[Französische Republik]
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letzer der Moral, Ruhe und Ordnung „und Aufreizer zum Klassenkriege“. Die Stockung des Handels und Wandels wird auf spezielle Rechnung der Klubführer geschoben; Cavaignac
ist der würdige Schulmeister des deutschen Reichsverwesers („Vikar des Reichs“, wie er auf französisch heißt, welches Wort ganz abscheulich pfäffisch klingt, so daß ein unschuldiges
Provinzialphilisterblättchen noch neulich ihn eineu österreichischen Erzherzog und „Kirchenfürsten“ nannte. Der witzige „Democrate constituant“ in Toulouse meinte: dieser
vicaire of Germanie werde wohl bald noch trübere Tage bekommen als Goldsmith's vicaire of Wakefield). Richt widerlegt hat Cavaignac die Behauptung, daß er dem Reichsvikar persönlich geschrieben
und nach der frankfurter Barrikadenbataille zur scheunigsten Niederdrücken der deutschen Klubs und Associationen gerathen.
Neulich empörte sich des edlen Generals Tugendsinn, als es hieß, er habe Vater Windischgrätz beglückwünscht, und der „Moniteur“ nannte dies „eins jener erbärmlichen Gerüchte,
die man gegen den Chef der Exekutive ausstreut“. Aber diese mürrische Widerlegung ward sehr übel von den Provinzialblättern aufgenommen; der „Peuple souverain“ von Lyon erklärte
es für gerade wahrscheinlich, daß, wer „einem habsburger Erzherzoge“ familiären Rath zum Erwürgen der revolutionären Errungenschaften ertheilt, auch eiuem „östreichischen
Bombardirer“ Freundesbriefe schreibe, Cavaignae werde ohnehin, dem Charakter und der Aufführung und der Gesichtsform nach, von Berlin's Demokraten mit einem großen Hühnerhuude
verglichen, was zweifelsohne sehr schmeichelhaft sei für den höchstgestellten Bürger der französischen neumodischen Republik. Der hastige rührende Beistand, den der Beduinensieger Knall auf Fall dem
Pio Nono angedeihen läßt, nachdem Nord- und Süditalien seit März vergebens auf französischen Beistand gegen die gekrönten Schurken und gemästeten Börsenbuben geharrt hat, erregt „einen an
Erbrechen gränzenden Abscheu in der gesammten Demokratie zwischen Rhein und Pyrenäen“, sagt „Peuple souverain“: „nichts schauerlicher für uns Frankogallier, als verlacht zu
werden, das erregt unser Nervensystem in den Grundtiefen, das bricht unsre Kraft, das wirft uns auf's Siechbett, das ist mehr als wir erdulden können, und nähmen wir unsre ganze Philosophie vom
vorigen und diesem Jahrhundert zu Hülfe. Wir lachen so gern! Aber uns blamiren und verlacht werden müssen, nein, das ist zu arg, und die uns blamirende Staatsgewalt wird bei Gott! nicht wieder mit
Lachen gezahlt werden. Cavaignac der Große hat uns blamirt vor Gott und Welt; er will die Stimmen der Pfaffen erschleichen, das ist Alles. Ach wie verächtlich ist dieser Soldat des Papstes! Nicht als
liebten wir Pius IX. nicht, er ist uns immerdar werth als der erste und einzige Fürst Europa's, der aufregeud handelte in jener schweren dicken Luft der Juliepoche. Aber unsre Schuld ist es
nicht, wenn der sonst so würdige Mann in schlechte Gesellschaft gerieth, und sich durch Schufte und Fanatiker, die Metternich besoldete, in's Bockshorn jagen ließ.“
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12
] Paris, den 1. Dezember.
„Kanonendonner und Glockengeläute“ — wie zu Zeiteu des hochseeligen Reichsverwesers Johann, als er seinen Einzug in Frankfurt hielt. Kanonendonner und Glockengeläute!“
— der Papst kömmt nach Paris! — und das ganze Bourgeois-Paris und die ganze Cligue Cavaignac's und des National ist im Entzücken.
Der heilige Mann kömmt nach Paris und bringt den Franzosen das schönste Weihnachtsgeschenk mit. Der heilige Mann hat den Präsidenten in der Tasche; sobald er nach Paris kömmt, wird er ihn aus der
Tasche herausholen, und die Franzosen damit beschenken. Kann man vom heiligen Christ ein schöneres Weihnachtsgeschenk bekommen als Cavaignac, und hat Cavaignac nicht Recht, wenn er aus der Ankunft des
Hohenpriesters ein Weltereigniß macht? Der Papst kömmt und bringt Cavaignac als gebackenen Brezel-Präsidenten mit. Er flieht aus Rom, der Hauptstadt der katholischen Welt; er flieht aus Rom, und kein
Römer kräht nach ihm. Cavaignac, der gallische Hahn, schnappt nach ihm, und die Franzosen empfangen ihn, wie den Erlöser — Cavaignac's. Der Papst hätte statt nach dem verworfeuen Babylon
eben so gut nach Jerusalem, nach Syrien, nach Spanien, mit einem Worte in irgend ein beliebiges anderes Land hinziehen können. Denn die katholischen Gesandten stellen ihm Alle ihre Schiffe zu Gebote
— aber nein, der Papst geht nach Paris, und will dem Cavaignac „ein heiliges Christkindchen,“ mitbringen: das schönste Weihnachtsgeschenk, das es geben kann, die
Präsidentenschaft. Und Cavaignac eilt sich den heiligen Mann mit der Präsidentenschaft in der Tasche in Beschlag zu nehmen, trotz Jerusalem. Sion verhülle dei Angesicht. Paris verbirg deine Grisetten!
Der heilige Mann ist bereits, wie es heißt, in Marseille gelandet. — Während in Paris feierlich die Glocken ertönen, zu seinem Empfang, rauscht die Kriegstrommel in der ehemals heiligen
Roma.
Im ganzen Kirchenstaate herrscht völlige Gleichgültigkeit bei der Abreise des ehemaligen Weltbeherrschers, welcher Könige und Kaiser zu seinen Füßen liegen sah. Prinzen, Adlige, Kardinäle und
selbst die Schweizer — Alles ließ ihn im Stich. Kein Auge netzte sich um den heiligen Vater, den man unlängst noch als Reformator begrüßte. Nachdem er nach langem Widerstreben endlich seine
Unterschrift unter die neue Minister-Liste gesetzt, die anfänglich so sehr seinem Gewissen widerstrebte, rief er aus: „Ich will mein Gebet, das ich unterbrochen, fortsetzen; sie bedürfen so
sehr des Gebetes.“ Kein Mensch kümmerte sich um das Gebet; kein Mensch um die Flucht des heiltgen Vaters. Pius IX. stand da wie Louis Philipp! Die neuen demokratischen Minister erhielten in der
römischen Kammer ein Vertrauensvotums, ganz wie in Paris, ganz wie der Bourgeois Cavaignac, und dem heiligen Vater bleibt weiter nichts übrig, als dem Generale, dem „künftigen“
Präsidenten zur Reklame, zum Puffe, zum Aushängeschilde zu dienen. Doch damtt ist die Sache noch nicht am Ende.
Wie man weiß, kann man nicht von Cavaignac sprechen, ohne Bonaparte mit zu nennen. Bisher kannten wir nur die beiden Bonaparte's in der Kammer, mit dem Louis Napoleon an der Spitze. Jetzt
aber wird die Sache noch drolliger. In Rom gibt's auch einen Bonaparte, das ist der Prinz von Canino, Bruder des Peter Bonaparte, der in der französischen Kammer sitzt, Beide sind Söhne
Lucia's. Dieser Prinz von Canino nun hat seinem Bruder Peter und seinem Vetter Louis Napoleon einen entsetzlichen Strich durch die kaiserliche Rechnung gemacht, ohne es zu ahnen. Der Prinz von
Canino nämlich war's, der in Rom an der Spitze der Verschwörung stand, mit Flinte und Pistole, und direkt auf die Wohnung des Pabstes drang, mit dem Rufe: „Es lebe die Republik.“
Peter Napoleon in seiner Einfalt hat selbst die Stelle aus dem italienischen Journal übersetzt, welches die Heldenthaten seines Bruders erzählt, um dieselben der französischen Kammer durch Poujoulat
zur Kunde zu bringen. Nuu denke man! Die Ankunft des Pabstes, wie wir gestern gesehn, schadet dem Napoleon eben so sehr, wie sie dem Cavaignac nützt. Denn sie führt letzterm die Stimmen der
Geistlichen und der Bauern zu.
Also der Prinz Canino selbst, der Bruder Peter's und der Vetter Louis Napoleon's, schickt seiner Familie den Teufel in Gestalt des Pabstes auf den Hals. Der Deus ex machea für
Cavaignac wird der Diabolus für Napoleon. Indem die Napoleon'sche Familie der demokratischen Sache förderlich war, hat sie der kaiserlichen ungemein geschadet. Der arme Louis hat von seinem
eigenen Vetter einen Hauptstoß erhalten. Gott bewahre uns vor unsern besten Freunden.
Trotz dieses augenblicklichen Mißgeschickes für die napoleonische Partei, trotz aller Empfehlungsschreiben von Pabst, Gott und König (man läßt in der Bretagne einen Brtef Louis Philipp's
cirkuliren, worin letzterer sich als reuigen Sünder darstellt, und seinen ehemaligen Mitbürgern dringend die Wahl Cavaignac's anempfiehlt), trotz aller dieser Mittel, sage ich, wird Cavaignac
nicht durchdringen. Thiers und Girardin, der Constitutionnel und die Presse — dazu die demokratischen und die bonapartistischen Klubs, und vor allem, der zunehmende Hunger, der sich weder mit
den Kartätschen Cavaignac's, noch den Hostien des Pabstes abspeisen läßt, dieses Alles tritt in die andere Wagschaale, um die frommen, für Gott und Cavaignac gewonnenen Seelen in die Höhe zu
schnellen.
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*
] Paris.
Das Central-Comite der polnischen Demokraten hat den 29. Nov. im Antin'schen Saale das 18. Jahresfest der polnischen Revolution gefeiert. Der General Snayde und die Deputirten Vavin und
Corbon saßen im Comite. Die Versammlung war ungemein zahlreich. Unter den Anwesendeu bemerkte man eine große Anzahl Volksrepräsentanten. Russen, Deutsche und Franzosen, haben sich an dem Feste
betheiligt. Vor allen aber verdient genannt zu werden Miroslawski, dessen Rede wir unsern Lesern durch Auszug mittheilen wollen.
Rede Miroslawski's.
Bürger!
Das ist nun bereits das achtzehnte Mal daß Polen, beim Erinnerungsfest seiner Novemberinsurrektion, in Blut und Trauer zu euch um Rache schreien kommt, um Rache für seine verlorne Freiheit, für
seine profanirten Tempel, für seine dezimirten Generationen, für seine verkannten Schlachtopfer, für sein verläumdetes Ringen.
Die, welche ihr hier seht, sind die Ueberbleibsel einer Sturmkolonne, zurückgestoßen von der Bresche, die eure Februarexplosion in den Felsen der heiligen Allianz geöffnet zu haben wähnte. Soldaten
der großen revolutionären Kriegsreserve, finden wir die Bresche unbrauchbar, weil ihr zaudertet sie mit einem Kanonendonner zu fangen, und die heilige Allianz, die sich sofort über uns zuschloß, hat
auch eure Avantgarde verstümmelt zurückgeschickt.
In den unheiligen Zeiten einer Monarchie, nachdem wir Akt genommen von ihren Verräthereien, um sie damit am Tage ihres Todesurtheils zu erdrücken, hüllten wir uns ein in das Schweigen unserer
Verlassenheit und gingen hin, ein dunkles Märtyrerthum suchen in der Grabestätte unserer Vorfahren.
Aber seitdem eure Wunder im Februar die Periode der duldenden Demokratie geschlossen, um die der kriegführenden zu eröffnen: seitdem, einerseits, dieß Wunder allen unterdrückten Nationen in eurem
Forum das Bürgerrecht ertheilt, andererseits alle Bürger einer Republik in ihr Souveränitätsrecht wieder eingesetzt hat; seitdem handelt es sich für uns nicht mehr darum, unserm Hauptschlachtcorps zu
grollen und wider sein Wissen gegen den Tod zu conspiriren.
Jetzt gilt es, uns ernstlich zu verständigen, um einen zweiten Fehlgriff zu vermeiden; denn unsre gemeinschaftlichen Feinde handeln ebenso, und wir sagen euch in Wahrheit, wir alle, die von ihrem
Operationsfelde zurückkehren, die europäische Reaktion, nachdem sie im Sturmschritt über Polen und Deutschland hinübermarschirt ist, klopft schon mit ihrem Kolben an die Pforten
Frankreich's.
Die Republiken, stolze Waisen, haben keinen verantwortlichen Vormund. Bürger! Ihre Ehre und ihre Sicherheit, untrennbar wie sie sind, haben in den Tagen der Täuschung nicht das Recht auf einen
Dritten die Schuld zu wälzen. Wir richten daher direkt an das Gesammtgenie des französischen Volkes, das heute der einzige Patron und der einzige Erbe seiner eigenen Werke ist, unsere Frage. Wir
fragen es, im Namen alles unseres Blutes, das mit dem seinigen sich in so vielen Schlachten vermischte; wir fragen es im Namen fast eines Jahrhunderts gemeinschaftlichen Schicksals:
Brüder, ein für allemal, wollt ihr ein Polen für die europäische Demokratie oder wollt ihr ein Polen gegen diese Demokratie?
Wollt ihr ein Polen, das sich vom baltischen Meere bis zum schwarzen Meere erstreckt, um aufzuhalten und aufzulösen die Schneelawine des czarischen Panslawismus, den wir so lang und so vergeblich
eurer Monarchie denuncirt hatten, oder wollt ihr ein Polen, dessen träge Trümmer die Schwerkraft der auf den Westen stürzenden Lawine noch vermehren werden!
Wollt ihr eine Nation von 20 Mill. Bürgern, die zwanzigmillionenmal euren Willen, euer Genie und eure Initiative zurückstrahlen wird auf dreimal so viel Slaven, oder wollt ihr eine Heerde halb von
Märtyrern, halb von Heloten, die durch die unzurechnungsfähige Brutalität der letztern die ewige und fruchtlose Hinopferung der erstern rächen wird?
Kurz, verlangt ihr einen Alliirten, der euch eine Avantgarde liefert von 490,000 Soldaten, wie die von Sobieski, von Kosciusko, von Poniatowski, von 1830 oder zieht ihr einen Markt von
Kanonenfutter vor, dessen Monopol euren Feinden 490,000 Kartätschenknechte sichert, wie die von Nikolaus, von Windischgrätz und von Jelachich? Das ist die Frage, ohne alle künstliche Verhüllung, ohne
die Möglichkeit jedes Mißverständnisses.
Nun, Volk des allgemeinen Stimmrechts, wähle, stimme in deiner Seele und deinem Gewissen, aber durch Sitzenbleiben und Aufstehen; Schweige oder steh auf, denn, was die Diskussion betrifft, wisse,
daß sie geschlossen ist seit dem Tage, wo dein Februarerdbeben Europa in zwei Lager gespalten hat, um zwischen beiden nichts zu lassen, als den Tod.
Denn seit diesem Tage, was du auch thun magst, um den Schicksalsstrom in sein altes Bette zurück zu dämmen, seit diesem Tage ist dein Handschuh aufgehoben worden durch die Coalition der Könige, die
unregimentirt sind unter dem Telegraphen des Czaren, und es gibt nur mehr zwei Reiche vom atlantischen Ocean bis nach Kamtschatka. Das Reich der Demokratie, Generalquartier Paris; das Reich des
Absolutismus, Generalquartier St. Petersburg.
Die heuchlerische Confusion der alten Abgrenzungen hat plötzlich und unwiderruflich Platz gemacht diesem kolassalen, einfachen, elementarischen Dualismus.
Bürger, seien wir gerecht, selbst gegen unsere Feinde.
Kaum zurückgekehrt von ihrer Betäubung, haben die Könige viel klarer als wir andern diese erbarmungslose Gleichung begriffen, und nach der Art und Weise, wie sie dieselbe lösen, ahnt man, daß es
einer der Throne ist, der am klarsten die Formel gestellt hat: Caligula! mißverstandener Prophet, den die Völker aus Parteigeist für wahnwitzig erklärt, seine gigantische Vision erfüllt sich
dennoch, die ganze Menschheit hat nur noch Einen Kopf und alle ihre vereinigten Henker haben nur noch Eine Krone.
(Schluß folgt.)
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Paris, 2. Dez.
Durch die Einschiffung des Papstes nach Frankreich, hat die Expedition für Civita Vecchia ein Ende. Das Kabinet wollte ja nur die Person des Papstes beschützen, und findet nun hiefür die schönste
Gelegenheit im Lande selbst. Oder beabsichtigt Cavaignac, auch die römischen Demokraten zu Paaren zu treiben? Wie es heißt, soll er darüber in der Nationalversammlung zur Rede gestellt werden.
— Dufaure, Minister des Innern, hat einen gewissen Bellanger zum Polizeikommissarius ernannt, der ausschließlich für Cavaignac bestimmt ist. Man erinnert sich vielleicht noch, daß auch Carl
X. und Ludwig Philipp derartige Polizeikommissarien lediglich zur Sicherheit ihrer Personen anstellten.
Glaubt sich Cavaignac nicht mehr sicher?
— Der Pabst soll die Tuilerien bewohnen! Die Theokratie wird vollständig. — Heute Vormittag sieht man bereits Reiniger und Tapezirer darin beschäftigt.
— Pius IX. betritt übrigens nicht zum ersten Male die französische Erde. In den letzten Jahren des Kaiserreichs diente er als Soldat in der damals von Napoleon errichteten italienischen
Legion, eine Art kaiserlicher Leibgarde. Vom Gardeoffizier brachte er es bis zum Pabst — was bei der demokratischen Organisation des Katholizismus übrigens nichts Seltenes ist.
— Freslon, Minister des Unterrichts und der Kulten, den Cavaignac gestern nach Marseille schickte, um den Pabst zu empfangen, ist ein halber Atheist, der vor etwa 8 bis 10 Jahren die
Deliquien der heil. Agatha zu Angers in die Mayenne, an deren Ufern Angers liegt, werfen ließ. Als die gläubige Menge darüber erstaunte, rief der junge Advokat Freslon: „Eh! wenn diese
Reliquien wirklich so wunderthätig sind, wie man Euch vorsagt, dann sinken sie sicher nicht unter, sondern werden auf der Oberfläche schwimmen.“ Die Reliquien sanken aber unter und Niemand
hätte mehr von ihnen reden hören, wenn nicht der damalige Maximian von Angers jetzt Unterrichtsminister und Zeremonienmeister des Pabstes geworden wäre.
— Die Nationalversammlung bot gestern Abend einen Augenblick lang ein komisches Gemälde dar. Bürger Parisis, Bischof von Langres, stieg nach Cavaignac und Vivien auf die Bühne und hielt eine
Dankesrede im Namen „aller freien katholischen Gewissen.“ Am Schlusse derselben erhob der Bischof mechanisch die Hände (er glaubte sich wahrscheinlich auf der Kanzel) und zu den
Ministern gewandt begann er folgenden Segen auszusprechen, den wir aus dem Moniteur vom 2. Dezbr. (Seite 3430) hier wörtlich mittheilen:
„Dieser der französischen Ehre so würdige Empfang des Papstes appellirt und konstatirt die Benediktionen Gottes auf unsere Staatseinrichtungen und unser Vaterland herab. Seien Sie, meine
Herren, hiefür beglückwünscht; seien Sie im Namen Frankreichs gebenedeit (Ah! bah! zur Linken), gebenedeit im Namen der Kirche (Allons donc! vom Berge) und im Namen der ganzen katholischen Welt.
(Unterbrechung zur Linken; starker Beifall zur Rechten.)
Marrast: Hr. Goudchaux — ein Jude — hat das Wort bezüglich der Finanzlage Frankreichs. (Gelächter.)
Goudchaux besteigt die Bühne.
Das geistliche Oberhaupt von 200 Millionen Katholiken sieht sich für seine Tugenden gestraft und von der Undankbarkeit und Ungeduld eines Theils der italienischen Bevölkerung, welcher Demagogie
heißt und aus der Hefe und dem Abschaum aller zu gebärenden Demokratieen besteht (!) aus seinen Staaten vertrieben und zu wem flüchtet er sich? zur erzkatholischen Königin von Spanien; zum Könige von
Cypern, Jerusalem und Sardinien; an den Hof des heil. Januarius, oder in das überfromme Oestreich? ‥‥ Nein, er flüchtet sich in den Schooß der französischen Republik ‥‥ Die
vor 50 Jahren den Herrgott und die Religion abgeschafft, die Priester zu Dutzenden aneinander band und ins Wasser warf; in diese Republik flüchtet sich das Oberhaupt des Katholicismns, welcher Beweis,
wie groß die Kluft ist, die 1793 von 1848 trennt u. s. w. u. s. w.
Aus Rom erhielt die Regierung bis 3 1/2 Uhr keine neuen Depeschen. Der Telegraph meldet ihr nur die Einschiffung der Expedition nach Civitavecchia.
Miszelle. Proudhon und Pyat haben sich gestern früh wirklich geschossen. Nachdem die ersten Kugeln gefehlt, sagte Proudhon kalt: da Sie zu Marrast gesagt, daß ich die Arbeiter zur Intervention
selbst angerufen habe, so werden Sie noch 2 Kugeln schießen.
Aber auch diese fehlten, obgleich sie nur 25 Schritte standen.
— Das Kriegsministerium veröffentlicht heute eine statistischtopographische Uebersicht aller Linientruppen, die während der Junitage gegen das Volk ins Feuer geschickt wurden. Eine ähnliche
Tabelle wird über die Bürgerwehr und Mobilgarde erscheinen.
— Der Moniteur widerlegt die Behauptung, des Ledru-Rollinschen Blattes „Revolution“, wonach Freslon den sämmtlichen Erzbischöfen, Bischöfen, Erzpriestern und Pfarrern
„volle Unterrichtsfreiheit“ wie in Belgien versprochen hätte, wenn sie für den General Cavaignac stimmen lassen.
— Der päpstliche Nuntius hat heute früh Paris verlassen und sich nach Marseille begeben. Die Kardinäle Bonald (in Lyon), Dupont in Bourges und Giraud in Cambrai sind durch den Telegraphen
ebenfalls von der Flucht des Papstes in Kenntniß gesetzt worden. Auch sie werden wahrscheinlich unverzüglich nach Marseille aufbrechen.
— Wie es heißt, soll sich der Papst acht Tage in Marseille ausruhen und dann mit starkem Ehrengeleit direkt nach Paris geführt werden.
— National-Versammlung. Sitzung vom 2. Dezember. Anfang 1 1/2 Uhr. Leon v. Malleville vicepräsidirt. Louis Bonaparte erscheint auf seinem Platz und spricht mit seinem Lehrer und
Nachbar, Professor Vicillard. Mehrere Deputirte nähern sich ihm, um sich mit ihm zu unterhalten. Unter diesen Höflingen bemerken wir auch den bekannten Herrn v. Tocqueville eines der emsigsten
Mitglieder der Rue de Peitiers, den ein Blatt zum Vertreter der Republik in der [unleserlicher Text]lischen Meditationsfrage bestimmt!
[0856]
Nach Vorlesung des Protokolls zeigt Malleville an, daß Präsident Marrast ein Danksagungsschreiben vom Nuntius erhalten habe, welches also laute:
Herr Präsident der National-Versammlung!
Der Edelmuth der Gefühle für den heil. Vater, welche heute von der National-Versammlung in so glänzender Weise ausgesprochen wurden, hat mich in tiefster Seele gerührt.
Ich kann nicht unterlassen, Ihnen unmittelbar die Anerkennung auszusprechen, von der ich für die Regierung der Republik durchdrungen bin, so wie für die Vertreter Frankreichs, jener Nation, die nie
die edlen Instinkte ihrer traditionellen Ergebung vergessen dürfte.
Genehmigen Sie, Hr. Präsident, den Ausdruck meiner ausgezeichnetsten Hochachtung etc. etc.
Paris, 1. Dezember.
[unleserlicher Text] (gez.) Erzbischof von Nicea, apostolischer Nuntius.
Auf dieses Schreiben hat Marrast Folgendes geantwortet:
Herr Nuntius!
Ich werde mich beeilen, der National-Versammlung den Brief mitzutheilen, den Sie mir zuzusenden die Ehre erwiesen. Organ der Souverainität des Volks, entsprach die National-Versammlung den Gefühlen
der ganzen Nation, als sie ihre lebhafte und tiefe Sympathie für den heil. Vater kund gab. Die Republik, welche das Recht hat, unter den Traditionen der Vergangenheit sich auch auf diejenige zu
berufen, welche darin besteht, allen Unglücklichen zur gastfreundschaftlichen Zufluchtsstätte zu dienen, theilt ganz Ihre Anerkennung der erhabensten Tugenden. Das Votum der National-Versammlung,
indem es die von der Vollziehungsgewalt ergriffene Initiative gut hieß, hat Ihnen hinlänglich beweisen können, welchen Empfang der erlauchte Pontifex bei seinem Eintritt in das Gebiet des
republikanischen und katholischen Frankreichs zu gewärtigen habe. Er wird allen Respekt finden, welcher seiner hohen Lage zukommt und diese Beweise des Herzens werden so rührend und aufrichtig sein,
wie Alles, was der Glaube und die Freiheit einflößen.
Genehmigen Sie, Herr Nuntius, die Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung.
Paris, 1. Dezember 1848.
(gez.) A. Marrast
Nach Vorlesung dieser Aktenstücke, die wir so schnell als möglich am Tische des Moniteur kopirten, nahm die Versammlung die Berathung des Budgets des Kriegsministeriums wieder auf.
Bineau, Besancon, Souteyra, Julien, Lacroix, Berryer, Tassel, Goudchaux, Duclerc u. m. a. nehmen an der Debatte Theil.
Lagrange unterbricht die Büdgetdebatte und trägt darauf an, die Versammlung moge doch endlich über die Anträge entscheiden, welche von ihm und von Pierre Leroux, so wie von einer Menge
unglücklicher Petenten rücksichtlich der Juni-Deportirten gestellt worden seien. Der Termin zur Präsidentenwahl rücke heran, es sei also doch wohl hohe Zeit, daß man sich des Volkes annehme.
Lamoriciere bemerkt, daß er als Kriegsminister selbst einen ähnlichen Antrag gestellt habe, der demnächst zur Entscheidung gebracht werden solle
Die Versammlung beschließt, die Juniräuber nach dem Büdget vorzunehmen.
Ein Mi[t]glied verlangt, daß auch die Kranken in den Hospitälern am 10. December mitstimmen sollen.
Dufaure erwidert einige Worte und verspricht einen Antrag hierüber zu bringen oder spezielle Maßregeln hiefür zu treffen.
Die Versammlung setzt das Finanzbüdget ohne wesentliches Interesse fort.
Charles Dupin findet, daß die provisorische Regierung zu sehr unter dem Tabackspersonal gewüthet.
Garnier Pages vertheidigt sich. Man habe wohl daran gethan, diesen faulenzer Generalstab zu lichten. (Beifall.)
Auch der Postdienst ruft eine Debatte hervor. St. Priest rügt einige Mängel.
E. Arogo, Verfasser der „Aristrokatien“ und Postdirektor, gibt einige interessante Aufschlüsse, unter Andern hört man, daß die fahrenden Briefträger langsamer sind als die zu
Fuße gehenden u. s. w.
Schluß der Sitzung um 6 1/4 Uhr.