Französische Republik.
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Paris, 17. Okt.
Marrast und seine Partei, liegen zu Boden ‒ hörte man schon gestern Abend ausrufen und man war auf den „National“ sehr gespannt. Er ist erschienen und ‒ er kriecht
folgendermaßen zu Kreuze:
„Wir haben stets gedacht ‒ sagt er ‒ „daß, sei erst die erste Aufwallung vorüber, das natürliche Gleichgewicht wieder Platz greifen werde. Diejenigen (soll heißen, wir
die Nationalpartei), welche unter der Monarchie, nicht ohne Ehre und Ruhm die Rolle durchführten, die Republik vorausgesehen, gewünscht und vorbereitet zu haben, machen auf keine andere Ehre, auf
keinen andern Ruhm Anspruch, als der Republik zu dienen und zwar auf der Stufe, so niedrig sie auch sei, die ihnen die öffentliche Meinung anweist. Sie sind die Ersten, selbst die gefürchtetsten
Mitbewerber (Thiers, Molé etc.) rücksichtlich ihres Talents, ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Aufklärung, unter die republikanische Fahne zu rufen, denn sie haben mehr ihren Grundsatz als ihre
Personen im Auge. Urheber der Revolution, beanspruchen sie keineswegs ihr Monopol. Die Aussöhnung liegt also nicht nur in unserem Wunsch, sondern in der Nothwendigkeit selbst.“
‒ Die sozialistisch-kommunistische Partei, mit Ledru-Rollin und Proudhon an ihrer Spitze, nimmt das gestrige Votum keineswegs so gelassen auf wie der National, sondern sie entwickelt eine
ungeheure Thätigkeit, um den Sturz der weißen Republik vollends zu beschleunigen. In Paris, Lyon, Dijon, Macon, Nimes und einer Menge anderer Städte bereiten sich Monsterbankette vor, in denen auf die
rothe Republik gegessen, gesungen und getrunken (das ist nach dem neuen Klubgesetze unerläßlich) aber noch mehr gesprochen wird. Wohin wird das Alles führen? ‒ seufzt die besitzende Klasse und
vergräbt ihre Thaler.
‒ Heute Nachmittags 2 Uhr findet an der Barriere Passonniere ein sozialistisch-kommunistisches Bankett von Zweitausend Gedecken statt. Ledru-Rollin, Proudhon und Lamenais führen den
Vorsitz.
‒ Die Seine-Assisen haben ihre Sitzung eröffnet. Am 24. wird der Proudhonsche Representant du Peuple und am 26. der Lamenaissche Peuple constituant von ihnen gerichtet und hoffentlich
freigesprochen.
‒ Diesen Morgen verbreitete sich im Operngange das Gerücht, mehrere sardinische Korps hätten den Ticinofluß überschritten und die Feindseligkeiten gegen Radetzki begonnen.
‒ Im Ministerium des Auswärtigen sind einige sehr ernste Klagen gegen die Härte der russischen Gränzämter eingelaufen. Französische Bürger, die in Geschäften oder zum Vergnügen reisten,
haben sich über die Unverschämtheiten und Maßregeln beschwert, die ihnen, obwohl mit geregelten Pässen versehen, an den russischen Gränzen widerfuhren. Es scheint, daß die Pässe jetzt keine
außerordentliche Ermächtigungsformel von den hiesigen russ. Geschäftskonsuln tragen sollen; ein bloßes Visum ist nicht mehr hinreichend, General Leflô thäte gut, seine günstige Aufnahme beim Kaiser
Nikolaus zu baldiger Abhülfe dieses Paßunfugs zu benützen.
‒ Aus dem Meurthedepartement haben die Bauern bei der Nationalversammlung petitionirt, ihnen Kreditinstitute zu eröffnen, bei denen sie gegen 3 1/2 pCt. Gelder entlehnen können, um nicht
länger gezwungen zu sein, in die Krallen der Wucherer zu fallen.
‒ Im Theater francais gab es gestern eine kleine Emeute. Die Familie Felix, die dort seit der Rachel wie Pfarrenkraut wuchert, hat sich gegen den neuen Kommissarius Sereste, den Senard auf
Blancs Antrag an Lakroys Stelle setzte, empört und der große Koulissenkampf hat mit dem Rückzuge des Fräulein Rachel (dessen neuester Ehemann der Sohn des Generals Bertrand ist) geendet. Rachel wird
nach Petersburg wandern; eine furchtbare Verschwörung ist unter allen Löwen und Löwinnen des Boulevard du Gand gegen diese Strenge der Kommissarien der Republik ihrem Ausbruche nahe.
‒ National-Versammlung. Sitzung vom 17. Okt. Anfang 12 ein halb Uhr. Präsident Marrast.
An der Tagesordnung ist die Verfassungsdebatte, die bis zum Artikel von der richterlichen Gewalt, Artikel 82 inbegriffen, vorgerückt war.
Art. 83 lautet: „Die Richter des Kassationstribunals werden von der Nationalversammlung in geheimer Abstimmung durch absolutes Stimmen-mehr ernannt.“
Hierbei ist zu bemerken, daß ein großer Theil der Versammlung darauf hinarbeitet, dem Präsidenten der Republik, als Chef des Staates, so wenig Ernennungen als möglich zu überlassen, um dem
Favoritismus vorzubeugen und die Bureaukratie zu untergraben.
Laporte beantragt: „die Glieder des Oberrechnungshofes können ohne Genehmigung des Staatsrathes weder ernannt, noch zu höheren Graden befördert werden.“
Stourm, Barroche, Etienne und Lacrosse unterstützen, theils bekämpfen sie ihn, weil man die Nationalversammlung nicht zu sehr mit Ernennungen überlassen müsse. Aus dem konstituirenden
Körper könnte sonst ein politischer werden.
Der Antrag wird verworfen.
Artikel 83 angenommen.
Art. 84. „Die Beamten der Staatsanwaltschaft sind vom Präsidenten der Republik zu ernennen.“
Boussi schlägt den Zusatz vor: „und nach Gutbefinden absetzbar.“
Tranchard macht ebenfalls einen beschränkenden Zusatz.
Dupin und Cremieux bekämpfen diese Zusätze. Sie fänden ihren Platz bei der Berathung der organischen Gesetze.
Die Zusätze fallen durch.
Art. 84 wird angenommen.
Die Verfassungsdebatte wird hier eine Weile durch eine Wahlprüfung unterbrochen.
Charamaule stattet Bericht über die Wahl Bissette's auf der Insel Martinique ab. Zum ersten Male waren hier die Negersklaven berufen, ihr Stimmrecht auszuüben! Die Details sind
überaus interessant; doch zu weitläufig, um sie hier mitzutheilen. Die Beschwerdepunkte gegen diese Wahl laufen vorzüglich darauf hinaus, daß viele Weiße nicht in die Wahlkommission zugelassen und
einige Unterschleife verübt wurden. In Rücksicht auf das eigene Entlassungsgesuch Bissette's beantragt der Ausschuß Annulation.
Base, vorzüglich aber Bory Papy, einer der Vertreter Martinique's, bekämpft die Annulirung; eine abermalige Wahl würde die ganze Kolonie in Aufregung versetzen, kein Mensch
wisse von den Protestationen auf der Insel etwas, er habe sie erst bei seiner Ankunft in Frankreich erfahren, es seien offenbar Partei-Kniffe im Spiele.
Hier unterbricht ihn die Ungeduld der Rechten und ein kleines Gefecht entspinnt sich zwischen Flocon, Vavasters, Deslongrais und dem Präsidenten über den Schluß der Debatte über die
Wahlprüfung. Endlich wird entschieden, daß man den Landsmann des Angefochtenen noch weiter sprechen lasse.
Bory Papy besteigt von Neuem die Bühne und da sein Vortrag lebhaft und sein Negerkopf mit dem rollenden weißen Auge und den lebhaften Gebehrden sich ganz originell ausnimmt, so wird er
aufmerksam angehört und erntet sogar Beifall, als er die Liebe Martinique's zur Republik betheuert.
Bissette's Wahl wird annulirt und zwar wegen incapacité personelle, so sehr ihn auch sein Landsmann Bory Papy vertheidigt. Diese persönliche Unfähigkeit soll ihren Grund in einer
kriminalgerichtlichen Verurtheilung haben. Man sagt, Bissette sei gebrandmarkt. Wir bemerken dies, um die Moralität dieses Votums hervorzuheben. Die Nationalversammlung will keinen Galeerensträfling
in ihrer Mitte.
Die übrigen Repräsentanten aus Martinique werden zugelassen.
Marie, Justizminister, legt den Gesetzentwurf vor, der das französische Justizwesen organisirt. Wir werden später auf diesen Contre-Entwurf zurückkommen.
Wird nicht, wie beantragt, an den Justizausschuß, sondern an die Abtheilung gewiesen.
Mehrere Gutachten über andere Gegenstände, Agrikultur u. s. w. werden vorgelegt.
Die Versammlung kehrt zur Verfassungsdebatte zurück.
Artikel 85, von Ernennung der Richter, der Obergerichts- und Oberrechnungshöfe auf Lebenszeit handelnd, wird lange besprochen, dann angenommen.
Artikel 87, 88, 89 und 90, von den Verwaltungstribunalen handelnd, werden unterdrückt, weil das ganze sechste Kapitel bekanntlich weggefallen ist und der Berathung der organischen Gesetze
vorbehalten bleibt.
Artikel 91 setzt eine Art Schiedsrichteramt aus den höchsten richterlichen und administrativen Beamten unter dem Vorsitze des Justizministers ein, um die Konflikte zwischen den Behörden zu
schlichten etc. Wird nach einem Vortrage Dupins angenommen und um 6 Uhr die Sitzung aufgehoben.