Großbritannien.
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] London, 24. Dez.
Wie jedes Mal um diese Zeit, setzt jetzt das Weihnachtsfest alle Welt in Bewegung. Der sogenannte Yule-clog, ein Eichen- oder Buchenstamm, muß im Kamine die
Kohle ersetzen. Spiegel und Schränke werden mit Hülsenblätterlaub geschmückt und über der Thür hängt der berüchtigte missle-ton, ein grüner Zweig, unter dem jeder junge Bursche ein Mädchen umarmen und
küssen darf.
Roast-beef und Plum-pudding fehlen natürlich nicht, und mancher ehrliche John Bull hält es für seine Pflicht, sich in diesen Tagen nach der Väter Sitte einmal von Grund aus an Port und Sherry zu
erholen. In Windsor wird auf dem Tisch der Königin wie immer, ein Baron of Beef aufgetragen, ein Rücken- und Hinterviertel-Ochsen-Stück. Der diesjährige Baron of Beef ist von einem außerordentlichen
Ochsen, der eine Büffelkuh zu seiner Mutter, und einen Ochsen aus Ayrshire zu seinem Vater hat und auf einer flemischen Meierei des Prinzen Albert in der Nähe von Windsor erzogen wurde. Besagter Ochse
war gerade 4 Jahre alt, als er neulich geschlachtet wurde. Man hielt ihn für das schönste Stück Vieh in ganz Alt-England. Der für den Tisch der Königin bestimmte Braten dieses Ochsen wiegt 94 Stein
oder 152 Pfd. und wird 10 Studen lang geröstet werden.
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] London, 25. Dez.
In seiner jüngsten Botschaft äußert sich der Präsident Polk in Betreff des mexikanischen Krieges folgender Maaßen:
„Eins der wichtigsten Ergebnisse des Krieges, zu welchem wir kürzlich gegen eine benachbarte Nation gezwungen waren, ist der Beweis, welche militärische Kraft unser Land besitzt. Vor dem
letzten Kriege mit Mexiko hatten europäische und andere fremde Mächte unvollständige und irrthümliche Ansichten bezüglich unserer physischen Stärke als Nation und unserer Fähigkeit, einen Krieg,
besonders außerhalb unseres Landes, zu führen. Sie sahen, daß unsere Armee auf dem Kriegsfuße nicht mehr als 10,000 Mann betrug. Bei sich gewöhnt, zum Schutz ihrer Throne gegen die Unterthanen sowohl
als gegen fremde Angriffe, große stehende Heere in Friedenszeiten zu unterhalten: glaubten sie nicht an die Möglichkeit, daß eine Nation ohne eine solche wohldisziplinirte und langgediente Armee mit
glücklichem Erfolg Krieg führen könne: Von unserer Miliz dachten sie gering und hielten sie nur für zeitweise Defensiv-Operationen, im Fall unser eigenes Land von einer Invasion betroffen würde, für
anwendbar. Die letzten Kriegsereignisse haben jenen Irrthum beseitigt, der auch in gewissem Grade von einem Theil unserer Landsleute getheilt wurde. Jener Krieg hat dargethan, daß beim Ausbruch
unerwarteter Feindseligkeiten, für die keinerlei Vorbereitungen getroffen waren, in kurzer Zeit und in erforderlicher Zahl eine Freiwilligen-Armee von Bürger-Soldaten ins Feld gestellt werden kann,
die einer Veteranen-Armee nicht nachsteht. Wir waren nicht, wie's in jedem andern Lande vorgekommen wäre, zu Aushebungen oder Konskriptionen genöthigt. Im Gegentheil boten so viel Freiwillige
ihre Dienste an, daß die Hauptschwierigkeit in der Auswahl bestand. Unsere Bürger-Soldaten gehören allen möglichen Gewerben und Lebensbeschäftigungen an. Es sind Farmers, Juristen, Aerzte, Kaufleute,
Fabrikanten, Fabrikarbeiter und Bauern, und zwar in den Reihen der Offiziere, wie der gewähnlichen Soldaten. Unsere Bürger-Soldaten sind bewaffnet und von Jugend auf an Führung der Feuerwaffen
gewöhnt. Ein großer Theil, besonders im Westen und den neuen Staaten, zeichnen sich als erfahrene Scharfschützen aus. Es sind Leute, die durch ihr gutes Betragen im Felde ihren guten Ruf in der
Heimath zu wahren haben.
Sie sind intelligent und in ihren Reihen zeigt sich eine Mannigfaltigkeit der Charaktere, wie nirgends sonst in einer Armee. In jeder Schlacht kämpft ebensowohl der gewöhnliche Soldat wie der
Offizier nicht allein für sein Land, sondern für Ruhm und Auszeichnung unter seinen Mitbürgern, für den Fall, daß er glücklich ins bürgerliche Leben zurückkehrt.
Die Stärke unserer Institutionen hat sich nicht blos durch die Tapferkeit und das Geschick unserer Truppen, sondern eben so in der Organisation jener Verwaltungszweige an den Tag gelegt, die mit
der Oberleitung und Führung des Krieges beauftragt waren. Während unsern Offizieren und Soldaten, die unsere Schlachten ausfochten, nicht hohes Lob genug ertheilt werden kann: wäre es doch unrecht,
die gebührende Anerkennung jenen aus Nothwendigkeit daheim gebliebenen Offizieren zu versagen, denen es oblag, die Armee zu gehöriger Zeit und gehörigen Orts mit der nöthigen Kriegsmunition und allem
übrigen zur Wirksamkeit im Felde unentbehrlichen Proviant zu versehen. Die Anerkennung muß um so größer sein, als noch keine Armee weder in alter noch neuer Zeit besser mit allem Nöthigen versehen
war, als die unsrige in Mexico. Da unsere Armee in einem feindlichen Lande, 2000 Meilen weit vom Sitz der Central-Regierung operirte und die verschiedenen Corps über eine ungeheure Fläche zerstreut
waren und hunderte ja tausende von Meilen von einander entfernt ihre Operationen verfolgten: so bedurfte es ganz der unermüdlichen Energie jener Beamten, um die Armee auf allen Punkten und zur
gehörigen Zeit mit den zum Kriegsdienst erforderlichen Gegenständen zu versorgen ‥…
Der mexikanische Krieg hat demnach die Fähigkeit republikanischer Regierungen bewiesen, einen gerechten und unvermeidlichen Krieg in der Fremde mit all jener Energie zu führen, die gewöhnlich nur
den mehr willkürlichen Regierungsformen beigemessen wird. Der Krieg, den wir 1812 mit England und größtentheils innerhalb unserer Grenzen führten, hellte diesen Gegenstand wenig auf. Aber der Krieg,
den wir eben durch einen ehrenvollen Frieden beendigt: er ist der zweifelloseste Beweis, daß eine volksthümliche Regierung jedem Ereigniß gewachsen ist, das in den Angelegenheiten einer Nation
auftauchen kann. Durch jenen Krieg ist aber noch ein zweiter hervorstechender Charakterzug unserer Institutionen erkennbar geworden: Es ist der, daß wir im Schooße unserer Staatsgesellschaft von
freien Männern, ohne Kosten für die Regierung und ohne Gefahr für unsre Freiheiten, eine stehende Armee von 2 Millionen Bürgersoldaten für jeden gerechten und nothwendigen Krieg bereit
haben.“
Ueber die Resultate des mexikanischen Kriegs enthält die Botschaft folgende Aeußerungen:
„Die großen Resultate dieses Krieges werden für die Zukunft unseres Landes von unberechenbarer Wichtigkeit sein. Sie werden mächtig dazu beitragen, uns vor fremden Collisionen zu bewahren
und uns die Verfolgung der uns liebgewordenen Politik: Friede mit allen Nationen; verstrickende Allianzen mit keiner“ ohne Unterbrechung im Auge zu behalten. Innerhalb 4 Jahren ist die
Einverleibung von Texas in die Union vollzogen, jeder streitige Anspruch auf das Oregon-Gebiet südlich des 49° N. Br. ist beseitigt und Neu-Mexico und Ober-Californien vertragsmäßig erworben worden.
Die Oberfläche dieser Gebiete beträgt 1 Mill. 193,061 Geviert-Meilen oder 763 Mill. 559,043 Acres (Morgen), während die Oberfläche der bisherigen 29 Staaten und des östlich vom Felsengebirge noch
nicht in Staaten organisirten Gebiets 2 Mill. 59,513 Geviert-Meilen oder 1,318 Mill. 12[unleserlicher Text],058 Morgen umfaßt. Die Abschätzungen und Messungen zeigen, daß das neu erworbene Land um die Hälfte größer ist,
als das zuvor von der Union besessene Gebiet. Es kommt dem von ganz Europa gleich, mit Ausschluß Rußlands. Der Mississippi, kürzlich noch die Gränze unseres Landes, ist jetzt dessen Mittelpunkt
geworden. Rechnet man die neuen Erwerbungen hinzu, so sind die Vereinigten Staaten ziemlich so groß, wie ganz Europa. Nach dem Anschlage des Ober-Küsten-Vermessers erstreckt sich die Meeresküste von
Texas im Golf von Mexiko auf mehr als 400 (engl.) Meilen; die Küste von Ober-Kalifornien am Stillen Ozean mehr als 970 Meilen und die Oregon-Küste, mit Inbegriff der Fucastraße, 650 Meil. Die ganze
Ausdehnung am Stillen Ozean beläuft sich auf 1620 M. und diejenige am mexikanischen Golf hinzugenommen, auf 2020 Meilen. Am atlantischen Ozean dagegen erstreckt sich die Küste vom nördlichsten Punkte
der Union rund um das Cap von Florida bis zum Sabinefluß auf 3,100 M., so daß unsere jetzige Seeküste fast 2 mal größer ist, als unsre frühere. Die jetzige Küstenausdehnung unseres Landes ist gleich
5000 (engl.) Meilen. Hierbei sind die Buchten, Sunde und sonstige Unregelmäßigkeiten des Küstenlaufs nicht gerechnet. Denn würde das alles hinzugenommen, so betrüge die Küstenerstreckung 33,063
Meilen.
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] London.
Ein medicinisches Journal, „The Lancet“, berichtet in einer neueren Nummer über das gräßliche Umsichgreifen des Opiumessens unter den arbeitenden Klassen
Großbritanniens. Die Paupers in Lincolnshire geben von einem Wochenlohn von 3 Schillingen durchschnittlich 2 1/2 Schill. für Opium aus, ein Grad von Hingebung an dies unselige Laster, der selbst
Coleridge oder de Quincey (Verfasser der „Bekenntnisse eines Opiumessers“) mit Grausen erfüllen würde. In Irland ist die Consumtion ebenfall s auf schaudererregende Weise im Zunehmen
begriffen. Ein einziger Droguist, ein Bekannter des Herausgebers der „Lancet“, hat in diesem Jahre für 400 Pfund Sterling mehr Opium nach Irland verkauft, als in frühern Jahren. Nach den
in voriger Woche veröffentlichten Berichten des Board of Trade sind bloß im letzten Monat October 8000 Pfund Opium eingeführt worden, was verhältnißmäßig noch kein großes Quantum ist, da es Monate
gibt, in welchen bis zu 32,000 Pfund dieses Lethe's der Armuth importirt werden.
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] London, 25. Dez.
Vice-Admiral Parker wird binnen Kurzem das Oberkommando im Mittelmeer abgeben. Obgleich sonst noch körperlich und geistig gesund, leidet er an den Augrn, deren
immer mehr abnehmende Sehkraft ihm bald im Dienste sehr hinderlich sein würde.
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] Manchester, 23. Dez.
Nach dem lebendigen Geschäft der vorigen Woche, war es nicht anders zu erwarten, als daß es in dieser Woche etwas ruhiger sein würde. Die Vorräthe von
baumwollen Garn und von baumwollen Zeugen sind bedeutend geräumt und Spinner und Fabrikanten rüsten sich zu flotter Produktion. Die Preise der genannten Artikel sind naturlich höher gegangen, und da
die Nachrichten aus Indien und China günstig bleiben, so sieht man einer noch lebendigern Geschäftszeit entgegen.
Denselben Aufschwung hat der Handel in den Woll- und Worsted-Distrikten erfahren. Die Eigner des rohen Materials fordern höhere Preise, und Spinner und Fabrikanten müssen um so williger darauf
eingehen, als sie ziemlich starke Aufträge in Händen haben und bei der frühern schlechten Geschäftszeit wenig in Vorrath arbeiteten.
Französische Republik.
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12
] Paris, 2. Dcbr.
Eine Heerschau über die neuen Minister ist nicht so leicht, als man vermuthete. Außer Odilon-Barrot, der seine Berühmtheit einzig dem Plutarch und dem Aristides
zu danken hat, und den man hinlänglich schon aus der Juli-Revolution kennt, sind die andern nur durch ihre Bekanntschaft mit Thiers und Molé bekannt. Thiers und Molé kennen sie; sie
kennen Thiers und Molé und darauf beruft man sich, um sie dem Publikum als die neuen Minister anzupreisen. Es ist dies eine gute Empfehlung für sie und das Publikum, das Publikum der Bourgeois
natürlich; denn die Proletarier sind wieder unsichtbar geworden, nachdem sie Cavaignac beseitigt und an die Spitze Frankreichs die bürgerliche Nullheit mit Odilon-Barrot an der Spitze gestellt haben.
Was die Partei des Nationals betrifft; so bleibt weiter keiner als Herr Marrast übrig, der als Präsident der Nationalversammlung, dem Präsidenten Napoleon gegenüber, den Republikaner „als
solcher“ vertritt, dabei muß dieser Republikaner als solcher nach jedem Monat sich neuerdings der Wahl unterziehen, um in der Eigenschaft eines Kammerpräsidenten fortexistiren zu können. O
du schöne Zeit, wo neben dem Präsidentengehalte noch eine Beilage von 6000 Fr. bewilligt wurde, damit Herr Marrast glänzende Soirées geben, durch die glänzenden Soirées den Handel und
Wandel befördern, und durch beides die Republik „als solche“ vertreten konnte. Das ist Alles vorbei; und von dem schönen Traume ist weiter nichts geblieben als die Verfallzeit der
Wechsel, welche Marrast und Konsorten neben ihren Gehalten auf die Fortdauer „ihrer Republik“ und ihrer glänzenden Stellungen gezogen hatten. Sie haben ihre schönste Zeit verlebt.
Dagegen taucht Herr von Malleville auf. Was ist dieser Malleville? Minister des Innern! Und worin bestehn die innern Angelegenheiten der Bourgeois? Alle die Präfekten, Unterpräfekten, Kommissarien und
Prokuratoren der Revolution abzusetzen, die zu lange in ihrer Amtswohnung geblieben sein sollten. Aber Herr Malleville wird keine reiche Razzia machen; höchstens wird er einige verlorene Aehren aus
der Februar-Aernte aufzulesen finden. Herr von Malleville ist ein geborner Royalist; aber er hatte sich eines Morgens mit Louis Philipp und mit Duchatel überworfen — die in ihm einen in jeder
Hinsicht untauglichen Beamten fanden, und der mit dem besten Willen, der Politik des Privilegiums zu dienen, weder Talent noch Erfahrung genug besaß, um sich lange halten zu können. Da trat [unleserlicher Text]er denn
in ein Bündniß mit der Partei der Wahlreform und machte sich bemerkbar auf dem Bankett von Chateau-Rouge. In den Februartagen selbst ist er an keinem von den entscheidenden Kampfplätzen gesehn worden;
Alles, was man aus dieser Periode von ihm weiß, das ist seine Bereitwilligkeit, einer Regence zu dienen.
Wer wohnt in dem Hotel „des Capucins“? der Minister der äußern Angelegenheiten! Ein gewisser Drouyn de Lhuys. Wer ist dieser Mann? Ein Franzose würde antworten: parlez au portie[unleserlicher Text]! In
jedem Pariser Hause nämlich ist eine Loge, wo der Pförtner wohnt, und an den man sich wenden muß, ehe man zu den Hausbewohnern gelangen kann. Der Pförtner des Ministeriums ist wirklich in diesem
Augenblicke die einzige Behörde, die Auskunft über den Drouyn de Lhuys geben kann; gerade wie in der letzten Zeit der Herr Guizot, wo der Pförtner des Herrn Guizot allein den mit Telegraphen aus
weiter Ferne her verschriebenen Jayr kannte. — Auch er hatte sich eines Tags mit Guizot überworfen, und da nahm ihn die Partei Odilon-Thiers unter ihre Flügel. Aber Rulhières, der
Ex-Oberst der 35er, das ist der eigentliche Held; er ist bekannt durch seine Schlachten gegen die Emeutiers von Grenoble und Toulouse. Herr Falloux, der Minister des Unterrichts, ist der Auserlesene
aller Sakristeien und der Liebling schwärmerischer Nonnen. Was soll man nun weiter von dem Finanzminister Passy sagen, wenn man weiß, daß selbst ein Fould vorausgesehn, daß mit solchen Ministern
nichts zu machen ist. Fould, den man als Finanzminister vorgeschlagen, ist, wie man weiß, ein Banquier aus grauen Zeiten, und mit den Interessen der kleinern Bourgeois vollkommen vertraut; um so
vertrauter, da, wie man behauptet, das Haus Fould durch seine frühern Zahlungseinstellungen seine Zahlungsfähigkeit gewonnen hat. Mit einem solchen Ministerium ist Napoleon umgeben. Noch sind die
Proletarier unsichtbar geblieben. Man hatte zwischen dem Ochsen und Schurken zu wählen: der Ochse ist gewählt worden, und wenn die Bauern und Arbeiter einst dem Ochsen gegenübertreten, so muß er
entweder scheu oder wild werden. Wird er scheu, ist er gleich verloren; wird er dagegen wild, dann kann er sich einzig nur noch retten, daß er mit seinen wildgewordenen Verfolgern heraustritt aus den
engen Schranken des französischen Gebietes.
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236
] Paris, 26. Dez.
Ledru-Rollin bekam neulich eine Adresse aus dem Königreiche Sachsen, worin es hieß: „Verehrter Bürger und Bruder, Mann des Volkes! Seitdem die
Februarrevolution Sie auf die Scene rief, sehen die deutschen Demokraten mit Freuden auf Sie. Die Theilnahme welche Sie und ein Theil der französischen Nation bei Gelegenheit unsres gemeuchelten
Bruders Robert Blum für Deutschland's Freiheitsstreben an den Tag legten, zeigt wieder, mit welcher Wärme Sie nach der Verbrüderung der Völker trachten. Hiefür unsern Dank, und die Versicherung
unsrer Hochachtung für Sie, für Frankreich's Demokraten und unsre Landsleute zu Paris. Namens des 758 Mitglieder starken Demokratenvereins der Stadt Frenen: Karl Böhme, Präsident. Moriz
Schanz, Sekretär.“
„Es ist gut, bei Jahresablauf die Thaten und Leiden der demokratischen Partei rückschauend zu betrachten (sagt „Le Peuple souverain“ in Lyon), und da finden wir gar jämmerliche
Sünden der Zaghaftigkeit, des schlaffsten Edelmuths, der großherzigsten Gimpelei. Heute ist sie soweit herunter, daß der Soldatenvater Bugeaud an die Alpenarmee von Paris aus einen Tagesbefehl ergehen
lassen kann, worin er von „Ordnung“ und „wahrer Freiheit“ deklamirt, in Phrasen, die buchstäblich in seinen Tagesbefehlen unter Louis Philipp geprunkt haben. Daß dieser
Beduinentriumphator keineswegs den Oestreichern etwas zu leide thun, vielmehr eines heitern Wintermorgens vor Lyon aufmarschiren und etliche Dutzend Bomben auf Frankreich's zweite Hauptstadt
werfen lassen wird, um das verfluchte demokratische Schlangennest zu säubern und Junischändlichkeiten zu wiederholen: das ist uns klar wie zwei mal zwei. Aber wie dem auch sei, diese böse Zeit wird
vorüber gehen, und die Demokraten Deutschland's werden uns nicht im Stich lassen.“ Die Verbrüderung mit letztern ist in der That im besten Gange. Am Sonntag fand endlich das seit jener,
zu
[0978]
Ehren der Wiener Freiheitsmärtyrer abgehaltenen französischen Todtenfeier hieselbst, vorbereitete großartige Bankett der Sozialdemokraten beider Nationen im großen Saale der associirten Köche, unsern
des Bahnhofes nach Versailles, seinen erwünschtesten Ausgang. Das aus Franzosen und Deutschen (Albert Maurain, Journalist, Legier, französ. Arbeiter, Appuhn, Ewerbeck u. s. w.) bestehende Comité
hatte an die Montagne, die demokratischen Blätter, die demokratischen Comité's fremder Nationen, die Klubs Montesquieu und Arbalete, die Arbeiterassoziationen u. s. w. Billete und
Invitationen vertheilt. Den Saal schmückten die beiden Fahnen, und rings auf den Wänden die Namen: L. Blanc, Blanqui, Barbes, Robert Blnm, O'Brien, Messenhauser, Canssidiere, Albert, Raspail.
Die Mehrzahl bestand aus Ouvriers beider Nationen, doch waren auch sehr viele sonstige Beschäftigungen vertreten. Es fanden sich auch an dreißig Bürgerinnen ein, z. B. Madame Adele Equiros, welche
ihren Toast dem Comité vorher eingesandt hatte und der von B. Maurain unter großem Beifalle verlesen ward: „auf die Emancipation des gesamten menschlichen Geschlechtes.“ Equiros
selbst, dieser wackere Freiheitsheld, muß seit Juni sich verborgen halten. B. Legier sprach:„ auf ein demokratisch-soziales Deutschland“ und B. Appuhn erwiderte: „auf ein
demokratisch-soziales Frankreich.“ B. Ewerbeck:„auf intellektuelle, moralische, materielle Verbindung Frankreich's mit Deutschland;“ B. Hervé, Präsident des
Revolutionsklub im Saal Montesquieu: „auf unsre germanischen Brüder;“ B. Kowalski, polnischer Student, auf Einigung Deutschland's und Frankreich's mit Polen.“
B. Rufoni, (Sekretär des demokratisch-italienischen Comité's und Korrespondent Mazzini's, mit dem er in Mailand die jetzt in Florenz von Mazzini wieder projektirte „Italia
del Popolo“ geschrieben hatte) sprach einen Protest gegen die Invasion Frankreichs, im Bunde mit Neapel und Ollmütz, wodurch Meister Thiers den Pabst und die vierundvierzig Kardinäle wieder
installiren will; B. Schmitz, deutscher Arbeiter, sprach über die Nothwendigkeit einer energischeren Propaganda als bisher; Kapp sprach einen Toast auf die Revolution; A. Mauvain auf die Amnestie der
Junimänner, die (beiläufig bemerkt, an Zahl dreitausend dreihundert und nicht 10,000,) welche in den Schiffen systematisch krank gemacht werden, damit sie, begnadigt, nicht mehr „viel
schaden“ können, so daß die zu Galeeren verurtheilten zu beneiden sind. Die französischen Gedichtdeklamatoren und die Sängerchöre der deutschen Arbeiter trugen ungemein viel zur Verschönerung
des Festes bei; man sammelte für die Junimänner, und ging, die Marseillaise singend, nach vierstündiger Sitzung auseinander. Aehnliche Bankette organisiren sich jetzt für jeden Sonntag auf den
Barrieren. Gestern war im Valentino das Bankett sozialdemokratischer Frauen; es hatte mehr poetisch-religiöse Färbung; Simon Bernard sprach „auf Frankreich, den Weltheiland,“ Hervé
„auf St. Just, den Freiheitsmärtyrer des vorigen Jahrhunderts,“ mehrere Mädchen „auf Weihnachten und Christus,“ „auf die Religion“ u. s. w. Im Wintergarten
endlich fand ein Abendfest „der Gleichheit“ statt, wo die deutschen Arbeiter-Sänger mit der deutschen Fahne mitwirkten und mit Hurrah empfangen wurden. — Ein schätzbarer Vorschlag
ward von Dr. med. Küntzli, einem Schweizer der viele Felddienste gethan, der Kammer gemacht. In Paris solle eine spezielle Sanitätsabtheilung im Ministerium des Innern errichtet werden. Ein pariser
Centralrath, zwölf Mitglieder vom Minister (darunter sechs Aerzte, sechs Nichtärzte) zu ernennen; in jedem Departementshauptort einer von sechs, in dem Bezirkshauptort einer von drei Mitgliedern, die
mit dem Centralrath unaufhörlich korrespondiren, über Spitäler und sonstige Heilanstalten die Aufsicht führen, den Gratisdienst bei den unbemittelten Patienten organisiren u. s. w.
Die „Revolution Democratique“ spendet das gebührende Lob, bemerkt aber, daß unfehlbar auch dieser Vorschlag in den Bleikammern der Kammerkommissionen à la Louis Philipp erwürgt und
eingesargt werden würde, da „Frankreichs Republik ja mit vollen Segeln auf dem todten Meer der verstocktesten Königthümelei umherfährt.“ Die „Republik in Gefahr“, ein
Hymnus von Louis Festivau, wird unter ungeheurer Sensation bei jedem Bankett vom Verfasser gesungen und Alles stimmt in den Refrain: „Republikauer! Republikaner! rettet, rettet die
Republik!“(républicains, républicains, sauvez la république); Girardin wird darin als „Trichardin“ d. h. Betrüger und Fälscher, dargestellt, die Goldverscharrer als
Vaterlandsverräther, die Minister aus der Thiers-Barrotschen Klike als Judas Ischarioths, und an das Proletariat appelliert. Das Lied „Vaterland in Trauer“ von Lemoyue elektrisirt die
Zuhörer durch Strophen wie: „Einst zogen Frankreichs Söhne, die Söhne der ersten Republik, im Sturm herbei wenn das feindliche Europu auf germanischem Boden sich zum Kampfe stellte und alle
wuthheulenden Könige von Gottes Gnaden mit ihren abgerichteten Gardeknechten losfuhren, ha, diese Könige schlug unsre erste Republik sämmtlich nieder, ha diese Könige brüllten und ächzten und
winselten, und krochen zitternd auf den sonst so steifen Knieen und flehten um Gnade unsere erste Republik an.“ —
Und so ist es; der heilige Haß glüht in unlöschlichem Feuer; die Legitimistensippschaft und die Finanzbande werden dem Gerichte des Volkes nimmer entrinnen. „Die ketzigen Kavaliere von der
schneeweißen bourbonischen Lilie, diese miserabeln Träbern des Orleanismus de anno 1720 und des Koblenzerthums de anno 1796, geistig und moralisch wurmstichige Verführer und Kartenschläger, windige
Junker, die auf der Börse spielen um Abends bei den Operndamen den Matador zu spielen; diese literarischen Verhöhner des Arbeitsrechts werden sich nie zur Vernunft bekehren; St. Just hat ganz richtig
prophezeit. In Orleans haben sie 1815 einen Musikdirektor vor's Gericht geschleppt und kassirt, weil er angeblich, während der von ihnen auf offenem Markt bewerkstelligten Prozession und
Zertrümmerung Napoleonischer Brustbilder, ein nicht hinlänglich heiteres Musikstück hatte ausführen lassen. Demokraten von 1848! ihr wißt was der weiße Schrecken war, den sie über uns damals
brachten; wenn wir noch einmal den rothen organisiren müssen, so sei er definitiv.… Uebrigens ist nichts einfacher als diese Alternative: entweder sie oder wir. Oder
meint ihr, sie hätten von ihrer damaligen kanibalischen Wüstheit etwas verloren? Damals liefen sie, als Nationalgarden in Orleans, Sturm gegen Napoleon's Bildsäulen von Marmor und Gips,
zerbrachen mit Bajonetstößen seine Porträts, warfen dies in ein Feuer auf den Markt, und die durch Polizeidiener gesammelte Asche in die Loire; der hohe Gerichtshof in scharlachenen Festgewändern und
scharlachenen Mützen stand jubilirend dabei. Und dieses Gelichter, was damals: nieder mit dem Menschenwürger Bonaparte, schrie, schreit heute: hoch der Präsident Bonaparte. Wehe dem Demokraten, der
das Gedächtniß verlöre. (Citoyen de Dijon.)
Zum Schluß eine kleine Hanswurstiade: Alexander Weill kündigt sein neuestes Musenprodukt im „Corsaire“ (dem bekannten Schandblatt, woran er mit arbeitet) an wie folgt: „Ehre
den edeln Seelen, den Mannesherzen, den muthigen Gemüthern (man denke sich den p. p. Weill mit diesen 3 Qualitäten behaftet:) die Frankreich aus dem Abgrunde retten, worin es seit Februar durch eine
Minorität gestürzt ist. …“ Unter diesen kühnen Vertheidigern unserer Unabhängigkeit ist A. Weill zu nennen, der, wie er selber eingesteht, einst im Jugendsturme seines unerfahrenen
Lebens revolutionär gesinnt, dann aber bald erkannte, daß dies Wort: Revolution, nur deshalb so tönend sei, weil e[unleserlicher Text] hohl. Weill hat am Tage des Sieges mit Fug die sogen. demokratische Sache verlassen
und eingesehen, daß unter der Herrschaft der Minorität Frankreich zu Anarchie und Despotie gelange:“. Die neue Broschüre des Herrn Weill räth dem Präsidenten, die Kammer — zu entlassen;
das ist des Pudels Kern, und der Herr Weill, dieser „aufrichtige Gegner des droit au travail“, wie er sich selber zu nennen beliebt, hat jedenfalls wieder klingende, blanke Gründe dazu,
sowie zu den Notizen, die er an Girardin's „La Presse“ über Deutschland liefert, z. B. in der gestrigen Nummer: „Der Berliner Polizeipräsident publizirt ein Reskript, um
eine Untersuchung gegen alle Justizbeamte einzuleiten, die aus Feigheit oder aus Vorsatz nicht pflichtgetreu gegen die Anarchie im Moment der Gefahr auftraten, und wovon sich, seit dem Verschwinden
derselben, einige sehr muthvoll zeigen. Alle diese Beamte werden abgesetzt und als incapacités bezeichnet werden.“ In einer frühern Nummer wurden der deutschen Polizei weise Winke ertheilt.
Gegenüber dieser Fäulniß ruft „Demokrate constituant“ in Toulouse: „Laßt es nur wirbeln, dies elende Geschmeiß, wir zünden einst ein Feuer an, daß sie sammt der Brut
ersticken, und wer überlebt, den stoßen wir mit Fußtritten dermaleinst durch die ganze Republik bis unter den Galgen; diese Girardin's, diese Cassagnac's, diese Delamare's
(Besitzer der „Patrie“), diese Birmaitre's (vom „Corsaire“) werden ein Ende mit Heulen und Zähneklappern nehmen, denn das nächste Mal, da treten wir auf wie
1793.“
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Paris, 26. Dezbr.
Der Moniteur ist heute nicht erschienen. Ebenso fehlen La Presse, L'Union, die alte Gazette, Assemblée Nationale und einige andere weltbeglückende obscure
Blätter.
Auch der Proudhon'sche Peuple macht heute — wahrscheinlich aus ökonomischen Gründen einen Feiertag.
— Die englischen und italienischen Posten sind (bis Mittag) ausgeblieben. Wir befinden uns daher ohne Depeschen aus Rom und Turin. Ein undurchdringlicher und höchst ungesunder Nebel lagert
über Paris und dem Seinethale, der alle telegraphische Verbindung unmöglich macht.
— Das Journal des Debats findet die heutige politische Lage Frankreichs genau wie vor dem Februar 1848 und es scheint, als ob Herr Bertin eine neue Explosion fürchte.
— Heute also legt Hr. Barrot sein großes politisches Programm unter Augen der Nationalversammlung. Ebenso vernehmen wir so eben (12 1/2 Uhr) daß das Ministerium wegen der Ernennung des
Marschalls Bugeaud zum Oberbefehlshaber der Alpenarmee, so wie des dreifachen Kommandos des Generals Changarnier halber scharf interpellirt werden soll.
— Guizot's von uns schon früher angekündigtes Buch: La Democratie en France, ist so eben im Buchhandel erschienen. Wir werden wohl Gelegenheit finden, dasselbe zu lesen und kommen
später darauf zurück.
— Die Kabinetsräthe folgen rasch aufeinander. In dem gestrigen erklärte der Präsident Bonaparte mit vieler Entschiedenheit, daß er auf einer allgemeinen Amnestie bestehe. Die Minister
(natürlich mit ihrem Sarastro Thiers im Hintergrunde) widersetzten sich jedoch mit weniger Ausnahme einer allgemeinen Amnestie und es soll zu so heftigen Debatten gekommen sein, daß man heute früh von
offenem Bruch im Kabinete sprach. Alle Welt ist darum doppelt auf die National-Versammlung gespannt, die in zwei Stunden nach viertägigen Feiren wieder zusammen tritt.
— Lucian, Napoleon Bonaparte, Bruder des obigen Republikaners und jüngst erst von Corsika in die Nationalversammlung gewählt, ist in Paris eingetroffen.
— Das Verbrüderungsbanket der deutschen und franz. Demokraten hat gestern stattgefunden.
— Nationalversammlung. Sitzung vom 26. Decbr. Anfang 2 Uhr. Präsident Marrast.
Die Bänke und Galerien übervoll. Auf allen Gesichtern brennt Neugierde auf das ministerielle Programm und die heftigen Debatten, die sich daran knüpfen dürften.
Nach Vorlesung des Protokolls trägt Marrast das Schreiben eines Deputirten der Gironde vor, Namens Lübbert, der seine Demission gibt, weil er das Mandat der Nationalversammlung als beendet
betrachtet.
An der Tagesordnung steht zunächst die Diskussion über die Frage: ob und wann die Salzsteuer aufgehoben werden könne? Dieser Artikel, der in der Landwirthschaft eine Rolle spielt, bringt jährlich
der Staatskasse die Kleinigkeit von 28 Millionen Franken, welche die Regierung anderweitig decken müßte, falls sie ihn verlöre.
Arond erhält zuerst das Wort. Ihr wißt, sagt er zu den Bürgervertretern, daß ein Dekret der provisorischen Regierung vom 15. April die Salzsteuer radikal abschaffte. Goudchaur widerrief
dasselbe am 28. August und Trouvé Chauvel, Finanzminister, legte der Versammlung ein Dekret vor, das eine Art Uebergangsbrücke von der gänzlichen zur allmäligen Abschaffung schuf. Auf diese Weise
wurde der Landwirth hinter das Licht gefuhrt. Der Redner entwickelt dieses Manöver ziemlich weitläufig und tragt unter allgemeiner Unaufmerksamkeit auf gänzliche Abschaffung der Steuer an.
(Unterbrechung.)
Hier besteigt der Conseilpräsident und Justizminister Odilon Barrot die Bühne, um das heißerwartete Programm vorzulesen.
Odilon Barrot: (Stille) Bürger! Sie vernahmen dieser Tage eine Rede des Präsidenten der Republik. Der Gedanke dieser Rede ist der unsrige. Wir nehmen in Rücksicht auf das Land dieselbe
Verpflichtung über uns. Sie erwarten von uns keine Erörterung der Lage der Republik. Wir sind noch zu kurze Zeit an der Staatsgewalt. Was wir Ihnen schulden, ist eine Auseinandersetzung unserer
Grundsätze, die bei Bildung des Kabinets vorwaltete. Unser Ursprung ist verschieden, aber die Volkswahl vom 10. Decbr. gab ein Streben nach Einigkeit Aller kund. Es wäre unklug, einem solchen Streben
zu widerstreben; dasselbe bezeichnet die Sehnsucht nach materieller und moralischer Ordnung. Man will Ordnung auf der Straße (place publique) und in der Staatsverwaltung. Die republikanische
Regierungsform kann sich so lange nicht festsetzen, als die revolutionäre Periode nicht definitiv geschlossen. (Beifall zur Rechten.) Wir wollen daher selbst den Gedanken zur Unordnung entmuthigen.
(Nous voulons decourager jusqu' à la pensée du desordre.) Das wird das letzte Mittel sein, die Bestrafung des Uebels selbst zu verhüten, welche immer beklagenswerth ist. Nach so vieler
Agitation, welche die Gesellschaft bis in ihre Grundfeste erschutterten, fühlt Jeder das Bedürfniß, die nächste Zukunft zu sichern (assurer le lendemain). Diese Conformität der Ideen wird die Arbeit
befruchten, Vertrauen und Kredit wieder hervorrufen. Schon sind günstige Zeichen vorhanden, Hoffnungen zeigen sich und man glaubt an deren Erfüllung. (Zweideutige Bewegung im Saale.) Wie der
Privatverkehr, so hat auch der Staaatshaushalt bedeutend gelitten; die öffentlichen Hilfsquellen sind sehr angegriffen und erschöpft. Der Schatz hat Verbindlichkeiten eingehen müssen. Man muß sie
lösen und alle Verbindlichkeiten erfüllen. Das Kabinet hat sich dieser wichtigen Mission hingegeben. Wir wollen keineswegs, daß der Staat seine Hand von den Wohlthaten zurück ziehe, die er begonnen.
Die Staatsgesellschaft hatte nun einmal die üble Gewohnheit angenommen, sich auf ihre Regierung zu verlassen, daher die Sucht nach Staatsstellen, die Vermehrung der Aemter bis ins Unendliche und die
Verdorbenheit der vorigen Staatsverwaltung. (Monarchie.) Die Republik darf diesen Mißbrauch nicht fortdulden. Die Regierung muß mit gutem Beispiel vorangehen.
Was unsere Beziehungen zum Auslande betrifft, so legen uns die Verwickelungen, welche von allen Seiten ausbrechen, gewissen Rückhalt (reserve) auf, Sie begreifen dies. Wir sind entschlossen, das
Wort Frankreichs nicht leichtsinnig zu geben, aber wir versichern Ihnen, daß die Nationalehre den ersten Platz in unsern Beschlüssen erhalten wird. (Beifall zur Rechten.) Wir werden kein Interesse
Frankreichs vernachlässigen. Die Volkswahl vom 10. Decbr. hat eine immense moralische Macht in die Hände der Regierung gelegt. Wir werden davon Gebrauch machen. Wir rechnen auf Ihren Beistand, um
unsere Pflicht zu erfüllen. (Beifall zur Rechten.)
Einige Agitation im Saale.
Ledru Rollin, nachdem sich die Bewegung gelegt, erscheint auf der Buhne und klagt die Minister an, daß sie in die Hände eines einzigen Mannes, des Generals Changarnier, den Befehl über 2 bis
3 malhunderttausend Mann Truppen gelegt hätten.
(Der B[unleserlicher Text]rg applaudirt.) Der Redner schließt mit der Erklärung, daß er durch diese Maaßregel die Freiheit und die Verfassung verletzt sähe.
Leon de Maleville, Minister des Innern, erwidert ihm sarkastisch, daß ihn die heutigen Skrupeln des ehemaligen Provisorischen Regierungsgliedes freuten; daß es sie aber nicht immer gehabt
hätte. Seiner Ansicht nach, müßten die Militärkräfte in starker Hand concentrirt werden.
Allem Anscheine nach wird sich eine immense Mehrheit zu Gunsten des neuen Ministeriums aussprechen.
Eine neue große Aufregung folgte der Rede des Ministers des Innern in Widerlegung Ledru Rollins.
Charles Dain (vom Berge), eilt auf die Bühne, um Ledru Rollin's Protest gegen die Uebergewalt Changarnier's zu unterstützen.
Allein das Haus leiht ihm keine Aufmerksamkeit, auf allen Bänken entspinnen sich Privatunterhaltungen. Marrast schellt und klopft mit dem Papiermesser auf den Büreautisch. Alles vergebens. Dain
sehend, daß ihn die Versammlung durchaus nicht hören will, verläßt unter allgemeinem ironischen Beifall die Bühne.
Zum Schluß! Zum Schluß! erschallt es von allen Bänken.
Degoussée und Ducoux schlagen eine motivirte Tagesordnung vor, deren Text wir jedoch wegen des Geräusches nicht verstehen. Er lautet ungefähr folgendermaßen:
„Die National-Versammlung erklärt sich durch die angehörten Erklärungen des Ministeriums, dem General Changarnier auf unbestimmte Zeit den Oberbefehl über Bürgerwehr, Mobilgarde und die
erste Militärdivision anvertraut zu haben, zufriedengestellt und geht zur Tagesordnung über.“
Mehrere Stimmen rufen: Einfache Tagesordnung!
Marrast: Der einfachen Tagesordnung gebührt der Vorrang, ich bringe sie zur Abstimmung.
Es erhebbt sich fast die ganze Versammlung dafür. Mithin ist die einfache Tagesordnung angenommen und das Interesse der Sitzung erledigt.
Starke Gruppen bilden sich um die Ministerbänke. Man gratulirt ihnen zu Ihrem Siege.
Marrast verliest mehrere Kreditvorlagen für Polizeidienste etc.
Die Sitzung wird um 5 Uhr weniger zehn Minuten aufgehoben.
Italien.
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Ein Livorneser Journal vom 19. Dec.bringt die (wenn sie wahr ist) äußerst wichtige, ihm angeblich so eben mit einem Dampfschiff zugekommene Nachricht, das römische Ministerium
habe in Masse abgedankt. Bestätigt sich dieselbe, so kann sie nur die Vorläuferin der Republik zu Rom sein. Die römischen Zeitungen vom 16. lassen beide Ereignisse, die Abdankung des Ministeriums und
die Ausrufung der Republik, vorempfinden. Der „Conte[unleserlicher Text]poranev“ sagt: Warum ist die römische Constituante noch nicht berufen? Es ist unmöglich, daß der gegenwärtige Zustand der Dinge
andauert. Ohne einen freisinnigen Papst oder eine Republik kann Rom nun und nimmer wahrhaft groß werden. Die provisorische Regierung und die Constituante können uns beide nur zur Republik führen. Die
Situation läßt sich etwa so resumiren: Das römische Volk wolle die Unabhängigkeit und die Freiheit, und in wenig Tagen wird es das Pabstthum an der Spitze der Demokratie oder die Demokratie ohne das
Pabstthum haben.
Auch der Circolo Popolare hat einen Erlaß veröffentlicht, worin er als einziges Mittel gegen den augenblicklichen Zwischenzustand und die Anarchie, welche demselben unfehlbar entspringen müsse, die
schleunigste Berufung einer aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen Constituante empfiehlt.
Der geheime Ausschuß von Parma, Piacenza, Modena und Reggio hat an die Einwohner dieser Herzogthümer eine Proklamation erlassen, worin er sie einladet, sich bereit zu halten. Diese
Proklamation, welche die nahe bevorstehende Erneuerung der Feindseligkeiten durch Karl Albert als gewiß hinstellt, schließt mit den Worten: Die Bevölkerung von Rom, von Neapel, von Toskana wird sich
auf Oestreich stürzen; aber sobald der Kampf beginnen wird, ist es eure Sache, den Andern zu zeigen, wie man sein Vaterland liebt, wie man sich schlägt und wie man triumphirt.
Die gestern als Gerücht von uns gegebene Nachricht von der Einnahme von Malghera durch die Oesterreicher hat sich als falsch erwiesen.
Zu Genna fand am 19. eine imposante Demonstration zu Ehren des neuen Ministeriums und des zu Genna anwesenden Ministers Buffa statt.
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Ueber Reichkommissaire.
Herr Simson, Tribunalsrath, Professor, Vicepräsident der deutschen Nationalversammlung und Reichskommissair, eine Aemterkumulation in einer Person, die den vielseitigen Talenten des Mannes
entspricht, hat in Berlin vorzüglich eine Eigentschaft entwickelt, die überhaupt der zweiten Klasse der Reichskommissaire, nämlich den ohnmächtigen, eigenthümlich zu sein scheint: er ward beständig
perplex.
Herr Simson lud mit jener edlen Würde, die er in Gagern kennen lernte und seitdem nach Kräften kopirt, die verschiedenen Fraktionen der in Berlin forttagenden Nationalversammlung zu einer
Besprechung ein. Die verschiedenen Fraktionen wählten durch Stimmzettel, eine jede drei Deputirte. Unter den Gewählten befanden sich auch Jakoby und Kosch.
Der geistvolle Reichskommissair erklärte den Versammelten, er werde nunmehr vermitteln, und — falls dies nicht gelänge, entscheiden. Nach diesen Worten entstand große Unruhe, und man fragte
den bescheidenen Redner, wie dies zu verstehen sei.
Herr Simson ward hier zum ersten Male perplex und sagte, er meine damit, er würde, falls die Vermittelung mißlinge, an die öffentliche Meinung in Deutschland appelliren, die doch hoffentlich auch
noch eine Macht sei. Welch' schnelle Metamorphose!
So wird der Sturm, der eben noch getost,
Zum sanften Zephyr, der um Blumen säuselt.
Die Deputirten der verschiedenen Fraktionen erklärten darauf, sie seien nach einem solchen Eingange zu einem Beschlusse im Namen ihrer Fraktionen nicht bevollmächtigt. Nur Jakoby erklärte im Namen
seiner Partei für jeden Fall zu der Antwort bevollmächtigt zu sein, daß sie weder Hrn. Simsons Vermittelung noch Entscheidung wolle.
Uebrigens muß ich Dir erklären, sagte hierauf gelegentlich Simson an Jakoby gewendet, daß unsere politischen Ansichten einander diametral entgegengesetzt sind.
Gottlob, Simson, antwortete Jakoby ruhig.
Herr Simson ward hierauf zum zweiten Male perplex.
Kosch fragte daranf Herrn Simson, ob er nicht über die Angelegenheit der Nationalversammlung schon mit dem Minister-Präsidenten, Graf Brandenburg, konferirt habe, und auf Simsons Bejahen, was denn
dieser zu der aufgestellten Alternative, Vermitteln oder Entscheiden gesagt habe.
Hier ward Herr Simson zum dritten Male perplex.
Die Thätigkeit des Herrn Simson als Reichskommissair in Berlin scheint demnach ganz jenem Titelblatte einer juridischen Abhandlung zu gleichen, da er dereinst vor einem Decennium zum Jubiläum eines
Tribunalsrath denselben mit einer Dedikation überraschte, während der Jubilar und die Welt auf die Broschüre selbst heute noch vergeblich warten.
[(R. K. Z.)]