Französische Republik.
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‒Nationalversammlung. Sitzung vom 13. October. Anfang 12 1/2 Uhr. Präsident Marrast. Die Bänke schwach besetzt. Alles unterhält sich in den Nebengängen über den Minister Wechsel. Die
Gemüther sind indessen ruhig; es scheint, als habe diese Ministerialänderung nicht die mindeste Bedeutung. Viele glauben noch nicht recht daran. Unter diesen Umständen wird die Verfassungsdebatte
wieder aufgenommen, die gestern bis Artikel 62 vorgerückt war.
Dieser Artikel wird ebenso wie die folgenden Artikel 63, 64, 65 und 66 angenommen.
Artikel 67, von der Wahl des Vicepräsidenten der Republik handelend, gibt zu einer Debatte Veranlassung.
Clemens Thomas verlangt, daß Präsident und Vicepräsident keine Blutsverwandte sein dürfen, fällt jedoch durch wie einige andere Restriktionen.
Artikel 67 wird angenommen. Mit Artikel 68 beginnt ein neues (6.) Kapitel, von dem Staatsrathe handelnd.
St. Beuve und Stourm ergreifen das Wort über dieses neue Staatsinstitut.
Marcel Barthe, der große Arbeiterfreund und Sozialistenfeind nimmt auch daran Theil.
Während dieser büreaukratische Redner im besten Zuge ist, treten Cavaignac und Senard in den Saal, aus dem seit einiger Zeit die Ministerbänke verschwunden sind, weil sich die Glieder des
Verfassungsausschusses vorn hin, dicht vor die Bühne, setzen. Senard hat kein Portefeuille mehr unter dem Arme und setzt sich hinter Lamartine und Garnier Pages.
Cavaignac besteigt die Bühne. (Tiefe Stille.) Mitbürger! Am 24. Juni haben Sie den Belagerungszustand ausgesprochen. Heute fühlt die Regierung das Bedürfniß, schon hierüber eine Mittheilung zu
machen, und ich bitte daher einen Ausschuß zu diesem Behufe zu ernennen, dem die Prüfung über Aufhebung des Belagerungsstandes anheim zu stellen sein dürfte. Die Regierung wird diesem Ausschusse ihre
Gründe und Ansichten mittheilen. Wollen Sie selbige indessen öffentlich hören; Sie haben nur zu verfügen, ich bin bereit.
Marrast:Hubert Delisle hat den Antrag auf Aufhebung des Belagerungsstandes gestellt. Sein Antrag könnte morgen von den versammelten Abtheilungen zu gleicher Zeit begutachtet werden.
Habordére: Es möge sofort ein Ausschuß ernannt werden. (Nein! Nein!)
Cavaignac besteht darauf, daß ein Ausschuß ernannt werde, vor dem die Regierung morgen gehört werden könne; wenn indeß die Versammlung wolle, so werde sie sogleich Rede stehen etc. etc.
Clemens Thomas: Es scheint unerläßlich, zu wissen, mit welcher Regierung wir es zu thun haben, mit der alten oder neuen (Tumult). Es herrscht Ministerialkrisis (Lärm) das Land wird aufgeregt
(doppelter Lärm).
Cavaignac: Es gibt nicht 2 Regierungen, eine alte und neue. Es gibt nur Eine, die Sie kennen, keine andere.
Thomas Gauden's, Lasteyrie, Delisle, Rouce, streiten sich über die Ministerkrisis. Indessen bestimmt man die Prüfung des Cavaignac'schen Antrags für morgen.
Die Versammlung kehrt zur Diskussion des Artikel 68 zurück, der den Anfang jenes Kapitels bildet, das sich mit der Schöpfung eines aus wenigstens 40 Mitgliedern bestehenden Staatsraths befaßt.
Wird nach Verwerfung mehrerer Zusätze in der ursprünglichen Fassung angenommen.
Artikel 69, die Amtsdauer der Staatsrathsmitglieder auf 6 Jahre feststehend, geht nach Verwerfung eines Stoffes von Amendements ebenfalls durch.
L'herbette ereiferte sich ziemlich lebhaft, wurde jedoch nicht gehört.
Artikel 70 ohne alle Diskussion.
Artikel 71 ebenfalls ohne den geringsten Widerspruch.
Angenommen.
Artikel 72 von den Attributionen und Geschäften dieses Staatsrathes handelnd, wird auf morgen verschoben.
Die Versammlung trennt sich um 6 Uhr.
Nationalversammlung. Sitzung vom 14. Oktober. Anfang 1 Uhr. Präsident Marrast. An der Tagesordnung ist die Bekanntmachung der 15 Glieder, die so eben als Glieder der Kommission erwählt
wurden, welche mit Cavaignac über Aufhebung des Belagerungsstandes konferiren soll; ferner mehrere örtliche Gesetzvorschläge und endlich die Fortsetzung der Verfassungsdebatte.
Ceyras nimmt gleich nach Protokollvorlesung das Wort. Er habe, sagt er, zu Gunsten der Armen auf dem platten Lande einen Antrag gestellt, doch sei derselbe bisher noch nicht diskutirt
worden. Da nun der Winter vor der Thüre, so bringe er auf Beschleunigung, denn das Elend sei fürchterlich.
Marrast: Vom Minister des Innern seien vorgestern wieder 9 Millionen Franken für Paris und seine Umgegend verlangt worden. Dieser Kredit werde wahrscheinlich schon am Montag diskutirt.
Cepra's Vorschlag könne ja gleichzeitig berathen werden. (Ja, ja!)
In diesem Augenblik treten die neuen Minister in den Saal und setzen sich auf die Ministerbänke, die hinter den vorgeschobenen Bänken des Verfassungsausschusses sich jetzt rechts und links von der
Bühne befinden.
Die Versammlung fährt indessen in Berathung örtlicher Maßregeln fort. Die Städte Calais, Chartres etc. erhalten die Erlaubniß, sich außerordentlich zu besteuern, um ihr Proletariat bei Bauten u. s.
w. zu beschäftigen.
Baragnay d'Hilliers berichtet über die Wahl in Avignon. Gent, der Demokrat, den eine legitimistische Kugel im Duell tödtlich verletzte, wird als Volksvertreter proklamirt.
Goudchaux, Finanzminister, dringt demnächst auf Bezahlung der semestrellen Quote der griechischen Schuld, was schon hätte am 1. Septbr. geschehen sollen; zweitens müßten die Fahnen endlich
bezahlt werden, welche auf Bestellung der provisorischen Regierung von einzelnen Fabrikhäusern für die Land- und See-Armee geliefert worden wären. Diese Häuser brauchten ihr Geld.
Die Zahlung des Semesters der griechischen Schuld wird ohne Weiteres genehmigt; die Fahnenrechnung ruft aber einen kleinen Küchenstreit hervor. Der Berichterstatter findet die Rechnung der
Lyonsfabriken viel zu theuer, sie beläuft sich auf 680,000 Franken, die vorige Regierung hätte die Fahnen viel billiger geliefert (Lärm). Die Dorfgemeinden würden sich bedanken, so kostspielige Fahnen
anzunehmen.
Goudchaur vertheidigt die Fahnenrechnung, die einen Augenblick eine politische Farbe annahm, bis die Versammlung dem Streite dadurch ein Ende machte, daß sie einen Antrag
Gayot's annahm, der also lautet: „Alle Gemeinden der französischen Republik müssen die von der provisorischen Regierung bestellten Fahnen annehmen. Doch erhalten sie selbige
unendgeldlich, wenn sie es verlangen.“
Nach Beilegung dieses Streits erhält Portalis das Wort, um Cavaignac zu interpelliren:
„Bürger!“ beginnt er, „eine außerordentliche Beilage zum Moniteur hat Euch eine Ministerialänderung angezeigt, obgleich der Conseilpräsident gestern Nachmittags jede
Regierungskrisis dem Mitgliede Thomas gegenüber negierte. Drei neue Minister sind angestellt. Das Volk ist jetzt der Souverän und das Volk sind wir. Wir haben also die Regierung modistzirt. (Murren
zur Rechten). Es ist daher nöthig, daß wir wissen, warum man das Personal der Regierung geändert habe; dies ist um so nöthiger, als zwei der neuen Minister schon unter Louis Philipp Minister waren.
(Lärm). Soll das politische System gewechselt werden? Oder sind die Herren Dufaure und Vivien ächte Republikaner geworden.? Das Innere scheint geändert; das Aeußere lasse man beim Alten, er hätte
lieber das Gegentheil gesehen. Dieser Wechsel beunruhigt die Patrioten und verdient Aufklärung“ (Ja, Ja, Nein, Nein).
Cavaignac: Der Interpellant zeiht mich des Widerspruchs. Ich antworte ihm, daß gestern noch nichts entschieden war. Das im Juni konstituirte Ministerium habe vor drei Tagen in Masse
abgedankt; bis heute Vormittag sei noch nichts bestimmtes abgeschlossen gewesen. Bezüglich der Gründe, warum sich die alten Minister zurückgezogen, so würden sie ihm wohl selbst antworten. Was die
Richtschnur des neuen Kabinets betreffe, so würde dasselbe nächsten Montag ein vollständiges Programm über Gegenwart und Zukunft vorlegen; die Versammlung werde dann zu entscheiden haben, ob sie ihm
ihr Vertrauen schenken könne. Was mich betrifft, so wünsche ich mir Glück zu dieser Aenderung. Das Kabinet verlange Montag volle Unterstützung, keine bloße accidentelle, sonst werde es das Staatsruder
niederlegen (Agitation.)
Portalis: Also auf Montag!
Die Versammlung kehrt zur Verfassungsdebatte zurück. Art. 72
Artikel 72, von dem Geschäfts-Charakter des Staatsrathes handelnd, wird angenommen.
Marrast: Bei Gelegenheit der Berathung des Artikels 30 behält sich die Versammlung das Votum über das Recht offen, das dem Präsidenten der Republik zustehen solle, die Nationalversammlung
aus eigener Machtvollkommenheit zusammenzurufen. Die Verfassungskommission hat ihr Gutachten bejahend abgegeben. Ich schlage vor, jetzt diesen Zusatz zu erledigen.
Der Zusatz zu Artikel 30 „der Präsident der Republik hat auch das Recht, die Nationalversammlung zusammenzurufen,“ wird angenommen.
Marrast: Die Versammlung wünscht ferner, das siebente Kapitel (Artikel 73, 74, 75, 76 und 77) von der inneren Verwaltung handelnd erst nach dem achten Kapitel zu berathen. Wir gehen
zu Kapitel VIII. Artikel 78 über (von der richterlichen Gewalt).
Artikel 78 „die Justizpflege geschieht unentgeldlich u. s. w. wird angenommen.
Artikel 79 „die Jury richtet auch fernerhin alle Kriminalfälle.“
Meaulle trägt an, die Worte anzuhängen „und auch die Vergehen (matieres correctionnelles).
Es wird entgegnet, daß jährlich über 170,000 correktionnelle Prozesse verhandelt würden; dieß würde also die Bürger-Jury im Verkehr stören,
Meaulle's Antrag wird mit 421 gegen 301 Stimmen verworfen.
Artikel 80, 81 (82 und 83 mit geringerer Aenderung verschmolzen) werden angenommen.
Die Berathung wird geschlossen und mit Artikel 84 am Dienstag wieder beginnen.
Die Versammlung geht 1/4 vor 6 Uhr aus einander. Auf Montag die die wichtige Sitzung!
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Paris, 14. Okt.
8 Uhr Vormittags. Der Moniteur, nach dem heute früh alle Welt mit Haftigkeit griff, enthält noch keine Ministerialänderung.
‒Das Stillschweigen des Moniteur an diesem Morgen erregt großes Aufsehen. Das Lamartine'sche Wien publique veröffentlicht darüber folgende Notiz:
„Mitternacht. Man meldet uns so eben, daß die Minister-Combination, wie sie gestern Abend festgestellt schien, wieder in Frage gestellt ist. General Cavaignac sei durch die Aufregung
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erschüttert worden, welche die gestrige letzte Liste unter der republikanischen Partei der Nationalversammlung hervorgebracht habe.“
‒ Laut der gestrigen letzten Liste, die man heute früh im Moniteur erwartete, übernimmt Dufaure (unter Louis Philipp Staatsbautenminister) das Innere, Vivien (ebenfalls unter Louis Philipp
bereits mehrere Male Minister) an Recurt's Stelle die Staatsbauten und Freslon, ein junger Advokat aus La Flèche an Vaulabelle's Stelle den Unterricht.
‒ Die vier Repräsentanten-Klubs (Rue de Poitiers, Palais National, Institut und Rue Taitbout) hielten gestern stark besuchte Sitzungen.
In der Rue de Poitiers sprachen vorzüglich Thiers u. Berryer. Gegenstand ihrer Vorträge war der Cavaignac'sche Antrag in der gestrigen Nationalversammlung, eine Kommission zu ernennen, mit
der er sich rücksichtlich des Belagerungsstandes in Verbindung setzen könne. Die beiden Hauptadvokaten der Bourgeoisie sagten, der Belagerungsstand beschwere Niemanden (?), Paris beklage sich nicht
und man solle es der Exekutivgewalt überlassen, ob sie ihn beibehalten wolle oder nicht? Mauguin erhob sich mit Lebhaftigkeit gegen eine solche Langmuth und bedauerte ganz besonders, daß durch sie der
Zauber des Fürchterlichen auf die Bevölkerung ganz verloren gegangen sei. Man habe die Waffe durch zu langen Gebrauch stumpf gemacht. Mehrere andere Redner gaben zu verstehen, daß das moderirte
Element noch nicht stark genug in der neuen Combination vertreten sein u. s. w., eine Kritik, der jedoch von den bedächtigen Lenkern des Klubs bald vorgebeugt wurde.
‒ Das Palais Exroyal und das Institut, die eigentlich nur Einen Leib bilden, besprachen ebenfalls die Wahl der von Cavaignac beantragten Kommissarien. Pagnerre ließ durchblicken, daß das
alte Februar-Element immer mehr aus der offiziellen Welt verschwinde und erntete ziemlichen Beifall.
In der Rue Taitbout ging es am Stürmischsten her. Der Berg donnerte gegen die Zugeständnisse, die man der Rue de Poitiers mache und es sei hohe Zeit, die Volksklubs wieder zu organisiren etc.
‒ 12 Uhr Mittags. So eben erscheint ein außerordentliches Supplement zum Moniteur mit folgenden Dekreten:
I. Französische Republik. Freiheit, Gleichheit, Brüderschaft. Der mit der Exekutivgewalt beauftragte Conseilpräsident beschließt:
Die Demission der Bürger Senard, Minister des Innern; Recurt, Minister der Kanalbauten, Baulabelle, Minister des Unterrichts und Kultus, ist angenommn.
Paris, 13. Oktober 1848.
(Gegengez.) Marie, Justizminister.
(gez.) Cavaignac, Conseilprasident etc.
II. Französische Republik. Freiheit, Gleichheit, Brüderschaft. Der etc. Konseilpräsident beschließt: Ernannt sind 1) der Bürger Dufaure, Repräsentant des Volks, zum Minister-Staatssekretär des
Innern; 2) der Bürger Vivien, Repräsentant des Volkes, zum Minister-Staatssekretär der Bauten; 3) der Bürger Treslon, Repräsentant des Volks, zum Minister-Staatssekretär des Unterrichts und der
Kulten.
Paris, 13. Oktober 1848.
(Gez.) Cavaignac, Konseilpräsident.
(Gegengezeichnet): Marie, Justizminister.
III. In Folge der im Ministerium vorgenommenen Aenderungen ist das Kabinet zusammengesetzt aus den Bürgern: 1) Marie, Justiz; 2) Bastide, Auswärtiges; 3) Lamoricieres, Krieg; 4) Verninac, Marine
und Kolonieen; 5) Dufaure, Inneres; 6) Torret, Ackerbau und Handel; 7) Treslon, Unterricht und Kultus; 8) Goudchaux, Finanzen; 9) Vivien, Staatsbauten.
‒ Die Zögerung des Moniteur kam von den Bedingungen her, welche Dufaure und Vivien stellten. Sie verlangten, daß der Belagerungszustand aufgeben werde u. s. w.
‒ Jetzt (11 1/2 Uhr) versammeln sich die Abtheilungen der Nationalversammlung, um die Kommissarien zu ernennen, die sich mit Cavaignac in Verbindung setzen sollen, um über Aufhebung oder
Fortdauer des Belagerungszustandes zu berathen.
Dufaure wird eine Art Glaubensbekenntniß auf der Bühne ablegen.
‒ Die Volksklubs werden wieder organisirt.
‒ Am 1. November soll hier in Paris ein allgemeiner demokratischer Zeitungskongreß stattfinden. Alle demokratischen Organe werden eingeladen.
‒ Von allen Seiten regnet es Demissionen. Ducoux und Trouvé-Chauvel, Präfekte, Perrée, Maire des 3. Bezirks u. A. haben gestern erklärkt, ihre Aemter niederzulegen.