Großbritannien.
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] London, 28. Okt.
Ein Jahr ist ungefähr verflossen, seit der eiserne Herzog, der alte Wellington, eines Morgens emporfuhr aus schweren Träumen. Er zog seine Reitstiefeln an, setzte sich an sein Schreibpult und
schrieb einen Brief an Sir John Bourgoyne.
Dieser Brief machte damals großes Aufsehen; er ging durch die ganze europäische Presse. Wenn nicht die Revolution dazwischen gekommen wäre, so sprächen die Engländer vielleicht noch davon.
Glücklicherweise kam aber eben die Revolution.
Der alte Herzog schrieb nämlich damals an Sir John, daß sich die englischen Küsten in einem wahrhaft beunruhigenden Zustande der Vertheidigungslosigkeit befänden, und daß es den Franzosen ein
Leichtes sein würde, bei Nacht und Nebel plötzlich einmal herüberzufahren und zu landen und London in Brand zu schießen und ein Unheil anzurichten, wogegen die Zerstörung Karthagos ein Kinderspiel
sei.
Hübsch gedruckt stand dieser Brief in der Times, in der Morning Post, im Standard, und man kann sich denken, wie den guten Britten zu Muthe war und wie ihnen die Haare zu Berge standen, als sie von
so hoher Autorität so entsetzliche Dinge hörten.
Die Franzosen in London! ‒ John Bull entfärbte sich; er ließ die Arme sinken; er wußte nicht, ob er fluchen oder beten sollte: der Gedanke war zu schrecklich. ‒ Aber der Herzog hatte
alles auf's schönste ausgemalt. Man meinte, man sähe die kleinen Franzosen aus ihren Schiffen hüpfen, jetzt in Reihe und Glied springen und dann nach der Metropole marschieren, um im Hayde-Park
Kankan zu tanzen, um im London-Kaffeehause Turtlesuppe zu essen und singend durch die City zu ziehen. Der Brief des alten Herzogs ließ das schlimmste fürchten. Männer und Weiber träumten nur von
Franzosen. Wer weiß, wem diese Träume am unangenehmsten waren?
Acht oder vierzehn Tage dauerte dieser Skandal; man machte schon Pläne, wie man dem herannahenden Unglück durch die großartigsten Maßregeln steuern könne, und schon wollte sich Groß und Klein zu
einer allgemeinen Befestigungswuth hinreißen lassen, als plötzlich Cobden, der Baumwollheiland Cobden, dem eisernen Herzog in die Zügel fiel und nicht nur erklärte, daß es Wahnsinn sei, die
Streitkräfte des Landes zu vergrößern, sondern daß man im Gegentheil darauf bedacht sein müsse, die Armee und die Marine bis auf ein wahres Minimum zu reduziren.
Jeder andere Manchester-Mann würde sich lächerlich gemacht haben, wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, sich in kriegerischen Dingen mit dem Helden von Waterloo messen zu wollen; Cobden stand aber
damals noch auf dem Gipfel seines Ruhmes; der Mann, der eben erst die alte Aristokratie in der Kornzollfrage so glänzend geschlagen hatte: er konnte Alles wagen, er durfte selbst einem Wellington
feierlich entgegentreten.
Cobden war Held des Tages. Um seine niedrige Stirn grünten noch die Lorbeeren, die er auf der Reise durch Frankreich, durch Italien und durch Deutschland gepflückt hatte; die englischen Blätter
brachten noch die letzten Freihandelstoaste aller großen Städte des Kontinents, Toaste auf Richard Cobdens Wohl, und auf das Wohl seiner Genossen Bright, Wilson und Thompson; dem Triumph der
Freetrader daheim war der sehnlich erwünschte Beifall des Auslandes gefolgt und der Beifall des Auslandes ließ den Liebling der Mittelklasse nur um so mehr in der Gunst der
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freihandelsseligen Menge steigen. Was Wunder, daß der Manchester Kaliko-Drucker fast ebenso große Sensation machte, wie der franzosenfressende Herzog!
Die Opposition Cobdens fand Anklang. Sie wurde namentlich deswegen mit ungemeiner Akklamation aufgenommen, weil sie eine Opposition in Pfunden, Schillingen und Pencen war, eine Opposition, die der
Engländer immer versteht, mag sie kommen zu welcher Gelegenheit sie will.
Der mahnenden Stimme des alten Herzogs, der seine Landsleute daran erinnerte, welche Schmach es vor Gott und Menschen sein würde, wenn je ein feindlicher Franzose den geweihten Boden Alt-Englands
betrete und der ihnen begreiflich zu machen suchte, wie leicht man dieses Unheil noch heute durch die gewöhnlichsten Mittel verhüten könnte: folgte die kalte Freihandels-Argumentation Cobden's,
der weder von Schmach vor Gott und Menschen, noch von Ruhm und Ehre etwas wissen wollte und geradezu behauptete, daß es den Franzosen nicht einfallen würde, in feindlicher Absicht über den Kanal zu
setzen, wenn man nur fortfahre, jenes System des Handels zu befolgen, das durch den freien Austausch der beiderseitigen Produkte, beide Länder zu einem bessern Einverständnisse führen werde, als es je
durch Wälle und Kanonen hervorzubringen sei. In Pfunden, Schillingen und Pence rechnete Herr Cobden dann seinen Verehrern vor, was es dem Lande kosten werde, wenn man den Phantasieen des alten Herzogs
folge und es ist kein Zweifel, daß er seinen Gegner auch total aus dem Felde geschlagen haben würde, wenn nicht plötzlich die Februar-Revolution allen Streitigkeiten, wenigstens für den Augenblick,
ein Ende gemacht, und sowohl die Stimme des alten Herzogs, wie die Stimme eines Cobden, mit ihrem Donner übertönt hätte.
Wellington und Cobden sind wirklich seit jenem Augenblicke kaum mit ihrer Weisheit wieder an's Licht getreten.
Da will es plötzlich der Zufall, daß wenigstens Herr Cobden wieder einmal Gelegenheit hat, sich in seiner ökonomischen Glorie zu zeigen, denn sieh, in Belgien, in dem gesegneten Musterstaate, wo da
Milch und Faro fleußt, trotz aller Revolutionen, sammeln sich in den September-Tagen die Freunde des Friedens, um einen Kongreß zu halten, auf dem sie ihre weltbeglückenden Ideen austauschen wollen,
‒ einen Kongreß, zu dem sie auch Hrn. Cobden einladen.
Die Brüsseler Friedensfarce ist erst eben vorüber. Wie wir sahen, hatten sich außer vielen amerikanischen und englischen Quäkern, ungefähr dieselben Leute eingestellt, die im vergangenen Jahre
zuerst in einer dreitägigen Debatte das Heil der Bourgeoisie in der Durchsetzung des Freihandels suchten, um dann in einer ebenfalls drei Tage langen Diskussion zu Gunsten der arbeitenden Klasse mit
dem Zahlen-System hervorzutreten. Es waren wieder dieselben Leute wie damals. Der alte Holländer Suringan, dessen Beredsamkeit dem grunzenden Geräusche einer Walkemühle gleicht; der Schotte Ewart, der
gewiß ein guter Mensch, aber ein schlechter Musikant ist; der Spanier Ramon de la Sagra, der sich einzig und allein dadurch auszeichnet, daß er ein Spanier ist; dann der Belgier Ducpétiaur, der als
Fourierist und Oberkerkermeister ein warmes Herz im Busen trägt und schon mehr als 12 Dutzend Bücher und Broschüren über die Leiden des Proletariats geschrieben hat. Genug, alle Biedermänner des
Freihandels und des Zellen-Systems waren anwesend und nur Einer fehlte, es fehlte der Heiland Cobden.
Cobden war nicht erschienen. Und doch hätte er eine so treffliche Gelegenheit gehabt, aus seinem Dunkel herauszutreten und seine Polemik gegen den Herzog von Wellington fortzusetzen. Wie hübsch
würde sich der konsequente Cobden, der Alles auf Pfunde, Schillinge und Pence reduzirt, gegenüber den holden Menschenfreunden ausgenommen haben, die Alles auf die Moral reduziren und auf die
christliche Liebe.
Während uns die friedlichen Quäker den „Shade“ (Schatten) der Sache gezeigt hätten, würde der große Richard von Manchester mit der„substance“ (Substanz) herangerückt
sein. Die heuchlerisch philantropische Salbaderei eines Suringan, eines Ewart, eines Elihn Burritt würde sich in ein einfaches Bourgeois-Exempel aufgelöst haben, in ein lustiges Rechnenkunststück.
In derselben Weise wie Cobden dem eisernen Herzog gegenüber den heiligen, unantastbaren Boden Altenglands verhöhnte, in derselben Manier würde er durch kalte, kahle Ziffern die moralische
Entrüstung der Brüsseler Friedensfreunde blamirt haben. Alles Gewäsch von Menschenwohl und von Menschenliebe würde durch Hrn. Cobden darauf hinausgekommen sein, daß es tout bonnement eine Ersparniß
ist, wenn hinfort alle Kriege vermieden werden, eine Staatsersparniß, die durch wenige zu erhebende Steuern der Bourgeoisie zu Gute kommt, der Mittelklasse, die in ihrem Bestreben: die
Produktionskosten auf ein Minimum zu reduziren das nützlichste und deswegen christlichste Ziel des Jahrhunderts zu verfolgen glaubt.
Gewiß, Jesus Christus Cobden würde den Brüsseler Kongreß zu einem praktischen Resultate gebracht haben. Aus einem Briefe sehen wir dies, den Cobden vor einiger Zeit an Joseph Sturge in Birmingham
schrieb, um sich zu entschuldigen, daß er nicht zu dem Brüsseler Kongreß hinüberreiste.
„ Als ich im vorigen Jahre auf dem Kontinente reiste,“ schreibt Cobden, „gab ich mir einige Mühe, zuverlässige statistische Details zu sammeln, wodurch ich zu der Ueberzeugung
gelangte, daß der Effektivbestand der europäischen Landheere im Jahre 1847 (einschließlich Großbritanniens) über 2,200,000 Mann zählte, und daß 150,000 Mann auf den Kriegsschiffen dienten, mithin im
Ganzen 2,350,000 Soldaten und Seeleute. Bemerken wir zugleich, daß sich bis dahin revolutionäre Bewegungen nirgends gezeigt hatten, und daß in diesem Jahre 1848 überall eine Verstärkung der
Streitkräfte stattgefunden hat. Die Nationalgarde Frankreichs und der Schweiz, die Landwehr in Deutschland und andere Korps, welche dem Militärdienste temporär unterworfen sind, schätze ich wohl nicht
zu hoch auf 1,000,000 Menschen. Zu diesen kommen noch die bewaffnete Polizei, Bürgerwehr, Gendarmerie und Zollbeamten, und somit wächst die Zahl auf wenigstens 4 Mill. Bewaffneter. Halten wir uns aber
einstweilen nur an die 2,350,000 Mann reguläres Militär und Marine.
Es ist keine leichte Aufgabe, die Kosten dieser bewaffneten Macht genau zu berechnen. Wenn sie auf dem Continente so groß wären, wie in England, ‒ was man jedoch nicht annehmen darf ‒
so würden sie sich für die reguläre Macht allein auf 250 Mill. L. jährlich belaufen. Andererseits muß man bedenken, daß die Instandsetzung und Erhaltung der Festungen auf dem Continent eine große
Summe jährlich erfordert, während diese Ausgabe in England unbekannt ist. Ferner ist in Betracht zu ziehen, daß die Männer, die auf diese Weise der produktiven Arbeit entzogen werden, sämmtlich in
ihren besten Lebensjahren stehen, und wenn wir annehmen, daß sie im Stande wären, jährlich 50 L. pr. Mann durch Handarbeit oder Ackerbau zu verdienen, resp. zu erzeugen, so geht noch eine Summe von
100 Mill. L. jährlich verloren. Jedenfalls darf man annehmen, daß dieses System der stehenden Heere in Europa jährlich über 200 Mill. L. kostet.“
So schreibt Richard Cobden, und mit allem moralischen Geschwätze ist es zu Ende.
Was ist der alte Herzog mit seinem rostigen Ruhme und was ein sentimentaler Quäker mit seinem abgehärmten Duldergesicht, gegen den Kaliko-Drucker aus Manchester?
Doch den Arbeitern bleibt es überlassen, den Augenblick zu bestimmen, wo die Bourgeoisie mit der Reduzirung der Produktionskosten aufhören wird.