Deutschland.
@xml:id | #ar126_001 |
@type | jArticle |
@facs | 0633 |
[
61
] Wien, 19. Oktober.
Reichstagssitzung. Eröffnung 2 Uhr unter Smolka's Prasidium.
Schuselka steht auf der Tribüne und verlies't eine an den Ausschuß gerichtete Eingabe des Grafen Wickenburg, Gouverneurs von Steiermark, in welcher diese Provinz, die den Herrn
Grafen, der zu den höchst schwarz-gelben Tory's gehört und daher zu diesem Schritte gewiß genöthigt worden ist, verlangt, daß der Reichstag ihr alle seit dem 6. Oktober entflohenen
steier'schen Abgeordneten namhaft mache. (Bravo.)
Umlauft, früher Polizeispion Metternich's, jetzt linker Demokrat, will, daß man noch 3 Tage abwarte, weil die Deserteure wieder eintreffen könnten.
Popiel: Man mache die Namen aller derer bekannt, die sich am 7. Oktober zur Reichstagskasse gedrängt haben, um Reisegeld zu erhalten. (Beifall der Galerien.)
Smereker: Ich trete dem Antrage bei, selbst wenn er auch den Anschein einer Proskription hätte.
Potocki sucht auszuführen, daß der Antrag gegen die Würde der Versammlung verstoße, indem man nicht wissen könne, welche Gründe die Abwesenden bewogen, sich zu entfernen. Am 7. Oktober seien
ihnen 14 Tage zur Rückkehr bestimmt worden, die man, da sie erst am 22. abliefen, auch einhalten müsse.
Königshofer: Wir müssen auch die hier Anwesenden namhaft machen.
Demel: Wir müssen, da es noch nicht geschehen, den Beschluß fassen, daß nach den 14 Tagen eine Neuwahl stattfinde.
Ein Abgeordneter: Viele Abgeordnete halten sich in Schlupfwinkeln verborgen, während ihre Komittenten glauben, sie seien unter uns.
Ein Anderer: Das Loos der Monarchie steht auf dem Spiele, und der Gouverneur muß gewichtige Gründe gehabt haben, daß er diesen Schritt gethan.
Zöpfl: Die Abneigung gegen den Reichstag nimmt im Publikum täglich zu, wir müssen uns daher einmal zeigen. (Wie muthig!)
Schuselka, des Reichstags hochprivilegirter Esel: Ich bedaure die Wendung der Debatte; es handelt sich ja nur um die Sache, nicht um Persönlichkeiten; wir haben nur dafür zu sorgen, daß die
nöthige Anzahl von Abgeordneten hier sei. Von diesem Standpunkte aus, nicht aber vom persönlichen wollen wir dem Herrn Gouverneur blos antworten, wir wollen ihm keine Proskriptionsliste
schicken. ‒ (Wie verlautet, sollen die Herrn des permanenten Auschusses mit dem Gelde und mit den Versprechungen der Kamarilla sämmtlich erkauft sein. Die Sache ist sehr wahrscheinlich.)
‒ Die Abstimmung soll geschehen, aber es zeigt sich, daß nur 183 Abgeordnete anwesend sind, der Reichstag also nicht beschlußfähig (193) ist. Unterbrechung. Die Abgeordneten werden
herbeigeholt.
Einer: Der Abgeordnete Beck hat viele beredet, hinwegzugehen. (Aufregung, Zischen.)
Schuselka, unterdessen fortfahrend: Ueber das Ankommen oder Nichtankommen der Ungarn werden durch Plakate verschiedene Gerüchte verbreitet. ‒ Für uns war es eine Unmöglichkeit, die
Ungarn zur Herkunft aufzufordern, der Reichstag hatte dazu nicht die legale Gewalt. Wir würden im andern Falle unserm konstitutionellen Kaiser ja den Krieg erklärt haben. (Ist euer Defensivzustand
denn etwas anderes, konntet ihr den Ungarn nicht wenigstens antworten, ihr Nichtswürdigen!) Wir haben genug gethan, daß wir die Adresse der Ungarn vorgetragen und dieselbe per acclamationem angenommen
worden ist. Diejenigen, welche mit dem, was wir gethan, nicht zufrieden sind, wollen den Untergang Oesterreich's, unterdessen sie eine andere Macht sich friedlich entwickeln lassen; ich muß
dawider protestiren.
Es sind 190 Mitglieder anwesend, das Protokoll wird verlesen, kann aber erst nach einigen Worten angenommen werden. ‒ Darauf wird beschlossen, dem Gouverneur die Abwesenden
Steiermark's anzuzeigen, ferner, daß in Beziehung der Deserteure aller Provinzen nach Ablauf der 14 Tage Neuwahl stattfinde.
Einer, davonlaufend: Wir sind nicht beschlußfähig.
Ein Anderer: Ich trage an, daß die Namen der Abgeordneten verlesen werden, damit wir erfahren, ob wir beschlußfähig sind. Es geschieht, 193 werden zusammengebracht.
Borrosch hält unter entsetzlichem Beifall eine magnetisirte Demokratenpredigt, damit der Aufruf zur Wiederkehr der Deputirten wirke.
Paul: Wir müssen noch einmal abstimmen.
Pillersdorf hat sich fortgemacht, Krauß läßt sich seit 4 Sitzungen nicht mehr sehen. Jeder will, um seinen Muth zu zeigen, noch das Wort nehmen. Drunter und drüber.
Fischoff will, daß man den Abgeordneten, die entflohen, noch 10 Tage Zeit zur Rückkehr gebe, weil eine Vermittlung und Versöhnung möglich sei.
Hierauf wird der Antrag Goldmarks, die Neuwahl nach Ablauf der 14tägigen Frist auszuschreiben und dies durch die Zeitungen bekannt zu machen, angenommen. Ebenso ein Zusatzantrag, daß jeder
Abgeordnete sein Ausbleiben entschuldigen (d. h. demnach fortbleiben) könne. Es fällt keinem einzigen der Patrone ein, die abtrünnigen Czechen für Hochverräther zu erklären und ohne Umstände eine
Neuwahl zu beantragen; es fällt überhaupt niemand ein, sich muthvoll, energisch, kurz revolutionär zu zeigen. Lauter erbärmliche, käufliche und erkaufte Gesellen der germanischen und germanisirten
jüdischen Niederträchtigkeit. Zum Schlusse stellt sich heraus, daß 3 galizische Wahlbezirke durch die Hintertreibungen der Büreaukratie noch gar nicht vertreten sind.
Der treffliche Muth und Geist des Ausschusses hat es nun bereits so weit gebracht, daß die Ungarn nicht kommen, obwohl ich ich ihre politische Empfindlichkeit tadele; daß auch Windischgrätz eine
höchst bedeutende Truppenmacht um Wien konzentrirt hat, und daß uns am Ende nichts übrig bleiben wird, als die Waffen abzulegen, zu Kreuz zu kriechen und die Esel, Verräther und Verruchten zu
verfluchen, die seit dem 6. die Bewegung geleitet haben. Die linken Deputirten aus Frankfurt haben im Frack, gelben Handschuhen und hochweiser Wäsche eine offizielle Vorstellung im Gemeinderathe
durchgemacht; Blum hat eine Rede gehalten, Stifft hat eine Gegenrede gehalten. Alles wunderschön. Die Prager Zeitung brachte bisher aus der Feder der Ultra-Czechen die nichtswürdigsten Berichte über
die hiesigen Vorfälle, welche ebenso allgemeine Entrüstung erregen, als die Berichte der Ober-Post-Amts- und Augsb. Allg. Zeitung. Für Geld kann man ja Alles haben, besonders in unserer Zeit, wo die
Verruchtheit so viele Mitglieder zählt. Kuranda und Schütte sollen die Lieferanten der Augsburgerin sein.
@xml:id | #ar126_002 |
@type | jArticle |
@facs | 0633 |
Wien, 20. Octbr.
Der Kaiser hat an das mährische Volk eine Proklamation gerichtet, in welcher versichert wird, daß die Robot- und Zehentaufhebung bleibe. Diese Proklamation ist von dem Minister Wessenberg
kontrasignirt.
Wien ist von dem heutigen Tage an förmlich cernirt; von allen Seiten ist die Zufuhr abgeschnitten, ohne daß von irgend einer Provinz eine nachdrückliche Hülfe geboten würde. Wien ist in diesem
Augenblicke ganz sich selbst überlassen und doch ist daselbst noch keine Spur von Entmuthigung zu finden. Es herrscht nur eine Spannung, mit welcher man dem Ausgange dieser Wirren entgegensieht. Man
spricht von einer Proklamation, in welcher den Wienern von dem Kaiser die Bedingungen des Friedens vorgezeichnet werden; man will wissen, daß zu diesen Bedingungen: Beschränkung der Presse und
Auflösung der akademischen Legion gehören.
Deputationen auf Deputationen gehen nach Olmütz. Auch der Gemeinderath hat eine aus seiner Mitte mit einer Adresse abgeschickt, in welcher das Verlangen ausgesprochen wird, daß 1) Jellechich und
Windischgrätz abziehen. 2) Die Truppen v. Auersperg mit Ausnahme von Nassau-Infanterie und Wrbna-Kavallerie als Garnison die Wiener Kasernen beziehen. 3) Die Nationalgarde reorganisirt werde mit
Beibehaltung der mobilen Corps. 4) Der Kaiser zurückkehre und ein volksthümliches Ministerium einsetze. Dieser Deputation folgte eine andere aus Nationalgarden und Legionären bestehend, um sich mit
ihr zu vereinigen. Man will legale Schritte gethan haben, bevor es zum blutigen Kampfe kommen soll. Die Proklamation an die östreichischen Völker ist gestern noch nicht fertig geworden.
Eine von Windischgrätz erlassene telegraphische Depesche an das Kommando zu Prerau enthält den Befehl, daß mit allen vorkommenden Nationalgarden in derselben Weise zu verfahren sei, wie mit denen
von Bielitz; daß nämlich der Führer wie der Fürst Sulkowski nach Olmütz gebracht werde und daß man die Anderen ohne Waffen ihre Heimath gehen lasse.
Die Nordbahn bei Gänserndorf ist von dem Militär demolirt worden, um die Zufuhr aus Ungarn nach Wien unmöglich zu machen; wodurch die Kommunikation mit Norddeutschland bedeutend erschwert ist.
Die hierhergesandten Reichskommissäre Welker und Moslè haben sich hier gar nicht aufgehalten, sondern sind sogleich nach Olmütz abgereist.
Das Regiment Baden aus Oberöstreichern bestehend, welches gegen Wien beordert war, hat auf halbem Wege mit sammt seinen Offizieren rechtsum gemacht, indem es erklärte, daß es wohl bereit sei für
Wien, aber nicht gegen dasselbe zu kämpfen. General Hammerstein soll mit 10,000 Mann k. k. Militärs von Galizien aus in Ungarn eingefallen sein.
In Mailand herrscht große Aufregung. Im Scala-Theater soll ein Streit zwischen Volk und Militär ausgebrochen sein. Der Waffenstillstand endet am 23. d. Mts. und an diesem Tage erwartet man einen
Angriff der Piemontesen.
Das Zeughaus von Prag wurde keineswegs gestürmt, sondern von dem Volke bloß benutzt, um sich zu bewaffnen. In Prag soll die Sympathie für Wien immer mehr und mehr zum Durchbruch kommen, so daß die
entronnenen ultra-czechischen Deputirten sehr viele Gegner daselbst bekommen haben.
[(Privat-Telegraph.)]
@xml:id | #ar126_003 |
@type | jArticle |
@facs | 0633 |
Wien.
Die „Neue Preußische Zeitung“ (Landwehrkreuz-Zeitung) bringt großgedruckt folgende Nachricht:
Berlin, 23. Oktbr. An der Börse hatte man heute von zuverlässiger Quelle die Nachricht, daß Wessenberg als Premierminister den Reichstag aufgelöst, das Proletariat geplündert, die Rechte
sich unter den Schutz des englischen und russischen Gesandten gestellt, die Linke geflohen und Windischgrätz als k. k. Generalissimus ohne Schwert in Wien eingerückt sei. Die fliegenden Korps und die
Aula sind entwaffnet.
@xml:id | #ar126_004 |
@type | jArticle |
@facs | 0633 |
Prag, 21. Oktober.
Zwei Manifeste des Kaisers aus Olmütz vom 16. und 19. Okt. liegen vor uns. Der Form nach sind sie zwar konstitutionell, sie sind vom Minister Wessenberg contrasignirt, allein ihr Inhalt ist so
betrübend, daß wir vorgezogen hätten, sie wären ohne Contrasignatur erlassen worden. In dem einen vom 16. Okt. spricht der Monarch von gesetzlicher Regelung der bisher mit zügellosem Mißbrauche
gehandhabten Presse, des Vereinsrechts und der Volkswehr. In dem andern heißt es: Es ist unser unveränderlicher Wille, daß die unsern Völkrrn gewährten Rechte und Freiheiten in ihrer ganzen Ausdehnung
ungeschmälert bleiben. Wer den Styl, in dem solche Manifeste geschrieben sind, kennt, weiß, was gesetzliche Regelung im Munde der Kamarilla bedeutet. Wie mir aus zuverlässiger Quelle bekannt ist,
wollte man auch die Auflösung des Reichstags aussprechen, allein nicht wie die hiesigen Blätter melden, Dr. Brauner, sondern Graf Woyna, war es, der dem Kaiser die schrecklichen Folgen davon
vorstellte. Schwer wäre es zu schildern, wie das Manifest hier aufgenommen wurde. Die gesinnungslosen Deutschen, leider ist deren Anzahl hier unendlich groß, freuten sich, daß es doch nun endlich
einmal Ruhe werden wird. Die Czechen jubelten, daß die Wiener endlich mit Strenge angegriffen, und daß das, doch etwas deutsche, Ministerium durch ein czechenfreundliches ersetzt werde. So ist die
Stimmung der hiesigen Bevölkerung. Was aber wird der wahrscheinliche Ausgang sein? Die Absicht der Regierung ist, Wien durch Hunger zur Uebergabe zu zwingen; dies wird ihr längstens binnen 14 Tagen
gelingen. Dann wird Wien in Belagerungszustand erklärt, Windisch-Grätz zum Civil- und Militärgouverneur ernannt, die demokratischen Journale werden unterdrückt, die akademische Legion entwaffnet, die
Nationalgarde ausgemustert, das Assoeiationsrecht suspendirt. Während dessen wird der Reichstag nach Linz oder Olmütz verlegt und die Verfassung beendet.
[(A. D. Z.)]
@xml:id | #ar126_005 |
@type | jArticle |
@facs | 0633 |
Prag, 20. Okt.
Reisende, welche Wien durch die Taborlinie verlassen, werden außerhalb derselben von Nationalgarden untersucht; wer keinen Geleitschein hat, wird zurückgewiesen; die Waffen werden abgenommen. Die
ärarische Taborbrücke ist auf keine Art gesperrt. Auf der Eisenbahnbrücke sind die Schienen nicht abgerissen, sondern sie ist verbarrikadirt, so daß kein Train passiren kann. Der Bahnhof ist von
Nationalgarden besetzt, ebenso die Station Floridsdorf. Zwischen Floridsdorf und Wagram, dann bei Gänserndorf, sind von dem dort stationirten Militär einige Bahnschienen ausgehoben, um die Trains
sicher aufzuhalten. Der Postzug vom 19. Okt. wurde vom Militär durchsucht, und einige Personen, darunter ein Student, zurückbehalten. Die vorgefundenen Waffen wurden abgenommen. Von nun an soll
zwischen Wien und Gänserndorf kein Train mehr verkehren. Der größte Theil der Nordbahn und die Bahnhöfe sind vom Militär besetzt. An Lebensmitteln ist in Wien noch kein Mangel. Alles ist zum
kräftigsten Widerstande vorbereitet, und die Erbitterung nimmt wo möglich noch immer zu.
@xml:id | #ar126_006 |
@type | jArticle |
@facs | 0633 |
Prag, 19. Oktbr.
Gestern ist in der Sitzung des politischen Senats der Antrag auf Einberufung des böhmischen Landtags gemacht worden. Es ist dies jedenfalls eine höchst wichtige Maßnahme, denn es soll eventualiter
der Provinziallandtag die Beschlüsse des Reichstages für Böhmen aufheben. ‒ Windischgrätz hat sich eine Feldpresse nachschicken lassen.
[(A. D. Z.)]
@xml:id | #ar126_007 |
@type | jArticle |
@facs | 0633 |
[
103
] Berlin, 23. Okt.
Sitzung der Vereinbarer-Versammlung.
Tagesordnung: Fortsetzung der Berathung des ersten Titels der Verfassungsurkunde.
Minister Eichmann: Die Debatte ist in der letzten Sitzung so weit gediehen, daß es Pflicht der Regierung ist, ihre Ansichten auch mitzutheilen. Wir müssen zuerst den Beschlüssen der
Frankfurter Versammlung uns anschließen, aber auch unsere Verhältnisse zum Großherzogthum Posen im Auge haben. Es handelt sich bei dieser Angelegenheit um keine Staatsgeheimnisse. Die Verträge und
Zusicherungen von 1815 liegen offen da. Wir können aber nicht bei 1815 stehen bleiben, wir müssen die Zusicherungen dieses Jahres sowohl an die deutsche als an die polnische Bevölkerung in der Provinz
Posen berücksichtigen. Die Aufnahme eines Theils der Provinz in den deutschen Bund ist ein völkerrechtlicher Akt. Ich erinnere Sie nun, daß gerade in diesem Augenblicke in Frankfurt über die Rechte
der fremden Nationalitäten in Deutschland verhandelt wird. Sie können die dortigen Verhandlungen nicht ignoriren. Um nun allen Widerspruch zu vermeiden, kann Ihnen die Regierung nichts besseres
vorschlagen, als die Annahme des ursprünglichen Entwurfs, verbessert durch das Amendement Auerswald.
Abg. Hartmann: Das alte Unrecht, was den Polen geschehen ist, wäre schon längst gesühnt. Preußen hätte dies Unrecht nicht mehr gut zu machen, denn es hat die Provinz Posen in einem gerechten
Kriege mit dem Großherzogthum Warschau erobert. Man sagt, es wären den Bewohnern der Provinz Posen, die Versprechungen von 1815 nicht erfüllt worden? Es ist unsere Pflicht, die Bewohner deutscher
Nationalität in der Provinz Posen gegen die Unterdrückung der Fremden zu schützen Da wir nur eine Verfassung für Preußen, für Deutsche vereinbaren wollen, so müssen die Polen davon ausgeschlossen
werden, und ich erkläre mich demnach gegen das Amendement Philipps.
Abg.
Plönnies erklärt sich für das Amendement Auerswald. Der Kommissionsenwurf habe den Regierungsentwurf abgeändert. Das Amendement sucht nun den letzteren wieder herzustellen. Die Frage,
die wir hier besprechen, fällt vollkommen zusammen mit der deutschen Frage. In Frankfurt hat man das Gebiet des deutschen Reichs festgestellt. Die Trennung in der Provinz Posen bliebe noch einer
spätern Festsetzung vorbehalten. Wir
[0634]
haben hier zu entscheiden, ob wir in Preußen eine Bevölkerung aufnehmen wollen, die keine deutsche ist
Abg. Kupfer erklärt sich in einer langweiligen Rede gegen die Amendements Philipps und Potworowski. Nach der deutschen Reichsverfassung dürfe kein deutscher Staat mit einem, einer andern
Nationalität, keine andere Verbindung mehr haben, als die einer Personal-Union.
Abg. Lisincki theilt in einer persönlichen Bemerkung mit, daß ihm die dieser Tage ein mit 4834 Unterschriften versehener Protest gegen die Demarkationslinie, aus seinem Wahlkreise
eingereicht sei. Er verlangt die Verlesung, welches aber gegen die Geschäftsordnung ist.
Abg. Richter spricht für das Potworowskische Amendement. Wenn die polnischen Abgeordneten sich auf die Wiener Verträge berufen, so geschieht dies, weil ihnen dort der letzte Rest ihrer
Selbstständigkeit zugesichert wurde; seien wir daher nicht weniger freimüthig als die Fürsten. Diese ließen den Polen nicht allein ihre Nationalität, sondern Land und Nationalität. Ich habe daher das
Vertrauen, daß wir uns auch zu dieser Höhe erheben werden und eine vollständige Restitution bewirken. Eine Demarkationslinie heißt aber nicht Restitution. Restitution ist, daß man das alte Unrecht
ganz wieder gut macht und das unrechtmäßig Angeeignete vollständig zurückgiebt.
Nach einigen Zwischenfällen und persönlichen Bemerkungen und thatsächlichen Berichtigungen erhält der Abg. Seeger das Wort. In einer sehr langen Rede setzt er seine Ansichten über die
deutschen und polnischen Nationalitäten auseinander. Er verliest mehrere Bekanntmachungen der deutschen und polnischen Bevölkerung vom März d. J. Die Eine, worin das polnische Comite sich erklärt, daß
ein eigenes Parlament in Posen zusammenkommen müsse und man nicht für die Berliner und Frankfurter Versammlungen wählen dürfe. Er schließt damit, daß es nur ein Mittel gebe, das der Theilung, und daß
man daher die Festsetzung der Demarkationslinie beschleunigen möge. In dieser langen Rede hat er die polnischen Abgeordneten und die polnische Bevölkerung mehrmals angegriffen, welches wieder eine
Reihe persönlicher und thatsächlicher Bemerkungen der polnischen Abgeordneten hervorruft.
Abg. D'Ester: Ich berufe mich in dieser Angelegenheit nicht auf die Verträge von 1815, diese sind verrufen genug, sondern auf die Versprechungen des März. Sie wissen, daß einer
Deputation des Großherzogthums am 21. März das Versprechen einer nationalen Reorganisation gegeben wurde. Dieses Versprechen steht in gleichem Verhältniß, wie alle andern des März und müssen ebenso
ausgeführt werden. Erst am 30. März tauchte im Ministerrath die Idee auf, einige Kreise von der Reorganisation auszuschließen. Die Regierung hat aber in der ganzen Provinz Posen die Wahlen zu der
National-Versammlung angeordnet und setzte demnach voraus, daß auch die polnische Bevölkerung an der Verfassung Theil nehmen solle. Dieser Ansicht sind auch die Abgeordneten polnischer Nation, welche
von Anfang an in unserer Mitte sitzen. Durch die Demarkationslinie wird nur festgesetzt werden, daß die Bewohner, welche sich hinter jener Linie befinden, nicht mehr Theil an die Frankfurter
Versammlung haben und daß die dortigen Beschlüsse keine Kraft für sie haben. Die Idee, das Versprechen einer nationalen Reorganisation brachte einen solchen Jubel in der Provinz Posen hervor und
unterdrückte die schon aufgetauchte Idee einer sofortigen Wiederherstellung des polnischen Reiches. Sogar die Deutschen waren Anfangs damit zufrieden. Die letzten Ereignisse haben zwar bewiesen, daß
Deutsche und Polen nicht mehr friedlich zusammen leben können und daß eine Trennung stattfinden muß. Aber untersuchen wir, woher diese Zerwürfnisse entstanden sind. Die Regierung hatte den Civil- und
Militairbehörden einen sich entgegenstehenden Standpunkt einnehmen lassen. Während die Civilbehörden friedlich handelten, griff der General Colomb in jeder Hinsicht eigenmächtig ein. Er wollte das
polnische Comite verhaften und widersetzte sich den Verfügungen des Generals Willisen. General Colomb ordnete mobile Kolonnen zur Unterdrückung der polnischen Bevölkerung an. Von Potsdam wird dies
ungesetzliche Verfahren des Generals Colomb anerkannt. Trotzdem daß ein verantwortliches Ministerium existirte, schreibt der General Neumann auf allerhöchsten Befehl am 3. April an den General Reyher,
daß der König die Maßregeln des Generals Colomb billige. Wollen wir eine Reorganisation und Sicherstellung der Nationalitäten, so geben Sie eine freie Gemeinde-Ordnung, eine selbstständige Kreis- und
Bezirks-Ordnung, haben Sie die gegeben, so kann sich iede Nationalität zur Geltung bringen. Eine solche Reorganisation will man am Rhein, will man an der russischen und polnischen Gränze. Die
polnische Bevölkerung will unserer freien Institutionen auch theilhaftig werden und sieht darin die ihnen versprochene Reorganisation, deshalb wollen sie in unserer Verfassung eingeschlossen sein.
(Bravo links).
Abg. v. Berg. Ich werde mich bemühen, Ihnen zu zeigen, daß, wenn man die deutsche Frage hier zur Sprache gebracht hat, man nicht Unrecht gethan. Man beantragte, daß die deutschen Kreise der
Provinz Posen in Deutschland aufgenommen würden, und die deutsche Nationalversammlung beschloß, diese Kreise aufzunehmen, und die deutsche Gränze einige Meilen gegen Osten hinauszuschieben. Dazu
gehört aber die Einwilligung Preußens. Wir dürfen den spätern Beschlüssen nicht vorausgreifen durch irgend eine Bestimmung. Das Amendement Philips verlangt die Rechte der polnischen Nationalität
garantirt. Es ist dies nichts anderes, als was schon in Frankfurt beschlossen ist. Man hat erwiedert, daß hier dazu nicht der Platz sei, aber wir wollen endlich den Zweifeln ein Ende machen. Als man
die Reorganisation des Großherzogthums versprach, war man sich nicht klar, daß der ganze Staat einer Reorganisation bedarf. Man zog sich später zurück, aus welchen Gründen, ist unbekannt geblieben,
und noch weiß man nicht, was damit geschehen sollte. Nach einer vorgelesenen Mittheilung des General Pfuel schien es zwar damals Absicht zu sein, durch die Reorganisation Rußland in Gefahr zu bringen.
Der Minister Pfuel sprach zwar damals seinen Unwillen aus, als seine Mittheilung hier vorgelesen worden, da es seine Privatmeinung wäre. Ich kann Ihnen aber mittheilen, daß jener Brief sich unter den
offiziellen Aktenstücken befindet, welche der Kommission zur Untersuchung der polnischen Angelegenheiten, übergeben wurde. Hätte die Regierung damals das Großherzogthum Posen sich reorganisiren
lassen, so hätte sie die Provinz von neuem erobert. Erkennen wir an, daß der polnischen Bevölkerung die Nationalität garantirt werden muß, sowohl diesseits als jenseits der Demarkationslinie, daß
jedem Theile sein Recht werde.
Minister Eichmann. Die Demarkationslinie, wie sie im Mai festgestellt worden, hätte die Frankfurter Versammlung angenommen.
Abg. v. Berg. Die Frankfurter Versammlung hat mit der Festsetzung der Demarkationslinie gar nichts zu thun, das ist eine reine Verwaltungsmaßregel.
Nachdem noch mehrere Redner und der Minister des Auswärtigen gesprochen hatten, wird die Debatte endlich geschlossen, und man schreitet zur Abstimmung. Der Kommissionsentwurf, lautend:
„Alle Landestheile der Monarchie in ihrem gegenwärtigen Umfange, bilden das Preußische Staatsgebiet“
wird mit großer Majorität angenommen und die Amendements Brodowski und Auerswald werden verworfen. Das Zusatz-Amendement des Abgeord. Philipps kommt hierauf zur Abstimmung, es lautet:
„Den Bewohnern des Großherzogthums Posen werden die ihnen bei der Verbindung des Großherzogthums Posen mit dem Preußischen Staate eingeräumten besonderen Rechte gewährleistet. Ein
gleichzeitig mit dieser Verfassungs-Urkunde zu erlassendes organisches Gesetz wird diese Rechte näher festsetzen.“
Die Abstimmung ist zweifelhaft, es muß gezählt werden. Das Resultat: das Amendement ist mit 177 gegen 174 Stimmen angenommen. Die Rechte verlangt die namentliche Abstimmung. Resultat: 157 dafür;
164 dagegen; dies erregt Mißtrauen zur Linken und es wird vielseitig gegen die Richtigkeit dieser Zahlen protestirt. Man bringt zur Sprache, daß der Abg. Riebe beim Namensaufruf für das
Amendement gestimmt habe und daß er nachher von einem deutschposen'schen Abgeordneten so lange gedrängt wurde, bis er nach einer Viertelstunde sein Votum umändern ließ. Der Abg. Riebe
gesteht zu, daß er von seinem Kollegen nach der Abstimmung bewogen wurde, gegen das Amendement zu stimmen. Der Präsident entscheidet, daß sein erstes Votum gelten müsse und die Zahlen darnach
abzuändern seien. Auch gegen das Votum des Ministerpräsidenten Pfuel wird protestirt. Er ist zwar vor einigen Tagen in Birnbaum gewählt worden, aber er hat noch kein Wahlprotokoll eingereicht,
sich auch noch nicht als Abgeordneter gemeldet. Demnach könne er seine Stimme heute noch nicht abgeben. Endlich finden die Sekretäre, daß sie sich geirrt, und daß sie eine Seite mit 15 Stimmen für und
9 gegen das Amendement zuzuzählen vergessen. Große Aufregung. Das Resultat wäre nun, mit Zurückrechnung Riebe's Stimme: 173 für und 172 gegen das Amendement. Dies will man nun wieder nicht von
der Rechten gelten lassen. Sie beantragen, daß die Abstimmung des Abg. Riebe gegen das Amendement gelten solle. Nach Ansicht des Präsidenten ist das ein selbstständiger Antrag, der erst Morgen
zur Debatte kommen könne. Nachdem dieser Streit über die Abstimmung eine Stunde lang mit der größten Leidenschaftlichkeit von beiden Seiten geführt worden war, wird die Sitzung nach 3 Uhr endlich
geschlossen.
@xml:id | #ar126_008 |
@type | jArticle |
@facs | 0634 |
[
103
] Berlin, 23. Okt.
Das Ministerium ist heute wieder in beiden wichtigen Abstimmungen geschlagen worden. Es hatte sich für das Amendement Auerswald erklärt, und dasselbe wird mit großer Majorität verworfen; (ungefähr
210 gegen 130) es sprach mit aller Energie gegen das Amendement Philipps und es wird angenommen. Uebrigens erging es dem Ministerium der bewaffneten Reaktion noch bei allen wichtigen Fragen
nicht anders. Es erklärte sich gegen die unentgeldliche Aufhebung der Jagdgerechtigkeit, der Feudallasten, der Laudemien etc. und sie ging doch mit großer Majorität durch. In Potsdam will man nun alle
diese Gesetze nicht genehmigen. Pfuel und Kisker wollen aber eher ihre Entlassung nehmen, als sich zu solchen antikonstitntionellen Maßregeln verstehen. (?) Seit gestern Abend
spricht man hier vielfach von der Abdankung Pfuels und Kiskers.(?) Als Grund der Abdankung (!!) wird auch noch angegeben, daß man in Potsdam, die Klubs unterdrücken und den
zum 26. zusammenberufenen demokratischen Congreß auf Wunsch der Frankfurter Centralgewalt unterdrücken will. Das Kriegsministerium mit der Präsidentschaft soll bereits dem Grafen
Brandenburg angeboten, von diesem aber ausgeschlagen sein. Sollte nun Pfuel auf seine Entlassung bestehen, so würden Radowitz oder Wrangel seine Stelle bekommen.
Aus allen solchen Maßregeln läßt sich schließen, daß die Kamarilla einen großen Schlag ausführen will. Die Truppen sind um Berlin zusammengezogen, können aber bei der schlechten Witterung nicht
länger im Freien kantoniren. Will man sie nicht unbenutzt wieder auseinanderschicken, so muß man einen Zusammenstoß provociren. Man wird einen Hauptschlag ausführen wollen.
Heute hat man angefangen die fliegenden Korps zu entwaffnen. Mit dem bewaffneten Studentenkorps hat man in der Art den Anfang gemacht, daß man dessen Waffendepot mit Beschlag belegte und den Befehl
gegeben, die vorhandenen 500 Degen und 30 Büchsen ins Zeughaus abzuliefern. Man wagt sich noch nicht so weit, allen Studenten die Waffen abzuverlangen, und nahm fürs Erste nur die vorräthigen Waffen
in Beschlag. Daß soviel im Depot vorhanden waren, kommt daher, daß es zufällig kurz nach den Ferien ist, und die Studenten ihre Waffen noch nicht wieder abgeholt hatten. Die andern Korps hierdurch
aufmerksam gemacht, werden alle vorräthigen Waffen schnell an den Mann zu bringen wissen.
Der König hat sich veranlaßt gefunden, das Benehmen der Bürgerwehr am 16. d. zu belobigen. Er hat folgende Kabinetsordre, vom Minister Eichmann kontrasignirt, an das Kommando der Bürgerwehr
abgesendet: „Die Bürgerwehr meiner Haupt- und Residenzstadt Berlin hat bei den beklagenswerthen Ereignissen des gestrigen Tages sich würdig gezeigt ihres Berufes, meines Vertrauens und der
Ehre, die Ich ihr erzeigte, als Ich ihr im März die Waffen in die Hand gab zur Vertheidigung des Thrones, unserer Gesetze und der gestörten Ordnung. Ich gebe Ihnen auf, der Bürgerwehr Meinen
anerkennenden Dank dafür in Meinem Namen auszusprechen. Ich spreche ihn aus mit dem Gefühle einer erfüllten Hoffnung, eines gerechtfertigten Vertrauens, einer trostreichen Aussicht in die Zukunft.
Sanssouci, den 17. Oktober 1848.
Friedrich Wilhelm.“
Als diese Kabinetsordre in den Klubs vorgelesen wurde, wurde sie mit dem größten Unwillen aufgenommen. So klug ist die Bourgeois auch, den Sinn solcher Worte deuten zu können und er ist entrüstet
über eine solche Sprache, das ist nicht die Sprache vom 19. März, die klang ganz anders.
@xml:id | #ar126_009 |
@type | jArticle |
@facs | 0634 |
Berlin, 21. Octbr.
Wir hofften, die Charlottenburger Vorfälle sollten das Verdienst haben, einzig in ihrer Art dazustehen. Leider aber haben sie in der blutigen Elbinger Geburtstagsfeier ihresgleichen gefunden. Wie
wir hören, ist von der Regierung bereits ein Kommissarius nach Elbing geschickt, der an Ort und Stelle von der Lage der Dinge Kenntniß nehmen soll. Er wird dort ein Rest von Reaktionären vorfinden,
denen gefährliche Pläne schon lange im Stillen wuchern, und die jetzt zum zweiten Male die Straßen Elbings mit Blut gefärbt haben. Die frühere Wohlfeilheit der Lebensbedürfnisse hatte allmälig eine
bedeutende Zahl von pensionirten Offizieren nach Elbing gelockt. Sie begründeten dort einen Heerd der Reaktion-Intriguants; die bei der herrschenden liberalen Richtung nicht ihre Rechnung fanden,
schlossen sich den Grauköpfen mit rothem Kragen an. So entstand allmälig eine Liga, die jede liberale Regung zu ersticken sich bemühte und mit ihren heißesten Wünschen ein Auto da Fe aller Liberalen
herbeisehnte. Wie unwillkommen dieser Clique die Märzrevolution war, läßt sich leicht denken; ist es ja in weiteren Kreisen bekannt geworden, daß einer dieser Herren die Bezeichnung
„Urwähler“ als Schimpfwort braucht. In Elbing wie anderswo ist ein großer Theil des Volkes noch ohne politisches Bewußtsein, und da die Reaktionäre kein Mittel für ihre Zwecke zu
schlecht halten, so gelang es ihnen, die Kehlen und Fäuste der Proletarier für sich zu gewinnen. Aber wir könnten der Reaktion mit jenem Griechen sagen: „Wehe Euch, wenn das Volk zur Besinnung
kommt!“
[(Nat.-Ztg.)]
@xml:id | #ar126_010 |
@type | jArticle |
@facs | 0634 |
Berlin, 24. Okt.
Die Wahl des Hrn. v. Vincke zum Abgeordneten ist in der Sitzung der Nationalversammlung am Sonnabend als gültig anerkannt worden. Es ist noch nicht bestimmt, ob Hr. v. Vincke sofort seinen Sitz
einnehmen wird.
Der frühere Minister, Hr. v. Bodelschwingh, soll an Stelle des, wegen seiner Ernennung zum Kriminalgerichts-Direktor ausgeschiedenen Abgeordneten Harrassowitz, für den Teltower Kreis gewählt worden
sein. Die Teltower Bauern sind doch ein tüchtiger Schlag Leute!
[(Neue Pr. Z.)]
@xml:id | #ar126_011 |
@type | jArticle |
@facs | 0634 |
Birnbaum, 12. Okt.
Heute wurde hier an der Stelle des Deputirten Rißmann, der sein Mandat niedergelegt hat, eine Neuwahl für die Berliner Nationalversammlung getroffen, bei der sich leider die polnischen Wahlmänner
nicht vollständig betheiligten. Die Zahl der anwesenden Wahlmänner betrug 74; absolute Stimmenmehrheit 38; davon erhielt General Pfuel (den das Journal des Debats, wahrscheinlich einem Witze der Neuen
Rheinischen folgend, Pfuel d' Höllenstein genannt hat) 42, Hr. Hasa von Lewitz 26, der Exminister Märcker 6 Stimmen. Hr. v. Pfuel ist demnach zum Vereinbarer erwählt.
@xml:id | #ar126_012 |
@type | jArticle |
@facs | 0634 |
[
*
] Dortmund, 25. Okt.
Unser „rechtes“ Westphalen, welches in Frankfurt glanzvoll durch Hrn. v. Vincke vertreten ist, hat auch endlich in Berlin in der Person des Hrn. Schultz (Oberlandesgerichtsassessors)
seinen „Redner“ gefunden. Der Parteihaß wird jetzt sich nicht mehr zu sagen erlauben, daß die Westphalen in Berlin keine drei Worte zusammenbringen können. Hr. Schultz ist eine
christlich-westphälische Gemüthsinnerlichkeit. Aeußerlich ist wenig an Hrn. Schultz. Diabolisches ist in ihm nur soviel, als das Studium der westphälischen Juristerei in ihn hineingebracht hat. Wenn
Heine in seinem Wintermärchen die Westphalen sentimentale Eichen nennt, so muß man wohl unterscheiden Westphalen grenzt an Holland. Neben den Gemüthsmenschen gibt es bei uns eine erschreckliche Zahl
jener kalten, trockenen, schweigsamen, kalkulirenden, hinhorchenden, abwartenden holländischen Biedermänner, welche die Interessen des Staats mit ihren eigenen angenehm zu verknüpfen wissen. Warum
sitzt Hr. Schultz neben Hrn. Harkort, Ostermann, Müllensiefen u. s. w.? Weil er die Anschauungsweise dieser Vertreter theilt? mag sein, aber es wäre auch gemüthlos, sich von seinen lieben Landsleuten
zu trennen. Es wäre das gegen die deutsche Einigkeit. Unsere Holländer werden den gemüthlichen Schultz schon zu benutzen wissen. Schon in seiner Jungfernrede stellte sich Hr. Schultz auf den
Standtpunkt des Gefühls und flötete von „jenem Gefühl“, welches in Millionen nach Herstellung gesetzlicher Ruhe und Ordnung sich rege. Bei seinem zweiten Debüt, welches einen so
kläglichen Ausgang für ihn nahm, sprach das „entrüstete Gemüth“ aus ihm. Es wäre viel gemüthvoller gewesen, wenn Hr. D'Ester zu den sentimentalen Eichen hingegangen wäre und hätte
ihnen gesagt: Liebe Leut', seid doch so gut und nehmt euch der armen Hungerleider im Ravensbergischen an. Die entrüsteten Worte, welche Hr. Schultz zur Versammlung sprach, erinnern lebhaft an
eine ähnliche Scene im hiesigen Karneval 1847. Hr. Schultz war Narrenpräsident, wozu er viel Geschick hatte; sprach sich aber als solcher gegen das Einmischen der Politik, vorzugsweise gegen die
Demokratie aus, von welcher er sagte, daß sie keinen Hund hinter den Ofen weglocken könnte. Der Präsident fand lebhafte Opposition. Da stürzte Hr. Schultz mit leichtfüßiger Schnelligkeit auf die
Rednerbühne und donnerte die entrüsteten Worte: die Art und Weise, wie man hier die karnevalistischen Vergnügungen betreibt, ist einer hohen Narrenversammlung unwürdig.
Dortmund hatte lange Zeit seine Hoffnungen auf Hrn. Ostermann (auch Oberlandesgerichtsassessor) gebaut. Mit seinem Abstimmen scheint man auch zufrieden zu sein. Selbst damit, daß er (nach der Köln.
Ztg.) zu den „ausgezeichneten“ Mitgliedern gehört, welche gegen das Jagdgesetz stimmten. Dortmund möchte aber gar zu gern einmal auch einen „Redner“ haben. Hr. Ostermann
ist Dortmunder Patrizier und galt hier, und zwar mit Recht, für das erste politische Glied.
Als Hr. Ostermann lange Zeit schweigsam wie das Grab war, sagte man sich hier: Hr. Ostermann ist schlau, er paßt seine Zeit ab. Als er einmal für den Schluß einer Debatte sprach (unter allgemeiner
Heiterkeit) so hieß es: Jetzt kommt's. Als er endlich zum stellvertretenden Schriftführer ernannt wurde, da rief man: da haben wir's. Hr. Ostermann hat sich hier die Gemüther ein wenig
entfremdet, weil er zu patriziermäßig mit den Dortmundern umspringt. Andere westphälische Vertreter schreiben sich die Finger ab, für ihre heimathlichen Wochenblätter. Hr. Ostermann hat erst zwei
winzige, schlechtstylisirte Briefchen hierher geschickt. In einem dieser Briefchen nennt er die Revolution einen mystischen Begriff, und schließt also: ich muß schließen, weil ich in die
Versemmlung muß. Trotz alle dem hofft man hier, daß Hr. Harkort, Minister des Innern, Hr. Müllensiefen Minister des Handels und Hr. Ostermann Justizminister noch werden könnten. Bei Gott ist Alles
möglich.
@xml:id | #ar126_013 |
@type | jArticle |
@facs | 0634 |
[
31
] Minden, 22. Okt.
Außer der Ihrer Zeitung schon mitgetheilten Mißhandlung eines hiesigen Bürgers sind noch mehrere Exzesse der Soldaten gegen „friedliche“ Menschen bekannt geworden. Das veranlaßte den
demokratischen Verein und den Volksverein, eine Volksversammlung zusammenzuberufen, um zu berathen, wie diesem Soldatenübermuthe ein Ende zu machen sei. Die Bürger dürfen nicht mehr wagen, unbewaffnet
Abends ihr Haus zu verlassen. Wie Räuber fallen die Soldaten über Wehrlose her, und prügeln sie, ja „sie würden das noch ärger treiben“ sagen sie. Ob sie dazu Befehle von Oben erhalten
haben, weiß ich nicht ‒ die Feindseligkeiten der Soldateska sind aber zum größten Theile der Aufreizung der Offiziere gegen „nicht preußisch Gesinnte“, gewiß auch der
unwiderstehlichen Beredtsamkeit des Obristen S. zuzuschreiben, der den Soldaten den Befehl ertheilt haben soll, Jeden auf die Wache zu schleppen oder ‒ hinter die Ohren zu schlagen, der ihnen
Plakate, wie die der „Demokraten Berlins an die Soldaten“ anzubieten wage. Genug, die Bürger sind empört über diese schmählichen Excesse. In der Volksversammlung riefen die Mittheilungen
der einzelnen Redner eine große Entrüstung hervor. Eine Kommission wurde gewählt, welche eine Sammlung aller vorgekommenen Excesse mit den Zeugenaussagen veranstalten und auf Grund dieses Materials
eine Adresse an die Nat.-Versammlung in Berlin zur Interpellation an das Kriegsministerium entwerfen soll. Mit der einfachen Untersuchung von Seiten der Militärbehörden wollten sich die Bürger nicht
zufriedenstellen. Sie wollen, daß der Stein'sche Antrag und Beschluß gegen die Reaktion im Heere, nicht nur auf dem Papier bleibe, und daß den Kriegsknechten die irrige Meinung benommen werde,
als besäßen sie das Privilegium, die Bürger zu prügeln. Diese müssen sonst glauben, den Helden in rothblauen Röcken sei ein Freibrief für alle Rohheiten und Excesse ertheilt
worden.
@xml:id | #ar126_014 |
@type | jArticle |
@facs | 0634 |
[
100
] Bielefeld, 23. Okt.
Am gestrigen Tage fand in dem Dorfe Brackwede eine große Volksversammlung statt. Es waren an 3000 Menschen versammelt. Der demokratische Verein hatte sie berufen, um das Verhältniß der Urwähler zu
den s. g. konstituirenden Versammlungen von Frankfurt und Berlin zu besprechen. Weil die Versammlung nicht unter freiem Himmel stattfinden konnte, so wurde sie in einem großen Garten, also in einem
„geschlossenen Raume“ abgehalten. Die Behörden nämlich hatten sie ‒ aus Mangel an Gründen, zur Verhütung möglicher Weise stattfinden könnender Excesse und Unruhen verboten. Der
Landruth sprach in einer Unterredung mit dem Vorsitzenden des demokratischen Vereins, Kaufmann Rempel, die Ansicht aus: „er könne aus dem § 4 des Gesetzes vom 6. April nur herauslesen,
daß die Regierung überhaupt Volksversammlungen nicht dulden dürfe!“ Nicht „dulden“ dürfe! So interpretiren königl. Behörden das „Versammlungsrecht.“ In der
That können sie jede Volksversammlung unter dem Vorgeben, „daß die öffentliche Ruhe und Ordnung gefährdet seien, verhindern. Also ‒ die Versammlung wurde verboten, fand aber doch
in dem „geschlossenen Raume“ statt. Der erste Redner, Fr. Schnacke, forderte die Versammlung auf, in einer Adresse an die Nationalversammlung in Frankfurt auszusprechen, daß diese
„Gesellschaft“ das Vertrauen des Volkes verloren habe, insbesondere den Abgeordneten Schreiber aufzufordern, sein Mandat in die Hände seiner Wähler zurückzugeben. R. Rempel sprach über
die Gemeindeordnung, wie sie von den Deputirten der Linken entworfen worden ist, und forderte die Versammlung auf, in einer Adresse an die Nationalversammlung in Berlin diese aufzufordern, daß sie bei
ihren Berathungen über die Gemeindeordnung nur diesen D'Ester'schen Entwurf zu Grunde legen möge, dann auch, dem Abgeordneten d'Ester den Dank der Versammlung dafür auszusprechen,
daß er sich so warm der Interessen unserer armen Spinner und Weber angenommen habe. Die Adressen waren bald mit einer Menge Unterschriften bedeckt und die Versammlung ging in „Ruhe und
Ordnung“ auseinander. Die Bielefelder Heuler, die einen Einfall in die Stadt und einen Raubzug befürchteten, in die Kaserne liefen, um für den „möglichen Fall einer möglichen
Aufregung“ möglichst rasch mit den Bajonetten bei der Hand zu sein, konnten noch einmal ruhig schlafen. Der Muth dieser konstitutionellen Bürger ist bewunderungswürdig!
Der demokratische Verein hat die Nationalversammlung in Berlin aufgefordert:
1) in die Verfassung einen, das Versammlungsrecht des Volkes vor Uebergriffen von Seiten der Staatsgewalt sicherstellenden Paragraphen aufzunehmen.
2) bis zum Erlaß dieses Gesetzes aber den Behörden den Paragraphen 4 des Gesetzes vom 6. April über Volksversammlungen dahin zu interpretiren, daß das Versammlungsrecht „unter freiem
Himmel“ nicht durch Uebergriffe der Behörden gefährdet werde.
@xml:id | #ar126_015 |
@type | jArticle |
@facs | 0634 |
Koblenz, 24. Octbr.
Die vom hiesigen demokratischen Vereine beschlossene, mit mehr als 700 Unterschriften bedeckte Mißtrauensadresse an Hrn.
Schlink in Berlin lautet, wie folgt: „Die Bürger der Stadt
Koblenz, welche immer an der Spitze des zeitgemäßen Fortschrittes standen, bezweckten auch in diesem Frühjahre, die Abgeordnetenversammlung in Berlin mit einem Deputirten zu beschicken, der mit Kraft
und Muth die Rechte des
[0635]
Volkes fördere und wahre. Sie mußten aber leider die traurige Erfahrung machen, daß sie sich in der auf Sie, Herr Schlink, gefallenen Wabl völlig getäuscht haben. Statt die Errungenschaften des Märzes
zum Besten des Volkes zu befestigen und ihm die lange vorenthaltenen, unveräußerlichen Rechte wiederzugeben, versuchten Sie, die junge Freiheit den Armen des Absolutismus zuzuführen, damit sie wieder
erstickt werde. Nicht allein standen Sie auf der Seite der volksfeindlichen Partei, der äußersten Rechten, sondern Sie gingen sogar in Ihren Reden und Anträgen über deren Tendenzen hinaus. Wir
erinnern nur an Ihr Amendement wegen Einberufung des Baldenaire, durch welches Sie den Eintritt dieses liberalen Deputirten unmöglich machen wollten; an Ihren Antrag auf Tagesordnung bei der Debatte
über Abschaffung der Todesstrafe; an Ihre Reden für den ministeriellen Verfassungsentwurf und für den eximirten Gerichtsstand des Militärs. Doch wir wollen Ihre vollständige Wirksamkeit nicht
aufzählen, da Sie wohl selbst zugestehen müssen, daß wir nicht zu viel behaupten, wenn wir sagen:
Die äußerste Rechte war Ihnen noch zu freisinnig. Ihre Ansichten stehen im grellsten
Widerspruche mit jenen Ihrer Kommittenten; Sie haben für den Absolutismus gehandelt, und wir verlangen größtmögliche Freiheit für das Volk. Dieser Widerspruch kann ihnen nicht unbekannt sein, da statt
der von Ihnen vorausgesetzten
Freude über das Bürgerwehrgesetz, von den hiesigen Bürgern Proteste gegen dasselbe erhoben wurden. Sie genießen nicht mehr das Vertrauen Ihrer Vollmachtgeber, und
Ihr Bleiben in der Abgeordnetenversammlung ist eine Unmöglichkeit; denn welcher Mandatar kann mit Ehren noch die Geschäfte seines Mandanten besorgen, der ihm erklärt hat, daß er kein Vertrauen mehr zu
ihm hege? Wir hoffen daher, daß Sie Ihr Mandat
sofort niederlegen, damit die Stadt Koblenz in den Stand gesetzt werde, zu der wichtigsten Epoche der Versammlung, den bevorstehenden Debatten
über die Verfassung, einen Abgeordneten zu wählen, der ihre Wünsche kennt und mit ihrer Gesinnung übereinstimmt.
Koblenz,20. Oct. 1848.“
@xml:id | #ar126_016 |
@type | jArticle |
@facs | 0635 |
[
!!!
]Frankfurt, 23. Oktober.
Sitzung der Nationalversammlung.
Tagesordnung:1) Berathung über den Bericht des Ausschusses für die österreichischen Angelegenheiten. ‒ Berichterstatter Schubert.
2) Fortsetzung der Berathung übrr Art. II. (§§. 2, 3, 4) des Verfassungsentwurfs.
Vor der Tagesordnung
von Schmerling (Minister) beantwortet die von Reden und Franke gestellten Interpellationen über die Schleswig-Holsteinischen Verhältnisse. (S. vorletzte Sitzung.) ‒ Von der
provisorischen Regierung Schleswigs sind Beschwerden an das Reichsministerium gelangt. Hierüber sind Mittheilungen an den Reichsgesandten in Kopenhagen gemacht und er zur Protestation gegen jede
Unbill seitens der Dänen aufgefordert.
Auf Möllings Interpellation wegen der Anerkennung des Gesetzes über die Rechte der provisorischen Centralgewalt Seitens aller Einzelstaaten Deutschlands, antwortet Schmerling mit
außerordentlich vielen Worten.
Die formelle Anerkennung des Gesetzes von fast allen Staaten ist erfolgt. In materieller Beziehung: was Anordnungen zur Ruhe, Sicherheit und Ordnung von Deutschland betrifft, sind solche nirgends
auf Widerstand gestoßen. (Das glaub' ich!). ‒ Mit der Verfügung über alle Reichstruppen scheint noch nicht alles im Klaren zu sein, denn Herr von Schmerling wendet einen großen Aufwand
von Worten an. ‒ Preußen stellt durch Camphausen die ganze Heermacht (326,000 Mann) zur Verfügung der Reichsgewalt. (Bravo im Centrum und rechts.) Mit der österreichischen Heermacht sieht es
etwas dunkel aus. ‒ Was den völkerrechtlichen Verkehr anbelangt, fast alle Mächte Europa's u. s. w. sind oder werden noch mit Reichsgesandten bestens versehen. ‒ Das Ministerium
erkennt als nöthig, daß künftig alle Gesandtschaften der Einzelstaaten wegfallen.
Wo noch Auflehnungen gegen das Gesetz stattfinden, gehen dieselben nicht von Regierungen aus, sondern von den Fraktionen einzelner Kammern. (Bravo im Centrum.)
Auf Kerst's Interpellationen (S. oben): Offizielles ist dem Ministerium nicht bekannt, übrigens überläßt er es der Versammlung, zu beurtheilen, in wie fern die Ernennung eines
polnischen Generals zum Commandanten der Nationalgarde, die Wiener Bevölkerung charaktirisirt. (Gelächter und Bewegung).
Dukwitz (Handelsminister) beantwortet eine Interpellation von Reden's über Abänderungen im deutschen Zollwesen. ‒ Alle nöthigen Abänderungen werden (nicht jetzt im Einzelnen)
sondern sobald dies angeht im Ganzen ihre Erledigung finden.
von Beckerath (Finanz) beantwortet eine Interpellation von Maifeld wegen der Badenschen Nichtbewilligung der Portofreiheit für die Abgeordneten. ‒ In Baden kann dies nicht auf dem
Verwaltungswege geschehen, sondern mußte auf verfassungsmäßigem Wege ein Ausnahmegesetz geschehen.
Folgt die Kostenvorlage des Aufwands für die Nationalversammlung und die provisorische Centralgewalt vom September d. J. bis zum Ende Dezember. ‒
Der gesammte Aufwand beträgt 10. Millionen und verschiedene 100,000 Gulden (Große Sensation). Folgen die einzelnen Posten.
Die Vorlage wird gedruckt. (Von der Linken mehrere Stimmen wehmüthig: 10 Millionen!)
Die Einnahmen und Bestände betragen im Ganzen 8 Millionen und mehrere 100,000. ‒ Defizit etwas mehr als 1 Million, welche durch Umlage nach der Bundesmatrikel herbeizuschaffen. ‒
Zum Schluß versichert Beckerath, daß alle Ansätze möglichst billig (soweit es die Würde der Nation zuläßt) gemacht sind. ‒ Folgen einige Worte zur Rechtfertigung der nothwendigen
Repräsentation einer tüchtigen und würdigen Centralgewalt. (Bravo im Centrum.)
Jucho. Seine Interpellation (bezüglich der russischen Gesandtschaft. S. oben). sei vom Minister nicht beantwortet.
Schmerling. Er glaube, Jucho's Interpellation sei durch seine obigen Erklärungen, so weit als jetzt möglich, genügend beantwortet. (Gelächter.)
Sellmer beantragt dringlich Punkt 2 der Tagesordnung vorauszunehmen. ‒ Der Antrag wird nicht als dringlich erkannt. Es bleibt bei der heutigen Tagesordnung.
Simson nimmt den Präsidentenstuhl ein, und verliest die Anträge des Ausschusses in den östreich'schen Angelegenheiten.
Die Majorität beantragt:
Die Nationalversammlung möge beschließen:
1) Die von der provisorischen Centralgewalt für Deutschland verfügte Abordnung von Kommissären nach Wien, ‒ in welcher die Nationalversammlung sowohl ein Mittel zur Abwehr des Bürgerkrieges
und zur Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung, als auch gleichzeitig eine Gewähr der Sicherung der Interessen Deutschland's wahrnimmt, ‒ gutzuheißen;
2) Das Reichsministerium aufzufordern, nach Maaßgabe der von den Kommissären eingehenden Berichte, sogleich die weiter erforderlichen Schritte zu thun, insbesondere aber mit aller Entschiedenheit
jede zum Schutze etwa in Frage gestellten Interessen Deutschland's nothwendige Maaßregel zu ergreifen, und über dieselben der Nationalversammlung Mittheilung zu machen.
v. Beisler. Schubert aus Königsberg. Loew aus Posen. Sommaruga aus Wien. Schrenk aus München. Franke aus Schleswig. Weiß aus Salzburg. Arneth aus Wien. v. Zenetti. Neumayr aus München.
Minoritäts-Frachten.
Die Reichsversammlung möge beschließen:
1) das Reichsministerium aufzufordern, bei den gegenwärtig eingetretenen Zuständen in Oesterreich alle hier in Frage gestellten Interessen Deutschland's in Schutz zu nehmen, und sie mit
allen Kräften Deutschland's zu unterstützen;
2) das Reichsministerium aufzufordern, Sorge dafür zu tragen, daß alle in deutsch-österreichischen Landen befindlichen Truppen nur den verfassungsmäßigen und gesetzlich verantwortlichen Organen zur
Verfügung stehen;
3) Das Reichsministerium aufzufordern, die Ausführung und Verwirklichung dieser Beschlüsse unmittelbar den von der Centralgewalt abgesandten Kommissären zu übertragen.
Benedey. Ignaz Kaiser aus Wien. Kirchgeßner aus Würzburg. Reitter aus Prag. Pattai aus Graz.
Hierzu Folgen 4 Verbesserungsanträge. Folgen später, wenn sie angenommen werden sollten, die von Berger (welcher u. a. Zurückberufung des Kaisers nach Wien, Stellung aller östreichischen Truppen
unter den Reichstag etc. beantragt), werden vom Centrum mit Gelächter begrüßt. ‒ Eine Menge Redner haben sich eingeschrieben. Zuerst spricht:
Reitter aus Prag (gegen die Ausschußanträge, die ihm natürlich viel zu schwach und hohl sind. Daß man die Ermordung Latours der Demokratie schuldgeben will, sei eine Ungerechtigkeit,
ebensogut könne man den Mörder von Henri IV. einen Demokraten nennen, weil er einen Fürsten ermordete. ‒ In dem Benehmen des Wiener Reichtages findet der Redner nicht die Spur von
Demokratischem (Geht manchem andern ebenso!) Die Slaven säßen im Reichstage auf der rechten Seite, nicht weil sie das konservative Prinzip repräsentire sondern um dem deutschen Element auf der Linken
entgegenzuwirken. Was man von der Anarchie der Wiener Bevölkerung spräche, sei unwahr. Das Benehmen des Ministerums gegenüber dem Jellachich sei Anarchie zu nennen. (Bravo links.) Die Vorwürfe die man
der Aula macht seien ungerecht. Die Flucht vieler Wiener sei nicht der Furcht vor der Anarchie zuzuschreiben, sondern der Furcht vor den Räuberhorden des Jellachich. (Bravo links.) Der Redner erblickt
nur eine nationale Bewegung in Wien, obschon mit etwas demokratische Färbung, welche leicht erklärlich; denn mit konservativen Prinzipien könne man keinen Umsturz bewerkstelligen. ‒ Woher kommt
denn auf einmal die Unterordnung der Swornost unter Windischgrätz, den man noch vor kurzem in Prag aufhängen wollte? ‒ Links hört! hört! ‒
Die Kanonen welche aus Prag nach Wien geführt wurden, wurden von czechischen Studenten mit Blumen bekränzt. Geschah dies etwa in Folge der ultrakonservativen Grundsätze der Prager Studenten? (Links
hört!)
Aus diesem Allem geht hervor, daß die Bewegung keine Demokratische sondern eine Nationale. ‒ Den Bericht des Ausschusses erwähnt Reitter tadelnd. Es finden sich viele Ungerechtigkeiten
darin. ‒ Der Redner hat noch mehrere Data in petto, will aber die Versammlung nicht zusehr aufregen (im Centrum: Schluß!) Es ist in Oestreich so weit gekommen, daß die Slaven zu uns Deutschen
sagen: „wenn ihr nicht nach unserer Peitsche tantzt, werden wir die Russen euch über den Hals bringen.“ ‒ (Großes Murren der Centren ‒ links: Ruhe! Der Präsident ermahnt
den Redner keine Meinung auszusprechen, die auf nichts fußt.) (Bravo links.)
Meifeld aus Oestreich. Für die Antrage des Ausschusses. ‒
Berger aus Wien. Die Ereignisse in Wien haben gezeigt, daß es mit der Prophezeiung des Ministeriums auf meine Interpellation vor etwa drei Wochen: „Daß Ministerium werde der Anarchie
von unten ebensosehr entgegenwirken wie der Reaktion von oben“ nicht so ernst zu nehmen sei. (Heiterkeit.) ‒ Der Anarchie sei man kräftig (mit Kartätschen) entgegengetreten, die Reaktion
habe man mit Reichstruppen unterstützt. Der Redner greift das Ministerium mit heftigem Sarkasmus an. ‒ Mann hat die Anarchie in Wien hervorzurufen gesucht, um die Herrschaft der Reaktion darauf
zu bauen. (Bravo.( Die Russen würden durch Gallizien nach Ungarn hereingezogen. (Links sehr laut: hört!) ‒ Man habe den Muth der Reichskommissäre gerühmt, die sich bereitwillig in die Gefahren
stürzen wollten.
Diese Kommissaire seien zuvörderst nach München gereist, um dort ihre österreichischen Studien zu machen, in der Art würden sie fortfahren. (Gelächter.) Das Reichsministerium habe das System
organisirter Langweile zu dem seinigen gemacht. (Centrum: Oh! Links: Ja!) Allerdings seien die Deutschen in Oesterreich Demokraten und dies sei keine Schande; er (Berger) würde, wenn die Deutschen in
Oesterreich nicht das demokratische Element wären, sondern die Slaven, sich gar nicht bedenken, zu dieser Partei überzutreten. (Links: Bravo! Centrum: Mißbilligung).
Sommaruga wird diese Angelegenheit würdig besprechen. (Soll heißen, nicht so wie Berger, sondern wie die Majorität des Ausschusses). Herr Sommaruga beweist, daß im ungarischen Reichstag nur
Phrasenhelden und politische Monopolisten sitzen (Centrum: Hört! Hort!) und verbreitet sich weitläufig über die Ungarn. Herrn Jellachich sucht der Redner zu rechtfertigen. Er glaubt nicht, daß
derselbe das Werkzeug der Camarilla. (Gelächter links).
Schmidt aus Löwenberg. (Centrum: Schluß! links: Reden) Die Centren verlassen massenweise das Haus. Die Mittagsessenzeit ist da. ‒ Bergers Anträge sprechen am besten die Wünsche des
Redners aus.
Schmidt spricht seine Bewunderung über den Muth und Edelsinn der Ungarn und des Wiener Volkes aus, und wünscht ihnen Sieg über die Camarilla! ‒ So wie man von der Wahrung der deutschen Ehre
vor dem Malmöer Waffenstillstande gesprochen, so spreche man jetzt von der Wahrung der österreichischen Ehre, bis sie verloren sein wird.
Er beantragt: daß das Ministerium nur immerhin wieder ruhig zusehn möge bei den österreichischen Verhältnissen. (Bravo links.)
v. Vincke spricht für die Ausschußanträge und macht seine gewöhnlichen persönlichen Ausfälle, von den Centren und der Rechten beklatscht, von der Linken verlacht und gemißbilligt. (Simson
zur Linken: lassen Sie den Redner ruhig sprechen, ihre Redner werden ihn widerlegen.) von Vincke tobt gegen die Aula. Ein Redner von Links (sagt Vincke) habe einen österreichischen Minister getadelt,
welcher schon konstitutionell gesinnt gewesen, als der geehrte Redner noch in den Windeln lag. (Links hönisch: Bravo.) Vincke ärgert sich. Links schwärme man der Reihe nach für alle möglichen
Nationalitäten, jetzt für die Magyaren. (Links: Bravo.) Er Vincke, will dem Ministerium durchaus in dieser Angelegenheit ein Vertrauensvotum geben. (Links hönisch: Bravo!)
Vogt (links: Reden! Centrum: Schluß! Die Gallerie klatscht.) Ich will nicht, wie der vorige Redner, in dem Augenblicke Witze reißen, wo es sich um die Exsistenz eines edlen Volkes handelt;
deshalb werde ich auch den vorigen Redner nicht widerlegen. (Heftiger Beifall.) Vogt untersucht, ob das Reichsministerium ein Vertrauensvotum verdient, ob es der Träger der deutschen Freiheit? Das
Resultat können Sie sich denken. 4 Gesetze befinden sich im Gesetzbuch, welches bis jetzt die Centralgewalt edirt: 1) Ueber die Centralgewalt. 2) Ueber Verhaftung von Abgeordneten. 3) Das Gesetz zum
Schutz der Versammlung. 4) Neue Steuerausschreibungen. (Großes Gelächter!) Das Reichsministerium war bis jetzt keine Regierung, nur eine Polizei. (Links: Sehr gut!) Vogt verfolgt die bisherige
Wirksamkeit des Ministeriums mit viel Ironie zum großen Vergnügen des Hauses. Auf die Wiener Erhebung kommend: „ Als alle Hoffnung schwand, daß die schändlichen Bestrebungen der
österreichischen Comarilla und Reaktion von andrer Seite her niedergedrückt werden könnten, da erhob sich das edle Volk, und seiner kurzen Anarchie haben wir den jetzigen Zustand zu danken, wie Sie
der kurzen Anarchie des März es zu verdanken haben, daß Sie jetzt hier sitzen. (Heftiger Beifall.)
Für Latours Tod beschwört man die Rache, aber nicht für die niederträchtige Verstümmelung der 4 Studenten durch Auerspergsche geregelte Truppen, die zur Zeit der hergestellten Ruhe verübt, während
jener Mord zur Zeit der höchsten Wuth.
Wo ist den die unpartheische Bekämpfung der Anarchie? (Bravo.) Die verrätherischen Czechischen Deputirten verlassen den Reichstag, gehen nach Brünn, fordern die andern Deputirten zu offnem Verrath,
zu einem 2ten Reichstag auf ‒ was thut das Ministerium? Nichts! Was würde das Ministerium thun, wenn eine Fraktion unserer Linken austreten möchte, und etwa in Berlin ein neues deutsches
Parlament zu gründen versuchen würde? Es würde schreien: „Verrath! Verrath!“Nach dem Allen ‒ also diesem Ministerium wollen wir ein Vertrauensvotum geben? (Gelächter und lautes
Bravo!) Die Herren (aus dem Centrum) möchten sich doch freuen, daß die Bewegung in Wien eine demokratische sei, da würde ihnen ja endlich von daher die demokratische Grundlage gegeben werden für ihre
konstitutionellen Monarchien! (Bravo!) Die Bewegung, jetzt unterdrückt, wird wiederkehren und dann nicht vor der konstitutionellen Monarchie stehen bleiben, sondern ‒! Vogt verliest eine
Ansprache der Wiener Studenten an das deutsche Parlament. (Rechts lacht man! Vogt meint, es sei nicht zu lachen über die Aula, die das herrlichste Corps, was für die deutsche Freiheit einsteht.
(Warmer Beifall links und Gallerien.) Vogt behauptet, die österreichische Camarilla beabsichtigt den Bund mit der russigen Knute. (Pfui!) Vogt droht schlüßlich: „man möchte nicht auch
Oesterreich zu einem Freiheitsgrabe machen, wie man schon Deutschland dazu gemacht.“ (Stürmischer langanhaltender Beifall. Schluß! Schluß!) Bassermann will noch das Wort haben. (Schluß!) Der
Schluß der Debatte wird abgelehnt.
Eisenmannfür die Ausschußanträge mit geringen Modifikationen.
Benedeyfür das Gutachten der Minorität.
Bassecmannfür die Anträge der Majorität Die Croaten seien nicht als Freiheitsmörder anzuklagen. Sie hätten gewissermaßen Recht. (Unterbrechung links!) Bassermann: es wäre doch anständig,
wenn Sie mich nicht unterbrächen. Links: Wir brauchen ihre Anstandsregeln nicht. Simson (Präs.) ruft die Unterbrecher zur Ordnung.) Bassermann meint im Reichstage von Wien säßen Männer die seiner
Ansichten wären, z. B. Löhner und Schuselka, welchen man doch wahrhaftig nicht einen „Schwarzgelben“ nennen würde. (?) Der Kampf Oesterreichs gegen die Ungarn sei ein Kampf der Freiheit
gegen die Tyranen. Die Magyaren unterstützen den Bürgerkrieg. Der Kommandant Messenhauser in Wien gäbe die Erlaubniß zu Erpressungen. Der Reichstag sei von Leuten aus dem Volke bedroht ‒ in
seinen Entschlüssen beschrankt. (Widerspruch links!) Nach Bassermann ist die ganze Wiener Freiheits-Erhebung eine verrätherische Emeute. Wir müssen darüber trauern. (Bravo rechts und Centren ‒
Zischen und fortgesetztes pfui! links und Gallerie.) Die Debatte wird geschlossen.
Schilling erhält das Wort zu einer persönlichen Bemerkung. Er weist eine Verdächtigung Sommarugas, welche ihn beschuldigt in das kaiserliche Hoflager um dort zu horchen gegangen zu sein, mit
Verachtung zurück. Er sei dahin gegangen im Auftrage des verantwortlichen Minister Hornbostl. (Bravo.)
Sommaruga: Es ist ihm nicht eingefallen mit seiner Bemerkung irgend eine Person bezeichnen zu wollen. Also man hat den Herrn von Sommaruga gemeint? Vielleicht einen Geist?
Schubert,Berichterstatter der Majorität empfiehlt die Anträge derselben.
Folgt die namentliche Abstimmung über den Antrag der Majorität des Ausschusses. (S, oben.) Derselbe wird mit 250 Stimmen gegen 216 Stimmen angenommen. Alle andere Zusatz-Anträge
werden verworfen. Das Ministerium hat also eine Majorität von 84 Stimmen.
Die Sitzung wird um 1/2 4 geschlossen.
@xml:id | #ar126_017 |
@type | jArticle |
@facs | 0635 |
[
*
] Aus dem deutschen Reiche.
Wie in Alzei, sind auch in Worms wegen Steuerverweigerung Unruhen ausgebrochen. Wie nach Alzei, so sind nach Worms Reichstruppen beordert worden.
Der Fürst von Anhalt-Bernburghat eine patriarchalische Proklamation an seine Unterthanen erlassen, worin er ihnen Reichstruppen verschreibt.
Wenn baierische Truppen nach Hessen geschickt werden, so sind sie Reichstruppen. Werden dagegen die hessischen Truppen nach Baiern geschickt, so sind die hessischen Truppen Reichstruppen. Wenn also
ein deutscher Landesvater dem andern seine Truppen leiht, so verwandeln sich dieselbigen Truppen in Reichstruppen.
Französische Republik.
@xml:id | #ar126_020 |
@type | jArticle |
@facs | 0635 |
Paris, 23. Oktbr.
Im Moniteur eine Menge von Personaländerungen im Seewesen und außerdem abermals 43 neue Maires und Adjoinis für eben so viele Departementsstädte.
‒ Im Kriegsministerium wird Tag und Nacht an der Organisation jener dreihundert Bataillone mobiler Bürgerwehr für den Umfang der ganzen Republik gearbeitet, wie sie die provisorische
Regierung beabsichtigte. Fast alle Bürger der ersten Kategorien haben bereits Vorladungen erhalten, sich in den Mairieämtern zu stellen und etwaige Reklamationen vorzubringen. Lamoriciere scheint
entschlossen, diesen großartigen Plan einer allgemeinen Bürgerbewaffnung (wie ihn Napoleon kaum auszuführen vermochte) bis spätestens den 1. Jan. 1849 ins Leben zu rufen. Cavaignac unterstützt ihn
darin aufs Wärmste und es scheint wirklich, als sollte die gesammte Organisation bis zum Neujahr bereits vollendet sein. Diesem allgemeinen Landsturme sollen zunächst seine Generäle, Obersten und
Offiziere aus den in Paris kasernirten sechs Veteranenkompagnieen zugetheilt werden. Man sieht, unsere afrikanischen Generale wetteifern darin, uns unüberwindlich zu machen.
‒ Der einmonatlichen Ferienfrist (November) der National-Versammlung, während welcher die Präsidentenwahl stattfinden sollte, sind wir noch nicht ganz sicher. Gestern diskutirte die Rue de
Poitiers mehrere Stunden lang über die Frage, ob sie sich überhaupt eine Vakanz gönnen solle?
Thiers, der Zeus jener Klubs, hat eine ganze Stunde lang über die Nothwendigkeit der Permanenz geschwätzt und da wir nun einmal unter dem Pantoffel der Rue de Poitiers stehrn, so wäre es leicht
möglich, daß wir um unsere süße Hoffnung einer einmonatlichen Ferienfrist geprellt würden.
‒ Das Journal „La Republique“ schreibt: Der Polizeipräfekt ergreift strenge Maßregeln gegen die Prostitution, die, wie er in öffentlichen Dokumenten sagt, täglich in
erschreckenden Proportionen wächst. Trostloses Zeichen des Elendes mehr als des Lasters! Ist das eine wohlorganisirte Gesellschaft, die so viele unglückliche Kreaturen sich der Schande in die Arme
werfen sieht, um dem Hunger zu entrinnen? Das ist die Gesellschaft, die dem Hrn. Thiers so sehr gefällt! Es ist wahr, daß im Ersatz Herr Thiers persönlich die größte Hochachtung vor dem
Institute der Familie hat.
Man theilt uns, sagt ebenfalls „La Republique,“ folgende Thatsache mit, die abermals beweist, daß die Gesellschaft sehr glücklich ist.
Ein junger Mensch, kürzlich von der afrikanischen Armee verabschiedet, fiel vor Entkräftung um in der Passage St. Charles. Aufgerichtet durch einige Personen, erklärte der Unglückliche seiner
Umgebung, er habe seine schwachen Hülfsmittel erschöpft, um seine Familie wiederzusehen. Bei seiner Ankunft habe er nur seine alte Mutter gefunden. Seine zwei Brüder seien als Juni-Insurgenten
deportirt gewesen. Er habe seit 40 Stunden gar nichts gegessen, die vorigen Tage sehr wenig und irre nun auf den Zufall hin umher. Man gab ihm einige Nahrung, die er zu gierig verschlang, was ihm eine
neue Indisposition verursachte. Eine rasch unter den Anwesenden zusammengebrachte Kollekte ergab eine kleine Summe, die er nur mit vielem Sträuben annahm. Er sagte, wenn er nicht seine arme 70jährige
Mutter so sehr liebe, würde er rasch mit seinem Leben ein Ende gemacht haben.
Nun wohl! Was sagen hierzu die ehrenwerthen Vertheidiger
[0636]
des Eigenthums und der Familie? Was denken davon die Ueberfüllten, die beständig an Indigestionen laboriren?
‒ Die demokratisch-soziale Gesellschaft von Nimes hat an Lamartine eine Adresse erlassen, woraus wir die Hauptstellen mittheilen:
Lamartine, Lamartine, was hast du aus Frankreich gemacht? Wenn man bedenket, was du nicht gethan hast, und was du hättest thun können, so fällt eine schwere Verantwortlichkeit auf dein Haupt.
Obgleich alle deine Handlungen uns immer Lüge straften, hatten wir immer noch Vertrauen auf dich. Wir konnten nicht glauben, daß das Volk, das deine Person kürzlich noch mit seinen Akklamationen
begrüßte, mit seinen Sympathieen umgab, daß dieses Volk am Tage des Sieges so loyal, so uninteressirt, durch diejenigen verrathen würde, denen es seine ganze Liebe geschenkt hatte. Es übersteigt dies
alle Vorstellung, denn wir können nicht unterstellen, daß du dich bis zu dem Punkt täuschen könntest, zu wähnen, du könntest das Allergeringste ausrichten mit deinen halben Maßregeln, mit dieser Art
von Juste milieu, mit diesem angeblichen Moderantismus, der uns 50 Jahre zurückgeschleudert hat. Mit welchem Rechte, sprich, schafft Ihr die Todesstrafe ab für die, welche das Volk exploitiren,
während ihr die unterdrückten Klassen durch das Elend zum Tode verurtheilt? Ihr habt die Todesstrafe abgeschafft für die Aristokratie; es sei; aber dann mußtet ihr als Gegengewicht dem Volke das Recht
zuerkennen, zu leben. Ihr schützt dem Reichen das Eigenthum und ihr weigert euch dem Arbeiter sein Eigenthum, die Arbeit, zu garantiren.
Lamartine, von welchem Prinzipe gehst du aus? Was hälst du für wahr? Bist du Fleisch oder Fisch? Muß man deinen Spuren auf der Erde folgen oder sich in die Wolken schwingen, um deiner habhaft zu
werden? Bist du das Camäleon oder der Proteus der Fabel? Was willst du? Wohin strebst du?
Du verlästerst Cabet, Proudhon, Pierre Leroux, Louis Blanc, Aber wisse, sie alle haben in unsern Augen nur einen Fehler ‒ zu gemäßigt zu sein. Wenn Wölfe in die Schäferei einfallen, bedarf
es Hunde mit starkem Gebiß, um sie zu erwürgen.
Proudhon! Aber was wollte Proudhon? Er wollte ganz einfach, daß der Reiche seinen Theil der durch die Revolution verursachten Verluste trage. Ihr Aristokraten, ihr findet es bequemer, das Volk
allein zu ecrasiren. Man braucht kein großer Staatsmann zu sein, um z B. zu begreifen, daß der reiche Grundeigenthümer nichts verlieren darf und daß der arme Pächter strenge verpflichtet ist, sich zu
ruiniren und das im Namen der Gerechtigkeit und der Religion.
Ihr und die Eurigen sprecht von Familie? Ihr scherzt. Wir wissen, was ihr aus der Familie der zahlreichsten und fleißigsten Klasse macht. Ihr sprecht von Atheismus! Und welchen Gott betet ihr an?
Den Erwerb, das goldne Kalb!
‒ Nationalversammlung. Sitzung vom 23. Oktober. Anfang 1 Uhr. Präsident Marrast. Nach Verlesung des Protokolls mehrere Urlaubsgesuche.
Lamoriciere ist auf seinem Platze. An der Tagesordnung ist die Verfassungsdebatte, die sich ihrem Schlusse nähert.
Art. 113: „Die Ehrenlegion ist beibehalten; ihre Statuten sind mit der Verfassung in Einklang zu bringen.“
Bertho schlägt vor, nur die Nationalversammlung solle die Ordensverleihungen aussprechen. Dann werde dem Unfug vorgebeugt.
Dieser Antrag wird verworfen und der Artikel angenommen.
Art. 114. „Algerien und die Kolonien werden zum französischen Gebiet erklärt, jedoch so lange durch besondere Gesetze regiert, bis eine Spezialgesetzgebung sie definitiv dem allgemeinen
französischen Recht unterwirft.“
Henri Didier will die neue Verfassung sofort auf Algerien und die Kolonien ausgedehnt wissen, schon um der neuen Kolonisten willen.
Charles Dupin erklärt diesen Antrag schon im Juni abgemacht und wundert sich, daß ihn der Verfassungsausschuß noch einmal hervorlasse.
De Rance unterstützt den Antrag und verlangt sofortige Assimilirung des algierschen Reichs mit Frankreich. Es solle sich nicht länger als bloße Stiefmutter zeigen.
Dupin (senior) verbürgt seine ganze Autorität für die gute Administrativpflege der neuen Kolonisten, bekämpft jedoch den Antrag als unzulässig für die algierschen Verhältnisse.
Art. 114 wird angenommen.
Art. 115, vom Modus der Verfassungsrevision handelnd, schließt also:
„Der Wunsch der Nationalversammlung, die Verfassung zu revidiren, kann erst nach dreien Deliberationen, in Zwischenräumen von einem Monat und zu drei Viertheilen Stimmenmehrheit in
wirklichen Beschluß gestaltet werden. Die Revisionskammer soll nur für 3 Monate wirken etc.“
Boussi beantragt eine Menge Aenderungen, die aber keine Unterstützung finden.
De Kerdrel, ein Retrograder, ist in seinen Modifikationen nicht glücklicher.
Dabeaux wünscht die Erläuterung: „Bei der Revision müsse die Zahl der Stimmenden mindestens 500 betragen.“ Verworfen.
Art. 116, 117 und 113, die transitorischen Bestimmungen betreffend, geben zu wenig erheblichen Debatten Veranlassung.
Stourm meint, Art. 116 sei etwas zweideutig. Er schließe: „Alle gesetzlichen Bestimmungen, die der Verfassung nicht widersprächen, behielten Rechtskraft etc. Das sei zweideutig und
habe sich 1815 fürchterlich gerächt
Dupin (senior) erwidert, ein solcher Streit sei nicht wieder möglich. Damals habe es sich um königl. Prärogative gehandelt
Die übrigen beiden Artikel ohne Weiters genehmigt. Bei Art. 119 nimmt Dupin das Wort und erklärt: daß das Ministerium in Verbindung mit der Verfassungskommission morgen eine neue Fassung mit dem
nöthigen Dekretsentwurfe vorlegen werde. Dieser Artikel handelt bekanntlich von der Präsidentenwahl. Man will zu Art. 120 schreiten.
Puységur eilt aber auf die Bühne und will einen Nachsatz zu Artikel 119 entwickeln, der dem Volke das Veto zuspricht, indem er darauf anträgt, die neue Verfassung dem Volke vor der
Präsidentenwahl zur Genehmigung vorzulegen.
Dieser Antrag ruft einigen Tumult hervor.
Puysegur dringt über seinen Antrag: die Verfassung dem Volke zur Genehmigung vorzulegen, ehe die Präsidentenwahl stattfinde, auf Abstimmung.
Zwanzig Glieder unterstützen die Abstimmung durch Stimmzettel.
Man schreitet zur Abstimmung. Zahl der Stimmenden 775. Gegen den Antrag 733. Für denselben 42. (Allgemeines Gelächter).
Nun soll Art. 120 (der letzte!) vorgenommen werden.
Dufaure trägt jedoch darauf an, denselben wegen der bereits erfolgten Suspendirung des Art. 119 ebenfalls auf sich beruhen zu lassen.
Dieß geschieht und die Verfassungsdebatte wäre somit bis auf die Präsidenten-Paragraphen beendet!! Alleluja!
Glais-Bizoin stellt den Antrag, daß sich die Nationalversammlung nicht früher trenne, als bis die organischen Gesetze votirt seien.
Wird angenommen. Wir sind also um die einmonatlichen Ferien geprellt. Das ist hart.
Ehe sich die Versammlung trennt, votirt sie noch einige Pensionsanträge des Finanzausschusses für Beamte der ehemaligen Pairskammer.
Die Sitzung wird um 1/4 vor 6 Uhr geschlossen.
Nachschrift: Es heißt, zwischen dem Kriegsminister Lamoriciere und dem General Lebreton werde ein Pistolenduell stattfinden. Wir sahen jedoch beide in der Nationalversammlung.