, ist ein Hochverräther. Ein gewisser Glowacki hält dort Vorlesungen über hukulische Literatur und Sprache. Während die
hukulischen Banditen im Norden wider die Magyaren gehetzt werden, werden die Banditenschaaren des Südens, die Seresaner, Ottochaner, Likaner, Opuliner gegen Venedig und die Lombardei losgelassen, um
von dort in Toskana und in die päbstlichen Staaten getrieben zu werden. Es lebe die Ehrlichkeit und Narrheit des Bourgeois-Frankreichs! Es sah zu, daß die Russen und Türken in Ungarn einmarschiren und
bleibt natürlich, was es ist, ehrlos und verrückt. Kossuth wird sich den Winter über vielleicht dennoch halten können, er und die Magyaren hoffen auf ein gesegnetes Frühlingsdonnerwetter im Westen.
Die Standrechtsblätter selbst geben heute zu, daß mit der Einnahme Pesth's die Sache in Ungarn noch lange nicht entschieden ist; sie verlangen die komplete Vernichtung der ungarischen Krone und
die totale Einverschmelzung mit Oesterreich. Da sie sämmtlich die jüdische Bourgeoisie, d. h. die allerhöchste Schurkerei, vertreten, so heulen sie darüber, daß das ungarische Papiergeld noch nicht
für nichtig erklärt worden ist. — Die im 12ten Armeebülletin versprochenen Details über die Einnahme Budapesth's sind bis heute noch nicht bekannt geworden; man wird Gründe haben, sie zu
verheimlichen, oder zu erlügen. Kossuth's beste Truppen befinden sich in Südungarn und behaupten dort das Feld trotz Serben, Bulgaren, Russen und Türken.
Der Patriarch Razacsich hat vom Standrechtskaiser für seinen Banditeneifer den Orden der eisernen Krone erster Klasse mit Insignien erhalten, seine Serben sind aber dennoch auf's Haupt
geschlagen worden. Pulszky's Güter, 700,000 Fl. C. M. an Werth, sind konfiszirt, Deak, Mailoth, die beiden Bathyany und andere hohe ungarische Adlige angeblich erschossen
worden. Alle gefangenen Magyaren kommen unter's Militär, sie müssen nach Italien, und die Franzosen werden sie nun als Feinde bekommen, weil sie zu ehrlos gewesen sind, sie als Brudervolk zu
unterstützen. — Die Beamten in den der österr. Gränze zunächst gelegenen Komitaten sind bereits alle abgesetzt und ihre Stellen mit gutgesinnten Oesterreichern besetzt worden.
Die Kremsier Reichsversammlung erklärte auf den Antrag des Czechen Pinkas: „Sie erkenne mit Bedauern in der durch das Ministerium am 4. l. M. vor Beginn der Debate über den § 1 des
Entwurfes der Grundrechte abgegebenen Erklärung, in Folge deren die Darlegung selbst der loyalsten Gesinnung bei Abstimmung über diesen Paragraph nicht mehr als freier unbehinderter Entschluß, sondern
nunmehr als der Ausdruck einer aufgedrungenen Meinung erscheinen muß, eine sowohl nach dem Inhalt, als auch nach Fassung und Motivirung dieser Erklärung der Würde freier Volksvertreter unangemessene
und mit der dem konstituirenden Reichstage durch die k. Manifeste vom 16. Mai und 6. Juni 1843 eingeräumten Stellung unvereinbare Beirrung der freien Meinungs-Aeußerung.“ Dies Ereigniß ist
äußerst wichtig. Die Czechen beherrschen das ganze österreichische Slaventhum und werden es umstimmen; die von den Olmützer Bestien heraufbeschworenen Natiönchen werden umschlagen, um ihre eigenen
Schöpfer zu vernichten.
Oesterreich ist eine Schöpfung des Absolutismus, ein pures Dynastenreich, das die Freiheit der großen Nationen nicht ertragen kann. Die Slaven haben ausgerufen: „Oesterreich besteht, so
lange wir es wollen!“ Davor mag Olmütz nunmehr erzittern.
Man erzählt sich, die Familie Zichy verfolge Kossuth mit einer Freischaar und habe 50,000 Fl. C. M. auf den Kopf gesetzt. (Natürlich bezahlt Frau Sophie.) Ferner, eine Freischaar von 30,000
(?) Walachen stehe in Siebenbürgen unter den Befehlen des ehemaligen Postpraktikanten Janko.
Der jugendliche Standrechtskaiser fährt fort, sich aus allen Winkeln Huldigungsdeputationen zuschicken zu lassen, nebenbei will er den Oberbefehl über Deutschland durchaus nicht verlieren, und läßt
seine Standrechtsblätter darüber reden, als ob Deutschland durch sein Verhalten gegen Oesterreich sich in der Rebellion gegen seinen angestammten Herrscher befinde. Auch lügen uns die
Standrechtshyänen bereits von am Rhein ausgebrochenen konfessionellen Zwisten vor, die sie dann im österreichischen Sinne interpretiren. Keine List, keine Schurkerei, keine Höllenthat wird gescheut,
um den altehrwürdigen österreichischen Absolutismus vor Europa zu behaupten. — Aus Girardin's Presse werden täglich österr. Artikel übersetzt; in Sardinien arbeiten die österreichischen
Agenten wie rasend an einer innern Entzweiung, ebenso in Rom und Toskana. Das Alles geht aus dem Korrespondenten von Olmütz hervor, der alle an Sophie geschickten Briefe der überall hockenden Agenten,
insoweit sie hier nützen, abdruckt. Auch die ehemalige „Bremer Zeitung“ die jetzt unter dem Titel: „Zeitung für Norddeutschland“ in Hannover erscheint, ist gewonnen
worden. Oesterreich läßt ihr die demokratische Richtung, insofern sie nur tüchtig über Preußen schimpft. Recht so!
Der durch Windischgrätz der Stadt Wien verursachte Schaden ist vom Gemeinderath auf nur 4 Mill. Fl. C. M. taxirt worden, während er an 25 Millionen beträgt. Man unterdrückte die hohe Summe unter
Einwirkung des Standrechts absichtlich, indem man den angerichteten Schaden nur nach Standesgebühr taxirte, und den der armen und nicht protegirten Leute ganz unberücksichtigt ließ.
Das Militär hat neuerdings Befehl erhalten, um 10 Uhr in
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alle Gast-, Kaffee- u. s. w. Häuser einzudringen, und jeden vorfindlichen Gast zu arretiren. Das Papiergeld wird fleißig nachgemacht, Armuth, Elend und Diebstähle nehmen überhand, ebenso Selbstmorde
und Wahnsinn. Der Lieutenant Pokorny ist zu fünf Jahren Eisen verurtheilt worden.
Der neue slowakische Freiwilligenzug unter Hurban und Stur ist ebenfalls mißglückt; die Slowakei scheint kein günstiges Terrain zu sein, um Banditenhaufen unter k. k. Hauptleuten zu
organisiren.
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*
] Kremsier, 8. Januar.
Die heutige Sitzung des Reichstags war eine entscheidende. Pinkas (aus Prag) hatte folgenden dringlichen Antrag gestellt, über welchen gestern die Linke mit der Rechten übereingekommen
war:
„Die hohe Reichsversammlung erklärt, sie erkenne mit Bedauern in der durch das Ministerium am 4. Januar 1849 vor Beginn der Debatte über §. 1. des Entwurfes der Grundrechte
abgegebenen Erklärung, in Folge deren die Darlegung selbst der loyalsten Gesinnung bei Abstimmung über diesen §. nicht mehr als freier unbehinderter Entschluß, sondern nur mehr als der Ausdruck
einer aufgedrungenen Meinung erscheinen muß, — eine sowohl nach dem Inhalte, als auch nach Fassung und Motivirung dieser Erklärung, der Würde freier Volksvertreter unangemessene, und mit der,
dem constituirenden Reichstage durch die kaiserlichen Manifeste von 3. und 6. Juni 1848 eingeräumten Stellung unvereinbare Beirrung der freien Meinungsäußerung.“
Die Geschäftsordnung verlangt zur Unterstützung eines solchen Antrags 50 Unterschriften. Dieser hatte ihrer 178. Strobach übergab das Präsidium an Dobblhof und verlas den Antrag; Pinkas motirirte
ihn. Die Dringlichkeit wurde fast einstimmig anerkannt. Gredler legt für das Ministerium eine Lanze ein und giebt dem Hrn. Schuselka Gelegenheit, sich wieder einmal als liberaler Salbaderer hören zu
lassen, der nämliche Schuselka, der in den Oktobertagen Wien durch seine phrasenhafte Feigheit verrathen und uns dahin bringen half, wo wir jetzt sind und wo es nun selbst Leuten, wie Schuselka und
Consorten zu unbehaglich wird. Der Minister Stadion hatte die Antwort auf diese und alle übrigen Reden schon in der Tasche. Es war wieder eine Ministerial-Erklärung, die er, freilich unter Zischen,
das höchste Mißfallenszeichen welches der souveräne Reichstag sich noch in Momenten der höchsten Aufregung erlaubt — von der Tribüne herab verlas. Der Inhalt der Erklärung war etwa der: Das
Ministerium habe lediglich seine Meinung offen an den Tag gelegt, aber keineswegs die freie Diskussion beschränken wollen. Die Erklärung fruchtete nicht, denn obiger Antrag wurde mit 196 gegen 99
Stimmen angenommen. Somit haben wir endlich das erste leise Mißtrauensvotum des Reichstags gegen das Kabinet und die erste parlamentarische Niederlage des letztern erlebt. Allem Anschein nach wird
aber das Kabinet diese Niederlage wohl bald in einen Sieg, d. h. in ein Nachhauseschicken des Reichstags, zu verwandeln wissen. Lauten doch die Nachrichten aus Ungarn ermunternd genug und
Windischgrätz, der eigentliche und einzige Souverän Oestreichs, hat es schon lange satt, noch immer eine Menge „Kanaillen“ unter dem Namen eines Reichstages versammelt und in Berathung
zu sehen.
Eine oktroyirte Verfassung, nach dem Beispiele des gottbegnadeten Patentkönigs von Potsdam, liegt bereit. Sie enthält unter einer Menge konstitutioneller Redensarten die thatsächliche Garantie, daß
die metternich'sche Regierungswirthschaft, auf's Beste durchgesehen und nach Bedürfniß vermehrt, abermals zur Beglückung der Völker Oestreichs benutzt werden soll. In dieser
beabsichtigten Verfassung soll es nur Nationalgarden mit Census — Polizeihülfstruppen — geben; die Presse der Polizei untergeordnet, das Vereinigungsrecht nur nach eingeholter
„hoher“ obrigkeitlicher Bewilligung gestattet, Klöster und Orden nebst der Staatskirche beibehalten, Verhaftungen auch ohne richterlichen Befehl erlaubt werden u. s. w. Aber selbst wenn
sie freisinniger lauten sollte, ihr Geist würde der eben bezeichnete sein — in der Praxis. Ob und wann man die fertige Arbeit dem „getreuen“ Oestreich präsentiren wird, hängt
lediglich noch von einigen Umständen ab, auf deren baldigen Eintritt gerechnet wird.
Inzwischen läßt sich das Ministerium durch die Plaudereien des Reichstags wenig beirren. Hat man ihn satt und wird er irgendwie hemmend oder lästig, so hat sein letztes Stündlein geschlagen und er
wird nach allen Weltgegenden hin auseinander gesprengt.
Die jetzigen Klagen des Reichstages über das Verfahren der Minister ihm gegenüber, sind viel lächerlicher, als die jenes Jungen, welcher vor Kälte zitternd ausrief: 's ist meinem Vater schon
recht, daß ich friere, warum hat er mir keine Handschuh' gekauft. Der Reichstag hatte im Oktober die beste Gelegenheit zum Einkauf der besten Handschuhe, ja, er durfte der Contrerevolution nur
den Handschuh im Ernst hinwerfen: so fröre er jetzt nicht. Aber mit Feiglingen und Verräthern, oder Schwachköpfen und Phrasendrechslern hat man kein Mitleid, wenn sie endlich ihre angekreidete Zeche
bezahlen müssen. Das Volk lernt dabei wenigstens so viel, daß es künftig weder den alten Feind aus Barmherzigkeit verschonen, oder sich auf die Tölpelei der „Vereinbarung“ einlassen,
noch sich einen neuen ebenso schlimmen Feind aus seiner Mitte 7 Monate lang ruhig gefallen lassen darf.
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Cilli, 4. Jan.
Trotz 18 Grad Kälte wurde gestern die Probefahrt auf der Eisenbahnstrecke von Cilli nach Tüffer (auf dem Wege nach Laibach) mit Maschine und Tender unternommen, und lieferte den Beweis, daß die
Fahrt seiner Zeit eben so sicher, als in geognostischer und ästhetischer Beziehung interessant sein wird.
[(Gratzer Z.)]
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[
*
] Prag, 8. Jan.
Gestern langte hier ein Ministerialdekret an, wonach sich der Kaiser entschlossen hat, Prag für eine slavische Universität zu erklären, und befiehlt, daß alle vom Staate angestellten Professoren
Vorlesungen in böhmischer Sprache halten müssen, und daß bloß außerordentliche Dozenten in deutscher Sprache lesen dürfen.
Vicepräsident Meesery soll bei seiner Rückkunft aus Olmütz mehrere kleine ministerielle Neujahrsgeschenke, d. h. Verbote und Beschränkungen mitgebracht haben, die er bis jetzt noch in seinem
Portefeuille verwahrt hält. Als solche Geschenke nennt man: 1) ein Patent zur Reorganisation der Nationalgarde auf Grundlage eines Census etc., deren Oberoffiziere von der Regierung ernannt würden; 2)
die Auflösung der deutschen Vereine und der Slowanska Lipa, und 3) das Verbot, irgendwie politische Abzeichen zu tragen.
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[
*
] Frankfurt.
Da die Verhandlungen über die österreichische Frage sich in die Lange ziehn und die stenographischen Berichte durch die Schuld der Turn- und Taxischen und sonstiger Reichsposten noch später
ankommen wie sonst, sind wir gezwungen, von unserm Vorhaben abzugehn und summarische Berichte der 3 bisher stattgefundenen Sitzungen zu geben.
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!!!
] Frankfurt, 12. Jan.
Nationalversammlung. — Seit gestern früh quält sich die sogenannte Nationalversammlung mit der österreichischen Frage, resp. dem sogenannten Gagern'schen Programm. Bei der
unendlichen Geduld der Herren Nationalversammler läßt sich kaum morgen Abend die Lösung, d. h. der Schluß der Debatte erwarten. Nur 94 Redner sind zu der Debatte eingeschrieben. In der gestrigen
Sitzung (welche zum erstenmal wieder in der wahrlich zu schön eingerichteten Paulskirche stattfand) sprach Venedey gegen das Ministerium. Hierauf von Gagern (der Minister) pro domo und pro ministerio
wie gewöhnlich sehr schwach. Nach ihm Arneth gegen das Ministerium. Hierauf Ziegert sehr unbedeutend im Gagern'schen Sinne. Wagner für Oesterreich. Jordan aus
Berlin, mit dürftiger Berliner Literaten-Malice, unter Zurechtweisungen und Unterbrechungen, brach eine ebenso lange als dünne Lanze für Gagern. Endlich der Ritter von Schmerling für
Oesterreich. Verlangen Sie nicht die Spezialia dieser unendlichen Deklamationen, man würde sie doch nicht lesen. — In der heutigen Sitzung, wie ich schon oben sagte, die Fortsetzung.
Simon von Trier sprach für die einfache Tagesordnung, über das von Gagern'sche Programm. Seinen Antrag, den einzig annehmbaren, unterstützen: Wesendonk, Schlöffel, Rühl aus Hanau, Rösler
von Oels, Würth von Sigmaringen. — Raveaux sprach nicht so heiser als gewöhnlich und unter tiefster Ruhe für Oesterreich. Mit jener gewinnenden Naivetät und auffallenden Offenheit (wenn
er sie braucht) sagt Raveaux: „Ich will eigentlich keinen von beiden an der Spitze weder Oesterreich noch Preußen; sondern eine republikanische Form. Es ist die Zeit da, wo wir endlich den Volk
Rechnung tragen sollen über unsre Sendung, sonst dürfte es mit uns abrechnen. Seitdem man mit dem Städte-Bombardiren begonnen hat, spricht man von nichts als Tragweite — Rechnung tragen
— abrechnen u. s. w. Statt all diesem Wortquatsch sollte man endlich an die Abrechnung denken. von Beckerath (Finanzminister) leiert eine Todtenklage für's Ministerium herunter.
Von Wydenbrugk (der weimarische Minister): Alle Krisen haben wir nutzlos an uns vorbeipassiren lassen, wir haben weder Freunde noch Feinde mehr im deutschen Volk, nur wenig Heil ist selbst dann
noch zu hoffen, wenn wir auch in dieser Frage den rechten Weg gehen; wenn wir nicht die beiden größten deutschen Mächte, Preußen und Oesterreich, aneinanderhetzen, statt die Einheit zu bilden.
— Leider hat das Ministerium diese große Verfassungsfrage zu einer kleinen ministeriellen Jammerfrage gemacht. Aber wenn es gilt, Deutschlands Einheit zu erhalten, will ich mich von jeder
Person trennen — und sei es Deutschlands beste. (??) (Sie sehen, von Wydenbrugk ist bei alledem ein großer Romantiker, er kann sich nicht ohne Thränen von dem edlen Gagern trennen). Auch
dieser Rede folgte langer und heißer Beifall. — Der ultramontane Sepp aus München predigt hierauf unter monströsem Skandal 3/4 Stunden (wie es scheint) für Oesterreich. Der Lärm ist so
groß, daß der Präsident Simson meint, selbst die Stenographen würden nichts verstehen. — Nach ihm von Würth (der rechte Arm Schmerlings und früher Unterstaatssekretär) in begeisterter
Rede für Oesterreich mit Deutschland. Ohne Oesterreich sei Deutschland eine Ruine. (Rechts unglaublicher Tumult.) Würth fährt über Preußens Perfidie her. Man hört da allerliebste Wahrheiten von dem
komödienhaften Wirken der Reichskommissäre Simson, Hergenhahn und von Gagern am potsdamer Hofe. (Wenn die Burschen sich in die Haare gerathen, hört man endlich einen Funken Wahrheit.) Lieber als diese
preußische Perfidie (fährt von Würth fort) ist mir noch das offene Handeln des Fürsten Windischgrätz. (Dieser erbauliche Schluß erregt wollustiges Beifallgeklatsch. Man klatscht sich
gegenseitig an, man freut sich kindisch über die Aufdeckung gegenseitiger Schande). Wenn (sagt Würth) ein Staat um seines Ungehorsams gegen die Nationalversammlung willen, aus dem Bundesstaat
ausgeschlossen zu werden verdient, so ist es Preußen. (Das ganze Haus klatscht.) Die Anträge des Herrn von Würth lauten:
„In Erwägung
1. daß die National-Versammlung getreu ihrer Pflicht und ihrer Vollmacht dahin trachten muß, ganz Deutschland mit Einschluß der osterreichischen Bestandtheile des deutschen Bundesgebietes im
Bundesstaate zu einigen;
2. daß die National-Versammlung ihre Selbstständigkeit als Organ des deutschen Volkes nicht beeinträchtigt, wenn sie die bestehenden Verhältnisse und Interessen der deutschen Einzelstaaten
berücksichtigt und vor der endlichen Festsetzung des Verfassungswerkes durch ein Benehmen mit den Regierungen jene Hindernisse oder Schwierigkeiten zu beseitigen sucht, welche der Verwirklichung von
Verfassungsbestimmungen entgegenstehen könnten;
3. daß Oesterreichs Stellung als Gesammtstaat, aus deutschen und außerdeutschen Gebietstheilen zusammengesetzt, eigenthümliche Schwierigkeiten darbietet;
4. daß es an der Zeit ist, die Zweifel zu beseitigen, zu welchen das österreichische Ministerprogramm vom 27. Nov. v. J. über das Eingehen Oesterreichs in den deutschen Bundesstaat Grund gegeben
hat;
5. daß es nicht blos nothwendig ist, einer Lossagung des österreichischen Bundesgebiets von Deutschland rechtzeitig entgegen zu wirken, sondern daß auch die Anbahnung einer möglichst innigen Einigung
der außerdeutschen Länder Oesterreichs mit dem deutschen Gesammtstaate im Interesse der betheiligten Nationen und des europäischen Friedens liegt,
beschließt die National-Versammlung:
Das Reichsministerium werde ermächtigt, mit der österreischen Regierung zur Beseitigung der Schwierigkeiten, welche der Durchführung der deutschen Reichsverfassung in den deutsch-österreichischen
Ländern entgegenstehen konnten, und zur Anbahnung einer Union der außerdeutschen Provinz[e]n Oesterreichs mit ganz Deutschland in Verhandlung zu treten.“
Hierauf gibt man dem Ex-preußischen Reichskommissär von Hergenhahn das Wort, welcher den von Würth einen Lügner nennt. Hierauf gibt man dem von Würth das Wort, welcher den von Hergenhahn einen
Lügner nennt. Hierauf der Präsident Simson fast weinend: „Meine Herrn, ich will ihnen ja die Wahrheit sagen, ich will ja alles, was wir (Hergenhahn und ich) in Berlin gethan haben, einem
Ausschuß vorlegen, dann werden Sie ja sehen, daß von Würth gelogen hat. (Beifall der Centren.) Hierauf bekommt Simon von Breslau das Wort, welcher authentisch nachweist, daß von Würth recht
hat, vollkommenes Recht in allem, was er über die preußische Perfidie sprach und über die der Herrn Ex-Reichskommissare. (Großes Gaudium im Hause über diese preußisch-österreichische Hetzjagd.)
Wurm aus Hamburg spricht hierauf für's Ministerium, aber schlecht. Einem Wurm ist alles möglich. Eines Tages fraß er den Gagern, heut kriecht er vor ihm. Trotz allem Spektakel und
Geschrei nach Vertagung läßt man hierauf noch Moritz Mohl sprechen. (Es ist 4 Uhr.) Mohl ist antiministeriell, von allem was er aber spricht, kann kein Mensch ein Wort verstehen. Nach ihm vertagt man
sich bis morgen. Schluß nach 4 Uhr.
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!!!
] Frankfurt, 13. Dezember.
National-Versammlung.
Beseler aus Greifswald beginnt heut den Reigen. Es ist eine Frage der Einheit, sagt er, welche uns beschäftigt, aber nicht gestattet die jetzige Sachlage, jene ideale Einheit herzustellen,
„so weit die deutsche Zunge klingt.“ Wir haben Alles gethan, was möglich war, wir haben die Souveränetät des deutschen Bundesstaates gegründet. (Gelächter. Endlich wissen wir doch, was
die National-Versammlung gethan hat!) Den Grundgedanken des Bundesstaates (ausgesprochen in den §§ 2 und 3) müssen wir unter allen Umständen festhalten. Was Oesterreich will, ist ein für allemal
im Programm von Kremsier ausgesprochen und Oesterreichs Volk will dasselbe. (Links: Ist nicht wahr!) Beseler spricht heut mit einem nie geahnten Pathos, er ist wahrhaft erhebend. Der deutsche
Bundesstaat hat drei Garanten: 1. die deutsche Freiheit (Gelächter), 2. die deutsche Wissenschaft (Aha!), 3. die Gemeinschaft der materiellen Interessen. Diese drei Garanten werden uns an Oesterreich
knüpfen. Man hat gesagt, wenn Oesterreichs Abgeordnete aus diesem Hause schieden, würden wir Crokodillsthränen weinen, diese Zumuthung weise ich entschieden zurück, wir würden für unsre
österreichischen Brüder einen deutschen Händedruck haben (Gelächter und spaßhafte Verbeugungen links) und ein liebevolles Andenken. Er schließt, meine Herren, unser Schiff ist in Gefahr (d. h. die
Diäten), nageln wir die Flagge fest an den Mast, bleiben wir fest sitzen u. s. w. (Gelächter links, Bravo rechts).
Vogt von Gießen: Die Rede meines Vorgängers, sagt er, beweist doch mindestens, daß er sich für etwas begeistern kann, und daß er, daß seine Partei einsieht, es müsse im jetzigen Augenblick
etwas geschehen, das ist allerdings ein Beweis, daß wirklich Gefahr im Verzug ist. (Große Heiterkeit.) Von Vogts Rede führe ich Ihnen nur die Hauptmomente an. Unter anderm sagt er, aus Beselers Rede
geht hervor, daß ein antidiluvianisches Ungethüm gegen uns im Anzuge ist, nämlich ein erblicher deutscher Kaiser. v. Gagern habe gesagt, er wolle keine Hegemonie Preußens, das glaube ich, er will
einen preußisch-deutschen Kaiser, in dem der Hegemon schon drin steckt. Nur das Bedürfniß nach Einheit hätte die Revolution gemacht, hat der Minister gesagt, die verschiedenen Revolutionen in Berlin
und Wien haben das nicht gezeigt. (Der Freiheit wegen hat man sie gemacht.) Ein Bundesstaat und Dynastien sind ganz unverträglich, und da Sie die Prämissen versäumt haben (d. h. die Dynastien nicht
weggeräumt), werden Sie durch ihre papiernen Paragraphen nicht den Bundesstaat grunden. Wenn Sie eine Garantie für die Freiheit haben wollen, in der Wissenschaft (siehe Beseler) werden Sie sie nicht
finden. (Heiterkeit) Eine materielle Einhei[t] Deutschland ohne politische Einigung ist auch unmöglich. Allerdings ist klar, sagt Vogt, Oesterreich sucht uns jetzt aus egoistischen Gründen, aber ist
dies ein Grund für uns, das ministerielle Programm anzunehmen? Unter anderm nennt Vogt die Gesandten der Centralgewalt historische Gesandten. (Ungeheure Heiterkeit). Wer verlangt denn die
österreichische Gesammtmonarchie? Etwa die Slawen? Etwa die Italiener? Etwa die Lombarden? Nein! weiter Niemand als das k. k. österreichische Ministerium und sein Beamtenheer. (Beifall) Jetzt wollen
Sie (zur Rechten), meine Herren, die Stimme des österreichischen Volks auf einmal hören, jetzt, da es geknechtet und geknebelt ist; zur Zeit als es sich erhob und frei sprechen konnte da haben Sie
jene Stimme nicht gehört. (Rauschender Applaus) Vogt theilt mit, daß an viele österreichische Abgeordnete aus Deutsch-Oesterreich Adressen mit vielen Unterschriften eingelaufen, worin der Anschluß an
Deutschland sehnlich gewünscht wird, aber begleitet von Privatbriefen der Petenten, in denen man bittet, nur die Namen nicht zu veröffentlichen weil sonst Verfolgungen der österreichischen Beamten (d.
h. Pulver und Blei) unvermeidlich folgten. Unter diesen Umstanden soll Oesterreichs Volk (nach Beseler) sich frei ausgesprochen haben.
Nachdem Vogt in noch langer, oft von Beifall unterbrochener Rede gegen das Ministerprogramm gesprochen, tragen viele Mitglieder der Linken auf Schluß der Debatte an, ziehen aber, da sie sehen, daß
v. Vincke die Tribüne betritt, mit äußerster Artigkeit ihren Antrag bis nach Schluß der Rede des Ritters zurück.
Der v. Vincke stützt hieraf in langer und geschwätzigen Rede das Ministerium und greift bald das verehrte Mitglied von X, bald das verehrte Mitglied von Y mit gewohnter Bissigkeit und Eintönigkeit
an. Besonders fährt er über Hrn. v. Widenbrugk her. Erbaulich ist es zu sehen, wie der Ritter diesmal den Exminister v. Schmerling wüthend angreift, mit dem er sich doch früher auf so traulichem
Rechtsboden zusammen fand. Aber bei Gott und diesen Nationalversammlern ist nichts unmöglich. Vincke greift Schmerling und v. Würth so heftig an, daß man stürmisch auf „Ordnungsruf“
dringt. Als es beinahe soweit kommt, giebt der tapfere Ritter eine ausweichende Erklärung (à la Eisenach). Niemals, meint Hr. v. Vincke u. a., ist ein Mitglied eines englischen oder französischen
Parlaments soweit gegangen zu sagen, wie der Abgeordnete von Trier, das deutsche Parlament habe sich mit Schimpf und Schande bedeckt. (Simon von Trier vom Platz: Es hat auch noch kein englisches oder
französisches Parlament so gehandelt!)
Vincke schließt endlich unter Beifall von rechts und Zischen links. v. Würth erhält hierauf das Wort, um sich gegen Vinckes plumpe Grobheiten zu vertheidigen.
Nach Vincke wird gegen hal[b] zwei Uhr die Debatte geschlossen, mit Vorbehalt der Erlaubniß zu reden für den Ministerpasidenten und die beiden Berichterstatter der Majorität und der Minorität.
Auf den Vorschlag von Venedey vertagt man hierauf die Sitzung bis 3 Uhr Nachmittags. (Jetzt ist es 1/2 2 Uhr).
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@facs | 1065 |
Hamburg.
Ueber die Mangelhaftigkeit der Vertretung der deutschen Handels-Interessen in Griechenland und in der Levante wird in einem uns gütigst mitgetheilten Privatschreiben aus Syra vom 24. Dezbr.
unter Anderm folgendes berichtet: „Während meines Aufenthalts in Syra sind bereits 3 deutsche Schiffe gestrandet, es ist ihnen aber mehr durch die mit den deutschen Consulaten Beauftragten
geraubt als durch die Gewalt der Stürme. Jetzt kommt dazu, daß der mit den preußischen, mecklenburgischen und hannoverschen Consulatgeschäften beauftragte Consul sowohl, als sein Secretär abwesend in
London und die Geschäfte des Consulats einem Verwandten übertragen sind, der nichts mehr und nichts weniger als Pedell in einer Schule ist. Soeben komme ich von einem gestrandeten deutschen Schiffe
zurück, es ist ein mecklenburgisches, die „Doris“. Ich fand den armen Capitän in einem elenden Zustande. Der preußische sogenannte Consul war schon dagewesen und hatte ihm schon
proponirt, das Schiff zu verkaufen. Ich brachte aber den Mann zum englischen Consul, der sich seiner Sache anzunehmen versprach, da die Ladung eine englische sei, und so hoffe ich, daß wir ihn retten
werden.“
[(B. H.)]
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@facs | 1065 |
Hannover, 9. Jan.
Commodore Parker, der Boston am 20. v. M. verlassen hat, ist gestern Abend hier durch nach Berlin gereist, um von dort in Begleitung des amerikanischen Gesandten Donelson nach Frankfurt zu gehen,
wohin er zur Theilnahme an den Vorarbeiten für die deutsche Marine eingeladen ist.
[(H. M.-Z.)]
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@facs | 1065 |
Göttingen, 9. Jan.
„Nach einem von beiden Seiten geführten Wahlkampfe haben heute die Wahlen für die ersten sechs städtischen Distrikten stattgehabt; morgen wird die zweite Hälfte folgen. In jenen sämmtlichen
sechs Distrikten sind die von der republikanischen Partei vorgeschlagenen Wahlmänner, freilich mitunter gegen sehr starke Minoritäten, in der Oberhand geblieben, und die Wahl des Hrn. Dr. Elissen kann
als gesichert betrachtet werden.
Französische Republik.
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@facs | 1066 |
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17
] Paris, 12. Jan.
Es ist klar, daß die Arbeiten der Bettler und der Dürftigen fast null sind; und da dieser Unglücklichen sieben Millionen und eine halbe sich in unsrem Lande umherstoßen, so geht von vorn herein die
Kraft von 7 1/2 Mill. Menschen in Rauch auf. Sie konsumiren sehr mäßig, tagelang zuweilen gar nichts, d. h. sie hungern und schmachten, aber trotz dem produciren sie noch weniger als sie konsumiren.
Sie konsumiren immer hin: 547 Mill. jährlich, oder 1 1/2 Mill. täglich, oder zwanzig Centimen (vier Sous, noch nicht zwei Silbergroschen) täplich per Kopf. Das ist gewiß mäßig gelebt, und dennoch
produciren sie nur unwillkürlich, wie eine Pflanze, wie ein Thier, durch Exkretion von unbrauchbar gewordenen Stoffen aus ihrem lebendigen Körper, und durch Anheimgeben dieses ihres Körpers, wenn er
todt ist, an die Erde und Luft, d. h. sie schaffen nur noch Dünger. Auf diese letzte ganz indifferente Stufe des organischen Wesens sind sie herabgedrängt, denn daß sie sich in einander multipliciren,
d. h. Kinder zeugen — proletarii im altrömischen Wortsinne — können wir nicht als eine ihnen und der Gesellschaft nützliche Produktion anrechnen.
Setzen wir nur die Arbeitsfähigen dieser Kategorie von 10 bis 60 Jahren in Betracht; so haben wir schon 5,700,000 Personen. Setzen wir hinzu die in Kraftblüte befindlichen Soldaten zu Land und
Wasser 350,000; die Steuereintreiber, gleichfalls in der Blüte der Kraft und an Zahl 70,000 Mann. Kleinbourgeoisie zählten wir oben 1 1/2 Mill., unter diesen ist der 15te Theil, wonicht mehr, mit
nutzloser Arbeit in sofern beschäftigt, als sie bereits anderswo vollzogen wird, also 100,000. Fügen wir dazu, daß von 39,500 Priestern, 36000 Lehrern, 200,000 Arbeitsunternehmern, 600,000
Kleinhändlern (aus Versehen führte eine frühere Tabelle sie als „Schwäche“ auf), und 120,000 Mitgliedern der sog. freien Prefessionen, mindestens 1/10, also 100,000 Personen beides
Geschlechts, gern täglich einige Stunden lang ihre Muskelkräfte in wahrer Produktivarbeit üben würden. Setzen wir 10,000 fast ganz unbeschäftigte Dienstboten von 575,000 an, und wir finden in Summa
6,330,000 Individuen, deren Kräfte der Produktion abhanden kommen. Folglich bleiben heute nur 14 Mill. Arbeitender jedes Alters und Geschlechts; und diese arbeiten sich krank oder dumm oder todt, denn
die Arbeit ist auf diese Weise weder für sie noch für die Ihrigen productiv.
Und obenein ist das Produciren dieser 14 Mill. Arbeitender abscheulich erschwert; selbst verstockte Malthusdoctoren werden wohl nicht wähnen, die Arbeiter arbeiteten in möglichst erleichterten oder
angenehmen Arbeitsverhältnissen, in bestmöglichen Werkstätten, mit bestmöglichen Werkzeugen, nach bestmöglicher Lehre, in bestmöglicher Gemüthsstimmung (wodurch das Produciren bekanntlich mindestens
sich verdreifacht in Quantität und Qualität). Diese 14 Mill. sind meist jämmerlich gestellt, von häuslichen Sorgen geplagt, auf dem Lande selbst in Betreff ihres Handwerkszeugs schlecht bestellt. Sie
produciren höchstens so viel als sieben Mill. in wahrhaft guten Arbeitsverhältnissen Arbeitende produciren würden.
Und man wundert sich noch über die Misére? und man erstaunt noch über die Prasserei? diese Extreme sind untrennbar, wo das Arbeiten geschändet ist; geschändet aber ist es, so lange nicht alles
aufgeboten wird, um es zu läutern, vermehren, bequemern und bereichern.
Narren! die ihr euch noch wundert über Aufstände der sieben Mill. Bettler und Dürftiger gegen die 240,000 allmächtigen reichen Herren, die über Frankreich zu verfügen haben, über seine Bodenschätze
und Kunstobjekte, Wissenschaft und Industrie, über seine Frauen und Mädchen, über seine Gesunden und Kranken, über seine Tugend und Verbrechen, Erziehung und Verdummung. Diese 240 tausend Männer von
21 bis 80 Jahren (wir streichen von den 770,000 Personen der reichen Kategorie zuerst die Hälfte, die weiblichen Individuen; dann [unleserlicher Text]/[unleserlicher Text], die Kinder beides Geschlechts unter 9 Jahren; endlich 1/5, die
Knaben und Mädchen von 9 bis 20 Jahren) verhöhnen täglich das sog. christliche Ehegesetz des Code, das monogamische, zusammengesetzt aus Monandrie und Monogynie; diese 240 tausend Halbgötter führen
Polygynie und Polyandrie ein, und wohlgemerkt, nicht wie etwa in Tibet und in den muhamedanischen Staaten, nein, das wäre ja auch ein Band; sie üben Promiscuität, Polygamie ad libitum und
„gegen baar“, so zu sagen die Prostitution à l'ordre du jour und in infinitum.
Diese 240 Tausend sind lauter Moralisten, Heuler, Herrgottsfürchtige, nach Gerechtigkeit Dürstende; mit einem Theil ihrer Wucherzinsen werden alle volksbethörende Bücher dieser Gattung in die Welt
gesetzt. Ihren Bankaktien allein sprudelt unser edelster Wein; von ihren Eisenbahnpapieren werden unsre schönsten Schwestern zu Bajaderen; mit ihren Staatsschuldcoupons heucheln sie sich weise und
brav, angenehm und wichtig. — Die französische Gesellschaft ist mithin schuldig, primo: die Kraft eines Drittels ihrer validen Arbeiter zu verschleudern; secondo: nicht begriffen zu haben, wie
die Kraft von fünf andern Mill. Arbeitern zu benutzen wäre (nämlich Kinder beides Geschlechts von 6 bis 9 Jahren 2,000,000; junge Mädchen von 9 bis 16 Jahren 2,300,000; sechszigjährige Personen
700,000), wodurch jedenfalls, wenn auch keine große Produktion, doch eine sehr schätzbare Aushülfe entstände; tertio: ist sie schuldig sich nicht um die wissenschaftliche Synthese der menschlichen und
der Naturkraft im mindesten bisheran gekümmert zu haben.
In der That, was kümmert das Sankt Malthus? —
Werfen wir einen Blick auf das Inventarium Frankreichs, so finden wir daß, soweit die sorgfältigen Tabellen uns dazu Vorarbeiten lieferten, die Nahrung des Soldaten und Matrosen schlecht ist. Sind
Nahrungskrankheiten nicht an der Tagesordnung bei ihm, so kommt das blos von der Tugendkraft seines Organismus, und von etwaigen Zuschüssen, die von den Eltern der Hälfte des Heeres zufließen, und
eine uralte Erfahrung ist, daß Frankreichs Krieger diese Personalzuschüsse jedesmal unter sich auf gut kommunistisch vertheilen. Die Matrosen leiden desto mehr an der übeln Krankheit, die man Bulimie
oder Heißhunger nennt und die Schiffsärzte müssen oft genug mit Doppelrationen Brod und Zwieback helfen. Da um die Nahrung sich die animalische Welt dreht, verweilen wir dabei einen Augenblick: Wir
theilen die pflanzliche Nahrung in Cerealien (Getreide schlechthin) und in Halbcerealien (Buchweizen, Salep, Sago), in Mehlgemüse (Bohnen, Erbsen, Kartoffeln) und
Mehlfrüchte (Kastanien). Zwischen 1815 und 1835 war eine Weizenernte schlecht, die nur 50 Mill. Hectoliter gab; gut, wenn sie 70 à 80. Jede Kartoffelernte war schlecht, wenn sie nicht 25
Mill. Hetoliter überwog; gut, wenn sie 70 überstieg.
Im Jahre 1835, von der Ernte bis zu der entsprechenden Epoche des folgenden Jahres, waren 51 Mill. Hektoliter Weizen, 24 Mill. Hektoliter Roggen, 18 Mill. Hektoliter Gerste und Méteil (Weizen und
Roggen gemischt) von den Bewohnern aufgezehrt worden. Und mit dieser Tabelle stimmt der deutsche Statistiker Rheden, was Weizen und Roggen betrifft, ziemlich überein; er rechnet 60 à 62 Mill.
Hektoliter Weizen, und so hoch steigt wirklich obige Summe durch Addition des eingeführten Getreides. Beiläufig bemerkt rechnet Dieterici auf jeden preußischen Magen 1/3 weniger Cereal als auf den
französischen.
Resultat ferneren Tabellenvergleichens ist nun, daß unser Land jährlich im Ganzen 100-104 Mill. Hektoliter, oder drei Hektoliter per Person, von allen Cerealien zusammen, braucht. Die Konsumtion
des Weizens rechnen wir dabei auf 70 Mill. Hektoliter, oder per Person 150 Kilogr. oder 300 Pfund.
Seit zwölf Jahren haben wir für 258 Mill. Franken fremde Cerealien einführen müssen, und nur für 91 Mill. ausgeführt.
Wir erinnern aber an Lagrange's Wort:
„Der Mensch bedarf eine bestimmte Masse Nahrung, gleichsam Ballast im Schiff des Organismus. Dieser Ballast muß gebührend zusammengesetzt sein, in den richtigen Proportionen aus Getreide und
Fleisch, oder den Surrogaten beider. In dieser Proportion zeigt sich das Wohlergehen der Nation; die Nahrung ist seine Basis. Um das Wohlergehen, die Gesundheit der französischen Nation zu erhöhen,
muß man die Konsumtion des Fleisches, selbst auf Kosten der des Getreides, vermehren.“
Bürger Vasbenter vom Proudhon'schen „Le Peuple“, ist von der Jury freigesprochen, und Bürger Bernard, der Kluborganisator, den par défaut das korrektionelle Gericht zu fünf
Jahren und 6000 Fr. verdammt hatte, erhielt statt dessen jetzt vor den Assisen nur einen Monat und 100 Fr. Buße. Also lange Nase und tiefer Kummer der Volksfeinde; „I'Union
monarchique“ verlangt Schließung aller Klubs, wo nicht, so wolle sie, die legitimistische alte Spitzbübin, den Bonaparte im Stich lassen. Sie läßt sich heute aus Berlin schreiben: „nicht
weniger als 163 Mitglieder der Nationalversammlung werden in diesem Augenblick wegen Steuerverweigerung arretirt, was wegen des aus diesem Insubordinationsakt entspringenden gefährlichen Beispiels
durchaus nothwendig ist.“ Das jesuitische „Univers“ vergießt Freudenzähren über des calvinistischen Guizot's neuestes Broschürli: De la Démocratie en France. Man höre nur
wie trübselig Guizot und „Univers“ heute harmoniren: „Die Sozialrepublik, sagt der Exminister Louis Philipps, erblickt in den Sterblichen nur isolirte, einen Tag währende
Individuen, die auf dem Theater des Lebens erscheinen, um der Subsistenz und des Genusses theilhaft zu werden, ein Jeglicher für seine eigene Rechnung und sonder höheres Ziel. Das ist ja eben das Loos
der Thiere. In den Augen der Doktoren von der sozialen Republik ist Gott nur noch ein Wesen der Einbildung, eine unbekannte Macht, welche von den wirklichen irdischen Staatsmächten nur als ein
Abflußmittel für ihre eigene Verantwortlichkeit benutzt wird. Gott muß also das Böse sein, nach der Ansicht jener Sozialphilosophen, denn nur durch seine Hypothese fühlen die Völker sich bewogen, das
Uebel sich gefallen zu lassen, das ihnen Seitens der Herrscher zukommt. Solcherweise werden die Menschen, auf das Erdenleben allein angewiesen, und ihren irdischen Gebietern allein gegenüber,
schlechterdings die gleiche Vertheilung des Erdengenusses fordern. Und von der Stunde ab wo die, welchen es fehlt, es fordern, werden sie es haben, denn sie sind die Stärkern. Gott und
Menschheit schwinden mithin.“ Freuen wir uns des calvinistischen Geständnisses: „denn sie sind die Stärkern.“ Freuen wir uns auch des folgenden jesuitischen: „möge die
legitimistische Partei mit der des 1830ger Julithrones sich befehden, sich schwächen, immerhin, sie können sich nimmer vernichten, ausschließen; im Gegentheil, beide haben nur allzusehr ihre
beiderseitigen Kräfte allesammt nöthig, um diese Demokratie im Zaum zu halten mit der sie nunmehr zu thun haben.“ Guizot gesteht seinen unter Louis Philipp dem Jesuitenthum geleisteten
Vorschub ein und verspricht das Ding noch besser zu machen, wenn er wieder près de la nécessité d'agir (nahe am Handeln) sein werde.
Die Polizei verhaftete gestern den Präsidenten des Klub St. Antoine, auch einen Korporal, der dabei war; Letzterer ward wieder freigelassen. Die Polizeisergeanten alten Styls werden, als
„unerläßliche Diener der Ordnung“, selbst mit ihrem alten scheußlichen Kostüme vom Corsaire wieder herbeigefleht, da die jetzigen pariser Gardens „meist demagogisirt“
seien. „L'Union't proponirt, allabendlich die Präsidenten der Klubs per Manda. zu arretiren, das werde endlich den Leuten den Spaß verderben, — So weit wären wir
also.
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] Paris, 13. Jan.
Die Auflösung der Kammer — das ist die große Frage, welche der Kammer selbst zur Lösung vorliegt. Die Kammer soll über ihr eigenes Sicksal entschieden — sie soll ein Urtheil des Todes
oder des Lebens über sich selbst ergehen lassen. Skandal, Verunglimpfungen, Schmähungen und Drohungen — kurz der ganze Hergang, mit dem zwei streitende Parteien aus dem Volke ihren Faustkampf
einleiten, fehlte auch dieses Mal nicht. Der Antrag des Hrn. Rateau fixirt auf den 4. März die allgemeinen Wahlen, und auf den 19. desselben Monats die Zusammenberufung der neuen legislativen
Kammer.
Das Comite, welchem dieser Antrag zur Prüfung überwiesen war, hatte auf die Verwerfung desselben geschlossen. Die jetzige Kammer beschließt die Inbetrachtziehung des Rateauschen Antrages mit einer
Majorität von einer einzigen Stimme!
Satan ist im Bunde mit der ganzen offiziellen Regierung, ob sie Cavaignac, Napoleon oder Barrot heiße, und spielt ihnen die drolligsten, die unerwartetsten Streiche!
Gehen wir zunächst auf die Bedeutung dieses Antrags ein. Was die Kammer beschlossen hat, ist weiter nichts als eine Inbetrachtziehung, d. h. ehe dieser Antrag ein Dekret werden kann, muß er
zunächst durch eine Kommission passiren, die ihren Bericht darüber abstattet. Während dieser Zeit hat die Kammer immer noch zu leben, abgesehen von allen Vor-, Zwischen- und sonstigen Anfällen, von
welcher Seite sie auch kommen mögen. Dann erst beginnt die Diskussion darüber in der Kammer selbst und der Antrag wird erst Gesetz, nach 3 Berathungen, von 5 zu 5 Tagen, im Einklange mit dem
Dekrete, welches die Kammer neulich votirt hat. Und die ganze Zeit über ist die Kammer immer noch am Leben, so wie Napoleon und Barrot, und in der Voraussetzung des Lebens so vieler Personen, in der
Unterstellung, daß die Auflösung eines Gemisches von Napoleon z. B., das allein auf physischem Wege, allein durch Adhäsion zusammengekommen, nicht eher von Statten gehen wird — in der
Voraussetzung, sage ich, daß ein tolerirtes Ministerium wie Barrot so lange Stich halten, und daß die Kammer selbst so lange zusammen halten wird, in der Voraussetzung also, daß die aufgelöseste aller
offiziellen Gesellschaften sich nicht eher auflösen wird, faßt die Kammer einen Beschluß über die nahe oder ferne Auflösung ihrer selbst!
Peter Napoleon hat gegen Louis Napoleon, hat für das Fortbestehen der Kammer gesprochen. Das ist Nebensache für uns. Die Hauptsache ist: Montalembert und Odilon-Barrot sind für die Auflösung: ein
Legitimist und ein ehemaliger Orleanist wollen neue Wahlen und eine neue Kammer, und Billault beschuldigt Beide, einen moralischen 15. Mai gegen die Kammer zu beabsichtigen. Am 15. Mai vorigen Jahres
hat das Volk die Bourgeoiskammer gesprengt: sie kam wieder zusammen und rächte sich am Volke durch die Junitage; fortan glaubte sie sich fest konstituirt; sie will sich in Cavaignac inkorporiren; das
Volk sprengt sie abermals, indem es ihr einen feindlichen Präsidenten aufdringt. Durch die Wahl Napoleon's hat das Volk die Kammer moralisch vernichtet; es hat seinen 15. Mai moralisch
vollbracht. Jetzt steht die Kammer auf und beklagt sich, daß man sie moralisch vernichten wolle, und wen klagt die Kammer an? Ihre eigenen Minister, und wer sind die Minister? Mitglieder der
Kammer, unterstützt von einem großen Theile der Legitimisten und Orleanisten. Also die Partei des National, die am 15. Mai vom Volke angegriffen, am 10. Dezbr. vom Volke vernichtet worden ist, sieht
erst ein, daß man sie „moralisch“ vernichten will, nachdem sie bereits vernichtet ist, erkennt erst die ersten Schläge, nachdem sie von der ganz entgegengesetzten Partei gekommen.
Nach Montalembert zerfällt die Kammer in drei Fraktionen; die erste Fraktion will die Auflösung der Kammer, weil sie gewiß ist, wieder einzutreten; die zweite will sie nicht, weil sie bange ist daß
sie nicht wieder eintreten möchte; die dritte Fraktion habe keinen bestimmten Entschluß. Sie glaube sich nicht durch ihre frühern Dekrete gebunden, da ja der konstituirenden Kammer das Recht zustände,
zu binden und zu entbinden. Nach dieser Einleitung und nach Erledigung der Rechtsfrage kommt der Jesuit Montalembert auf die Frage der Delikatesse zu sprechen. Die Kammer brauche auch deshalb noch
nicht auseinanderzugehen, weil sie durch die Wahl Napoleon's zum Präsidenten sich in einer falschen Stellung dem Lande gegenüber befände. Sie habe sich ja vollkommen mit dem Präsidenten
ausgesöhnt und unter der Republik habe die Kunst der politischen Bekehrungen ungemein zugenommen. (Und Montalembert ist der Vertheidiger Barrots!) Montalembert hat sich nicht bekehrt, er ist Jesuit
und zählt sich zu der Fraktion, welche zurückkommen wird. Was bedeutet nach ihm die Wahl Napoleon's? ein courant d'opinion's, ein ungeheurer Windzug zur „Ordnung“.
Und was ist diese Ordnung? Henri V. In einem Punkte hat Montalembert Recht. Das courant ist noch nicht zu Ende, das Volk will immer ein Anderswerden, eine Veränderung und fühlt, daß es das Rechte
immer nicht hat. Ob dieses Volkslaune oder Volkswille sei, ist gleichgültig, das Volk darf sein eigener Arzt sein. Es erhebt Zweifel gegen die Versammlung, gegen seinen Arzt? Um diesen Zweifel als
grundlos darzustellen, sei nichts einfacher als neue Wahlen!
Billault zog aus den Argumenten des Herrn Montalembert, des Vertheiders Odilon-Barrot's, die schärfsten Angriffe auf Odilon-Barrot, und sprach für das Fortbestehn der Kammer. Die Rolle
Odilon-Barrot's war die mißlichste, die man sich denken kann: er mußte sich gegen die zu heiße Vertheidigung Montalembert's vertheidigen; er mußte auftreten gegen seine eigenen Freunde,
und alle Freunde wie Feinde sind einverstanden darüber, daß Odilon-Barrot nie tiefer gefallen ist. Man denke sich einen olympischen Kopf, der eingesteht, daß er den Schnupfen hat! Seine superben
Gesten, seine sonore Stimme, seine ganze Rhetorik ist an diesem Uebel gescheitert! Das Ministerium hat, wie gesagt, gesiegt mit einer Stimme Majorität. Der Antrag Rateau's wird also
einer Kommission vorgelegt werden. Was kann das Leben der Kammer sein, während der Zeit, wo über ihr Leben diskutirt wird? Wir sagen es offen: Ein 15. Mai kann allein die Kammer noch retten vor ihren
Feinden! Ihre Feinde sind eben, wie sie wähnt, Barrot und Napoleon. Die Barrot's und Napoleon's aber sind nicht außerhalb sondern innerhalb der Kammer. Der Sturz der Kammer von außen
behütet sie vor der Gefahr, die ihr von ihren innern Feinden droht.
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Paris, 13. Jan.
Die National-Versammlung hat gestern Abend 8 Uhr mit 404 gegen 401 Stimmen entschieden, daß sie den Rateau'schen Antrag in Betracht zieht. Bei dem gestrigen Votum sind einige Irrthümer
vorgefallen. Es hatten nämlich mehrere Deputirte blau und weiß, d. h. mit blauen und weißen Zetteln zugleich gestimmt, wodurch eine Aenderung in den Zahlen eintreten dürfte. Wie dem auch sei, das
Prinzip der Auflösung ist ausgesprochen und Herr Odilon Barrot kann auf seinen Lorbeeren ausruhen. Sie können sich den Jubel der antirepublikanischen Blätter leicht vorstellen. Von den Debats bis zur
giftigen Opinion herab blähen sie sich mit dem Stimmresultat und ahnen nicht, wie leicht der nächste Sturm alle ihre Hoffnungen auf „Restauration“ zerstören könnte. Die reaktionären
Journale ereifern sich gewaltig gegen Peter Bonaparte (Sohn des alten Lucian), weil er die Anhänger des Rateau'schen Antrages Faktiosen und Rebellen genannt hat.
— Im Augenblick, wo Hr. Barrot in der National-Versammlung Mäßigung und Vertrauen predigte, ließ sein Staatsanwalt zwei Journale „Le Peuple“ und die „Gazette de
France“ in ihren Bureaus und auf der Post wegnehmen.
— Eine Ordonnanz des Finanzministers setzt die Abgaben auf Austern und Seefische herab.
— Die Bäckergesellen-Excesse haben sich gestern in der Rue Sartine (nächst der großen Mehlhalle bei der Post) erneuert. Etwa 150 Gesellen wollten ein dort gelegenes Placements-Büreau stürmen
und zertrümmern, als ein Polizeikommissarius mit starker Bedeckung den Haufen umzingelte und gefangen nehmen ließ.
Die Worte, wobei der Tumult am stärksten losbrach, waren ungefähr folgende: „Zwei Monate sind verflossen seit Proklamation der Verfassung, zwei Monate sind verflossen, seitdem Sie die
wichtige Pflicht fühlten, noch die organischen Gesetze zu ihrem Verfassungswerke hinzuzufügen: ich frage Sie, welches ist das organische Gesetz, das Sie votirt? (Tumult, den endlich Marrast beherrscht
und im Namen der Versammlung erklärt: daß sie das rektifizirte Büdget votirt, eine Menge nöthiger Gesetze votirt und mehrere schwierige Commissionen gebildet habe. Sie sei täglich vier bis fünf
Stunden beschäftigt gewesen) Alem Rousseau zu Barrot: Sie setzen die Nationalversammlung in Anklagestand! E‥…
Barrot: Ich habe gesagt, entschuldigen Sie die Freimüthigkeit meiner Gedanken, ich sage, statt sich ausschließlich mit der Vervollständigung des Verfassungsgebäudes zu beschäftigen ‥…
sind Sie viel mehr mit dem Gouvernement präokkupirt, d. h. mit dem, was außerhalb der Legislation und Ihrer konstituirenden Mission liegt. (Nicht wahr! Nicht wahr! Heftiger Sturm). Ich spreche diese
Worte im Angesichte des Landes und das Land wird uns richten (Tumult). Ich sage, wenn eine derartige Disposition der Geister fortdauert, so ist es unmöglich ‥…
Potalis (vom Juni her bekannt): Machen Sie sich fort. (Dieser Zuruf erregte den stärksten Lärm.) Barrot sprach nur noch kurze Zeit und Portalis wurde zur Ordnung gerufen.
Kurz vor der Abstimmung erhielt Portalis noch das Wort zu seiner Rechtfertigung. Er sagte maliziös: „Bürger! Ich bin zur Ordnung gerufen worden. Ich muß mich erklären. Ich nehme diesen
Ordnungsruf an; aber er hätte den Redner treffen sollen, dem ich folge.“ (Moniteur.)
— Die heutige Sitzung der Nationalversammlung entschied, eine Kommission niederzusetzen, um den Rateau'schen Antrag zu prüfen.
— Lacambre und Barthelemy, zwei Leiter der Junirevolution, von denen Letzterer vorgestern durch die Kriegsgerichte zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurtheilt wurde und Ersterem
wahr- [Fortsetzung]
Hierzu eine Beilage.