Französische Republik.
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Paris, 18. Sept.
Die Theilnahme an dem Wahlakt ist heute viel größer als im Juni. Auf den Boulevards St.
Denis, St. Martin, an den lebhaftesten Straßenecken und fast auf allen öffentlichen Plätzen
wird lebhaft diskutirt, doch erfahren wir bis jetzt nirgends, daß es zu Thätlichkeiten
gekommen wäre. Die Arbeiter begnügen sich die rothen und gelben kolossalen Affischen der
Herren Bugeaud, Girardin, Delessert, Bonaparte, Achill Fould, anzuspeien oder in derben Witzen
zu bekritteln. Die Wahlurnen werden heute Abend 9 Uhr geschlossen und morgen geleert. Vor
morgen Nachmittag läßt sich für Paris kein Resultat selbst auch nur annähernd angeben.
‒ General Piat, Chef der hiesigen Werbezunft für den „demokratischen Kaiser,“ erklärt den
Brief für falsch, den man an Baraste, Redakteur der Republique, geschrieben: Sein Herr und
Meister, der Prinz Louis Napoleon Bonaparte, gedenke die Wahl abzulehnen. Piat erklärte, daß
es ihm gar nicht im Traum eingefallen, an die Republique zu schreiben; der Brief sei falsch
etc. Bald darauf erschienen an allen Straßenecken blutrothe Plakate, die den Streich als die
„schrecklichste Infamie“ der neuesten Geschichte darstellten, dem der Prinz, unser kräftiger
demokratischer Kaiser, als Opfer hätte fallen sollen.
Barraste, Hauptredakteur, erklärt in seinem heutigen Blatte, daß er den falschen Brief der
Staatsanwaltschaft übergeben habe, um den Verfasser zu ermitteln.
‒ Mehrere demokratische Repräsentanten (Berg) begaben sich vorgestern zu Senard, um ihn zu
fragen, wie er es mit den Mai- und Juniräubern rücksichtlich der Wahlen halten wolle? Man
dürfe diese 11,000 Bürger doch unmöglich ihres Stimmrechts berauben u. s. w. Senard erwiderte
ihnen, daß das Kabinet noch keinen Beschluß in dieser Hinsicht gefaßt habe.
‒ Der Goliath der Bourgeoisie, Marschall Bugeaud, richtet heute von den Mauern herab noch
ein „letztes Wort“ an die Pariser Bevölkerung, um sie zu beschwören, ihn und Hrn. Fould mit
mehr Einstimmigkeit zu wählen, da er sonst die hereinbrechende rothe Republik nicht früh genug
vertilgen könne.
‒ Am naivsten klingen die Arbeiterplakate. Wir wollen keine Royalisten, keine
Pritchardisten, keine Imperialisten, sondern Socialisten ‒ lautet unter Andern auch Eines ‒ in
die National-Versammlung wählen!
‒ Das fürchterliche Elend, namentlich unter dem weiblichen Proletariat, rief bekanntlich
eine weibliche Nationalwerkstätte in der Rivolistraße (dem bekannten Hotel Sobrier), unter dem
speziellen Schutz der Väter Jesu ins Leben.
Diesem jesuitischen Eifer gegenüber konnte unsere trikolore (National) Republik unmöglich
müßig zuschauen. Die Gemahlinnen Cavaignac's, Marie's, Trouvé Chauvels's, Lechevalier's,
Goudchaux', Lamartine's, de Luynes, Lamoricière's, Recurt's, Senard's, Tourret's und
Verninhae's haben daher einen „Verein“ gebildet, mit ungefähr folgenden Statuten:
1) Der Verein hat zum Zweck, Arbeiterinnen, die im Elend stecken, Beschäftigung zu geben, da
er außer Stand ist, alle arbeitslosen Arbeiterinnen zu beschäftigen. 2) Die Arbeit wird in die
Wohnung jeder Arbeiterin geschickt und zwar durch Vermittlung der Bezirks-Armenbüreau's oder
der Vereinsangestellten. 3) Arbeiterinnen, die nicht nähen können, wird das Nähen gelehrt. 4)
Um die Kosten dieser wahrhaft nationalen Rettungsanstalt aufzutreiben, werden schon seit
einigen Tagen Lotteriebillets zu 1 Fr. wie saures Bier herumgeboten. „Das Kapital des Vereins,
heißt es, besteht in der Privatmilde, in Baar oder Geschenken zur Verlosung.“
[
*
] ‒ „Unsere auswärtige Politik,“ sagt La Reforme, wird uns in
nicht ferner Zukunft ruiniren, nachdem sie uns bereits um unsere Ehre gebracht. Aus den
poetischen Meditationen Lamartine's wie ein schöner Traum aufgestiegen, hat sie den Krieg,
diesen großen Meuchelmord zwischen ganzen Völkern, prostribirt, aber auch der Revolution den
Todesstreich versetzt, indem sie alle jene gerechten Aufstände ohne Unterstützung ließ, die
als eben so viele glückliche Diversionen unsere ewigen Feinde paralysirten und der neuen
Politik volle Freiheit zum Handeln gestatteten.“
‒ Gestern Abend fanden etwa achtzig Klubs statt. Der besuchteste war wohl der alte
Barbès'sche Klub de la Revolution im Cafe Spectacle am Boulevard-Bonnes-Nouvelles. Der Saal,
der etwa 4000 Menschen bequem faßt, war zum Ersticken voll. Darunter auch viele Frauen. An den
Eingängen standen Kasten für Beiträge zur Unterstützung der Juniräuber. Eine Dame zog ihre
goldene Uhr aus der Schärpe und legte sie unbemerkt auf den Kasten und entfernte sich
stillschweigend. Der Proletarier, dem die Wache des Kastens anvertraut war, bittet heute die
Geberin, sich über Verwendung der Uhr im Redaktionsbüreau des „Represenatut du Peuple“
auszusprechen.
‒ Das Journal des Debats sagt: „Die deutsche Einheit darf nach uns nicht Centralisation
heißen. Sie muß Förderation heißen. So viel von der politischen Form. Aber vorzüglich muß sie,
wie sich in den Nationalliedern von 1813 ausspricht, Gefühl sein. Als
Gefühl wird sie alle Gegenden durchdringen (elle sera partout, in der That!) und die
regenerirte und die demokratisirte Förderation, die zu Frankfurt sitzen soll, wieder beleben.
Als Centralisation wird sie Alles tödten. Trägt der Centralisationsgeist in Frankfurt den Sieg
davon, so ist Deutschlands Werk verfehlt. Man wollte eine große Nation und ein großes Reich
stiften (!) und man wird nur einen ephemeren Klub gegründet haben. (Wie brav! Der Artikel soll
übrigens aus Frankfurt herrühren.)
‒ Der National hält den Sieg des Kommunismus in den Wahlen für sicher und grollt dem
Constitutionnel und Siecle, daß sie nicht mehr Stimmeneinheit an den Tag gelegt hätten.
‒ Die Legitimisten waren bekanntlich die Ersten, die im Juni hinter den Barrikaden lauter
Galeerensträflinge sahen ‒ Lügen, von denen man weiß, wie schnell sie in ihr Nichts zerstoben.
Wie aber geht es ihnen selbst? Ein unter Polizeiaufsicht stehender entlassener Sträfling wurde
dieser Tage in Paris verhaftet; dieses Individuum, das unter allerlei Bezeichnungen, z. B. als
Mitglied einer religiösen Bruderschaft, passirte und manche leichtgläubige Personen um
bedeutende Summen geprellt hatte, trug eine Liste von „Personen, die sich für Heinrich V.
verbunden haben“, und worauf vierzig Namen aus alten Familien standen, so wie andere Papiere,
die ihn als legitimistischen Agenten beglaubigten. Alle Papiere sind dem Prokurator der
Republik überliefert worden.
‒ In Toulouse kreuzen sich die Fäden bedeutender legitimistischen Intriguen. Toulouse ist
zum Centrum einer royalistischen Bewegung ersehen, die den ganzen Süden umfassen soll. Die
Verzweigungen des Komplottes dehnen sich nach Beziers, Carcassonne, Montauban, Castelnaudary,
Montpellier etc. aus. Ein alter Notar, Geschäftsträger des Adels und der Geistlichkeit, ist
der Kassirer der Gesellschaft. Die schmählichsten Pamphlete gegen die Republik werden auf dem
Lande kolportirt. Dies ist um so leichter, als fast alle Maires und Beamten aus der alten Zeit
herrühren und ihre royalistischen Gesinnungen offen zur Schau tragen. Die „Verdets“ des
Südens, jene Leute, welche die royalistische Schreckensherrschaft 1815 im Süden organisirten,
haben ihren Fanatismus und ihren unversöhnlichen Haß ihren Nachkommen überliefert. Wir machen
die Regierung aufmerksam auf diese Umtriebe, die auf eine durchaus nicht vorurtheilsfreie
Bevölkerung einwirken.
(La République.)
‒ In Savenay (Loire Inferieure) sind folgende Plakate affichirt gefunden worden:
„Es lebe Heinrich V.! Bauern, Er ist Eure einzige Hülfe! Möge Euch eine Nacht von diesen
verhaßten Republikanern (patauds) befreien!“
„Eine Million Franken dem, der uns vom Communisten Cavaignac
befreit! Heinrich V. wird vor dem 1. Oktober in Frankreich sein ‒ es lebe Heinrich V.!“
(Republique.)
National-Versammlung. Sitzung vom 18. September. Marrast eröffnet
Mittags 12 1/2 Uhr die Sitzung Tagesordnung: Verfassungsdebatte.
Francisque Bouvet, zum Vizepräsidenten des kosmopolitischen Kongresses in Brüssel erwählt,
bittet um Urlaub.
Er erhält ihn.
Lamoriciere, Kriegsminister, ersucht die Versammlung, seinen berüchtigten Auswanderungsplan
für 15,000 Familien nach Algerien für morgen auf die Tagesordnung zu setzen. (Von allen
Bänken: Auf Freitag!) Der Minister dringt auf Eile und verläßt unwillig die Bühne.
Die Versammlung nimmt die Verfassungsdebatte beim Artikel V. auf, bei dem sie am Freitag
stehen blieb, Derselbe lautet bekanntlich:
„Die Todesstrafe ist in politischen Dingen abgeschafft.“
Pfarrer Coquerel möchte die Todesstrafe im Allgemeinen abgeschafft wissen.
Buvignier tritt dem Antrage Coquerels bei. Die juridischen Bedenken des letzten Redners
Aylies, seine Theorie vom Einschüchterungssystem u. s. w. seien Ueberbleibsel einer
barbarischen Vorzeit; man müsse den Verbrecher anders als durch Furcht vor Henker und Schaffot
zu bessern suchen.
Seine Rede machte Eindruck.
Emil Leroux bekämpft die Coquerelsche Blutscheu. Die Gesellschaft sei bei Weitem noch nicht
vorgerückt genug, um des Schaffots für gemeine Verbrecher zu entbehren. Für politische läßt er
es bei Abschaffung des Köpfens bewenden. Der Redner beweist ziemlich ausführlich, daß man
nicht im republikanischen Jahre IV. von Abschaffung der Todesstrafe geträumt habe; man habe
dekretirt, sie nach dem Kriege abzuschaffen, allein der Krieg habe sich in die Länge gezogen
und im Jahre X. habe man die Todesstrafe geradezu wieder dekretirt. Was wollt Ihr an die
Stelle des Schaffots setzen? ruft der Redner Die Deportation? Das wäre gerade das wahre
Mittel, um das Verbrechen zu ermuthigen. Die Aussicht auf ein grünes Eiland fehlte noch unsern
Bösewichtern. (Murren zur Linken und der Ruf: Schluß! Schluß!)
Der Debattenschluß wird ausgesprochen und die Coquerelsche Philanthropie mit 498 gegen 216
Stimmen verworfen.
Lamoriciere, Kriegsminister, besteigt wieder die Bühne, um die Versammlung zu beschworen,
seinen Auswanderungsplan morgen zu berathen. Er ist diesmal glücklicher und die Versammlung
beschließt, den Plan morgen schon zu diskutiren.
Marrast: Wir kehren nun zu Artikel V. zurück, zu welchem Noirot den Zusatz stellt, „auch die
entehrenden Strafen in politischen Prozessen abzuschaffen.“
Woirhaye bekämpft diesen Zusatz im Namen des Ausschusses mit vielem Feuer. Ginge solch ein
Zusatz durch, dann wären der Verschworungssucht ja alle Thüren und Riegel geöffnet. Dagegen
muste jeder honnete Mann protestiren.
Das zog. Der Zusatz wird mit immenser Mehrheit verworfen.
Delludre, Isambert, Tibour, Allard stellen noch mehrere ähnliche Zusätze: „beleidigte
Nation,“ „Revision des Strafgesetzes in 10 Jahren“ etc, die aber Vivien bekämpft und
durchfallen
Artikel V. wird in seiner ursprünglichen Fassung endlich angenommen.
Xavier Durrien will die Todesstrafe noch für einige Falle abgeschafft wissen.
Wird an die Ausschüsse gewiesen.
Artikel VI. Sklaverei-Abschaffung. Einstimmig angenommen.
Artikel 7. Jeder bekennt frei seine Religion und empfängt vom Staat, für Ausübung seines
Kultus gleichen Schutz u. s. w. u. s. w.
Pierre Leroux will von keiner Staatsreligion etwas wissen.
Coquerel bekampft einige Ausdrücke des kommunistischen Philosophen. Es solle ja keine
offizielle Religion gewährleistet werden.
Bourzat stellt einen langen Antrag rücksichtlich der Besoldung der Geistlichkeit, Kosten des
Gottesdienstes ect.
Lavallée stellt den Antrag, Niemand dürfe gezwungen werden, für die Kultuskosten irgend
welche Steuern zu zahlen. Die Republik bezahlt keine Geistlichen.
Buvinis stellt einen ähnlichen Antrag.
Alle diese Anträge werden verworfen.
Artikel 7 wird angenommen.
Artikel 8: „Die Burger haben das Recht sich zu vereinen, sich friedlich und ohne Waffen zu
versammeln, zu petitioniren und ihre Gedanken durch die Presse oder sonst wie zu äussern. Die
Ausübung dieses Rechts hat keine anderen Gränzen als die Achtung vor dem Rechte Anderer und
der öffentlichen Sicherheit. Die Presse darf in keinem Fall wieder unter Zensur gestellt
werden.“
Ex-Graf Montalembert schlägt hinter dem Worte „petitioniren“ den Zusatz „und sich zu
unterrichten“ vor. Dieser Antrag führt den Chef der Jesuitischen Partei auf die Bühne. Er
breitet mehrere Hefte vor sich aus und hält einen Vortrag (Die erste Hälfte seiner Rede) von 2
Stunden. Der Graf will Unterrichtsfreiheit ‒ man weiß warum? Das Volk hat Hunger, sagt Ihr
(zum Berge); Gut, gebt ihm Nahrung, aber kein Gift. Schlechte Journale und Bücher seien Gift
(Lärm) Das Volk lese Proudhonsche Bücher aus denen es Gift schöpfe (Larm.) Die Gedanken des
Volks lassen sich in zwei Worte zusammenfassen: Genießen und Verachten. Die Arbeit solle keine
Mühe keine Strafe mehr sein, sondern Genuß.... (Flocon unterbricht heftig und wiederlegt die
Definition energisch). Das allgemeine Stimmrecht reiche nicht aus, die Regierung müsse fester,
das Volk moralisirt werden. Es werden ihm Verachtungen eingeflößt gegen alles Bestehende....
(Der zweite Theil wird um 6 Uhr auf morgen verschoben.) Die Versammlung geht auseinander.