Französische Republik.
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] Paris, 10. Sept.
Die Kandidaten des Seinedepartements fallen buntscheckig aus; Raspail und Prinz Louis
Bonaparte, Kersausie und ‒ Alexander Weill (horibile dictu!), Cabet und Abbé Genoude, u. s. w.
Der elsässer Literat und Hebräer Weill brüstet sich mit seinen 14,000 Stimmen vom letzten Mal
und giebt sich nunmehr öffentlich für einen Anhänger von Henri V; er collaborirt an „La
Presse“ und „Le Corsaire“. Bonaparte hat zum sechsten Mal seinen Entschluß geändert, und steht
nach vielfachem Retraktiren und Abdiciren wieder auf den Mauerzetteln, hat aber große Chance,
da die stupide Mobilgarde für ihn ist, während für Herrn Weill die Lakaien der Henricinquisten
und die Lorgnettehändler stimmen dürften. „Frankreich wird vortrefflich repräsentirt, ruft La
Liberté in Lyon, und wirklich spiegelt sich wie im Daguerrotypenbilde jeder Schmutzflecken,
jedes Ungeziefer, jeder Kleks bestens wieder im Repräsentantenhause unsrer Februarrepublik.
Lyon ist, da es keines Belagerungszustands sich erfreut, viel freier und wichtiger als Paris
jetzt; neben den entschiedenen Volksmännern im Klub des „Grand Seminaire“ erheben sich die
Jesuiten, 300 an der Zahl, so eben per Post uns zugeschickt als angebliche arme Flüchtlinge;
sie organisiren bestens das Glaubensheer des Rhoneflusses, wie der Süden schon sein
Glaubensheer der Gironde hat. Wir haben ein ohne Polizeihinderniß verkauftes Blatt vor Augen,
welches die Freunde der Ordnung und Religion vom Bestehen einer Société organique de l'ordre
benachrichtigt und zum Beitritt ermahnt; man zahlt einen Franken Einschreibegebühr und schwört
Treue den Vorgesetzten; das Ganze ist in Centurien, Decurien und Kompagnien klassirt; in der
Vorrede heißt es: die Zeit der Vergeltung naht, die Schlange von 93 wird jetzt zerschmettert
werden; in dem Kapitel über Pflichten und Rechte dieser Societät steht: wir wollen Tag und
Nacht, mit allen möglichen Waffen des Angriffs und der Abwehr die
Feinde Gottes und des Eigenthums befehden.“ Ein Bourgeois-Pfaffenblatt Lyon's sagt: „Die
Herren Demokraten scheinen nicht zu wissen, daß sie eine gar kleine Minorität in Frankreich
sind; eine Million etwa von 35 Millionen, und daher sollten sie nach ihrem Majoritätsprinzipe
so bescheiden sein, abzutreten, und der Majoritätsregierung Platz zu machen“, worauf La
Liberté entgegnet: „die Thoren nur glauben, die Masse sei demokratisch; sie ist fähig es zu
werden, aber dazu bedarf sie demokratischer, ehrlicher Anleitung. Diese ist seit Februar in
Folge der elenden Schwärmer im Provisorium, namentlich Herrn Lamartine's, versäumt. Man legte
die neun Sous Uebersteuer auf, offenbar weil Herr Garnier Pages, dieser Erzbourgevisfinanzier
mit dem gescheitelten Lockenhaar, möglichst schnell die Revolution diskreditiren wollte. Man
verkroch sich bei dem bloßen Gedanken an einen Staatsaufkauf der Kleider- Speise- und
Möbelmagazine durch Papiergeld und Ausstattung der leidenden Klasse aus denselben; man
winselte bei der Idee eines Staatsbetriebs der Eisenbahnen, Minen, Industrien; man vergaß den
damals noch vermummten Royalisten die Heuchlermaske abzuziehen. Wir kriegen jetzt unfehlbar
Reaktions barrikaden, doch wenn die weiße Fahne im Departement
Ariege, in Mans, in den Alpen sich eines frohen Empfanges erfreut, so hindert ja nichts das
Aufziehen der rothen in andern. Also, aufgepaßt, Brüder! Die Ersatzwahlen in die Kammer haben
wenig zu bedeuten, einige Perlen mehr in den Saustall (auge de cochons) können nichts
bewirken, aber macht Propaganda, die Zeiten nahen; die deutschen Demokraten jenseit des Rheins
feiern auch nicht.“
Die Verschwörung der Reichen ist im zunehmen; viele Familien wollen den Winter auf ihren
Schlössern zubringen, um nur kein Geld in die Pariser Circulation zu werfen; in kleinen
Blättern liest man die Anekdote, wie zwei Aristokratinnen in einem Laden nach dem Preise eines
Kronleuchters fragen, und auf den Bescheid „achthundert Franken“, spöttisch entgegnen: „Das
wär er vielleicht unter dem Königthum werth, in der Republik ist das nur 200 werth“ und sie
fuhren weiter.
Die Rapporte der 86 Präfekten über die Juniereignisse enthalten mitunter bittre Wahrheiten,
so schreiben die de l'Orne und Loire inserieure: „die Legitimisten ruhen nicht seit Anfang
März und haben sich mit den Orleanisten verschmolzen. Die Bonepartisten scheuen sich bei uns
nicht, mit ihnen die weiße Fahne aufzuziehen, sie wollen alle das Wasser trüben um desto
bequemer ihr Netz füllen zu können, denn jede der drei Prädententen parteien bilden sich ein
mit den beiden Nebenbuhlerinnen nach dem Siege rasch umzuspringen.“ Der Präfekt von
Indre-Loire schreibt: „die Kommunisten hier, sämmtlich Ouvriers, sind sehr brav, und mit
Unrecht gibt man ihnen keine Arbeit; sie haben mir selbst geholfen mit Rath und Zureden einige
Gährungen beschwichtigen die unter ihren Kameraden ausbrachen. In Tours zähle ich 120 dieser
Sekte, der ich kein Verbrechen nachsagen kann.“ Und der Generalprocurator in Agen sagt: „wie
die Junikämpfer von seltnen Haß erglühten, so könnten auch spätere Emeuten durch Wuth sich
auszeichnen; abgesehen von sonstigen Motiven, ist sicher das tyrannische Repressionssystem
seit 1830 an diesem Haß viel schuld; man möge also heute bei Zeiten an Amnestie denken und
keine zukünftigen Unwetter herauflocken.“
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Paris, 13. Sept.
(Amtliches.) Der Moniteur enthält folgende Dekrete:
Dekret, das den nächstens zusammentretenden Departementalräthen laut Beschluß der
Nationalversammlung vom 9. Septbr. gestattet, die Grund-, Personal-, Thür-, Fenster- und
Patent-Steuern durch Additional-Centimen zur Deckung ihrer Lokalausgaben, für Volksunterricht,
Beschäftigung brodloser Arbeiter, (chemins vicinaux) u. s. w. zu erhöhen etc.
Rundschreiben des Justizministers Marie an sämmtliche Präfekten der Republik: „… Am 7.
August hat die Nationalversammlung das Recht aufgehoben, laut welchem es unter der Monarchie
den Präfekten zustand, aus den ihnen vorzulegenden Kandidatenlisten der Geschwornen diejenigen
Bürger zu streichen, die ihnen nicht beliebten.
Bekanntmachung, wonach die Handelssperre längs des östlichen Gestades des Laplatastromes,
das General Oribe besetzt hält, noch fortdauert. Nur in den übrigen Gegenden dieses
schiffreichen Flusses sei die Sperre gehoben.
Der Minister des öffentlichen Unterrichts gibt sich die Ehre (wörtlich) das Publikum davon
zu benachrichtigen, daß die bisher ziemlich geheim gehaltene Louvrebibliothek Ihm vom 15. d.
Mts. von Morgens 10 bis Nachmittags 4 Uhr mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage geöffnet ist.
Die Geschichte dieser Bibliothek ist vielleicht interessanter als ihr Inhalt. 1796 im
Luxemburg für das Direktorium angelegt, verlegte sie Napoleon 1800 in die Tuilerien, von wo
sie sich 1814 vor den Kosaken in einen Winkel des Louvre flüchtete. Sie zählt etwa 80,000
Bände, 311 werthvolle Handschriften, vortreffliche Studien für Militairs und eine Menge
sonstiger Denkwürdigkeiten aus unserer ersten Revolution. Man findet einen genauen Nachweis
über Alles, was bisher im Louve schlummerte, in einem Kataloge, der nicht weniger als 39
starke Bände zählt. Man kann dem Hrn. Vaulabelle für die Veröffentlichung dieser Art von
Kabinetsbibliothek rechten Dank sagen.
‒ Vorige Nacht sausten mehrere neue Bahnzüge, mit Insurgenten vollgepfropft, dem
Transportationshafen von Havre zu.
‒ Die Pariser Maurermeister scheinen das Dekret der Nationalversammlung rücksichtlich der
Arbeiterstunden in ganz eigener Weise zu deuten. Bisher arbeitete der Maurer für den üblichen
Lohn keine volle 12 Stunden. Was darüber, wurde ihm besonders verrechnet. Plötzlich möchten
die Herren Meister ihre Arbeiter ausbeuten und ihnen das Dekret vom 9. September, aber ohne
den Artikel III. appliziren, wahrscheinlich um sich für ihre Februarverluste zu entschädigen.
Das läßt sich aber der Pariser Arbeiter nicht gefallen, und die „Reforme“ zeigt diesen Morgen
an, daß in Folge dieser Lohnstreitigkeiten sämmtliche Maurergesellen ihre Arbeiten eingestellt
haben.
‒ Im Lager von St. Maur (längs der Festungswälle) und in der großen Militärschule am
Marsfelde haben sehr bedenkliche Auftritte stattgefunden.
Als Veranlassung dieser Auftritte wird die schlechte Beschaffenheit der den Soldaten
gereichten Nahrungsstoffe, namentlich des berüchtigten Schiffzwiebacks, bezeichnet. Die
„Demokratie Pacifique“ droht mit dem Finger und sagt am Schlusse ihrer Details: „Wer zum
Schwert greift kann leicht durch's Schwert umkommen“. ‒ Mehrere Blätter protestiren diesen
Morgen gegen die bereits erfolgte Transportation eines Insurgenten von dreizehn Jahren.
‒ Pascal-Duprat, der Mitarbeiter George Sand's u. Pierre Lerour's, Vicepräsident des
Repräsentanten-Klubs im Palais National etc., geht nicht nach Wien, sondern nach Pesth, von wo
Teleki hier ist.„ Wir wünschen“ sagt das jesuitische Univers, „daß Herr Pascal-Duprat seine
diplomatisch-geographischen Kenntnisse im Auslande vervollständigen möge, denn in seiner
„Revue Independante“ behauptete er vorigen Herbst steif und fest, daß Vorort und Tagsatzung
ein und dasselbe sei.“
‒ Die „Reforme“ behauptet, Senard habe im Ministerium des Innern ein autographisches
Korrespondenzbüreau angelegt, das in allen Richtungen des Reichs gegen die rothe Republik
seine Pfeile schieße, aber meistens sein Ziel verfehle.
‒ In Havre fand ein Banquet de la Fraternité Statt, bei dem Senard, Minister des Innern,
eine Rede hielt, worin folgende Stelle vorkam: „Der Abgesandte Frankreichs sagte zu Oestreich,
das sich Anfangs taub stellte: Entschließet Euch, in 48 Stunden die Mediation oder Krieg! Die
31. Stunde hatte noch nicht geschlagen als Oestreich antwortete: Ich nehme die Mediation
an.“
‒
Kersausie hatte bereits gestern seine Kandidatur für die
Ersatzwahlen des nächsten Sonntags zurückgenommen, in Folge eines Beschlusses der zum
demokratisch-sozialistischen Wahlkomite konstituirten Ex-Delegirten des Luxembourg, die sich
für Capet,
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Raspail und Thore, entschieden haben. Heute zieht sich auch
d'Alton-Shee der Ex-Pair von Frankreich, vor diesem Willensausdruck der Massen zurück. Es
bleiben von den Kandidaten der Reforme nur noch Dupoty und Schölcher. Ziehen sich diese
ebenfalls zurück, so vereinigen sich alle Kommunisten und Sozialisten auf die obigen drei
Kandidaten und ihr Sieg ist gewiß.
‒ Der Gerant des Peuple Constituant, das Journal von Lamennais, ist heute zu 6 Monaten
Gefängniß und 2000 Fr. Geldbuße verurtheilt worden. Der Prozeß der Reform wurde wegen
Abwesenheit des Vertheidigers auf die nächste Session vertagt.
‒ Auch der Marschall Bugeaud meldet sich zur Repräsentation von Paris, und stellt den
Bürgern der Hauptstadt seinen Degen gegen die Kommunisten und Terroristen zur Verfügung.
National-Versammlung. Sitzung vom 13. September. Anfang 12 Uhr.
Präsident Marrast. Tagesordnung: der Mathieusche Antrag, das Recht auf Arbeit und Staatshilfe
etc. in den Schlußartikel der Verfassungseinleitung aufzunehmen. Eingeschrieben sind nicht
weniger als neun und dreißig Redner.
Gaslonde erhält zuerst das Wort. Er bekämpft den Antrag. Spricht gegen die sozialistischen
„Träumereien“ Mathieus, Pelletiers, Ledru-Rollins, Lamartines, Cremieux etc. Kommunismus …
Vernichtung der Familie … des Eigenthums … der bürgerlichen Freiheit.
Foy legt das Ausschußgutachten über den Lamoriciereschen Kolonisationsplan Algeriens auf den
Tisch.
De Luppe nimmt das Arbeitsrecht wieder auf. Er habe Anfangs dafür stimmen wollen, allein die
Diskussion der letzten Tage habe ihm die Augen geöffnet. Auch er ist der Ansicht, daß der
christliche Beistand für den Proletarier ausreiche.
Arnaud zieht fürchterlich gegen die mauvais citoyens zu Felde, die den Staat wieder in die
Anarchie stürzen wollen, indem sie dem Armen das Recht auf Arbeit versagen. Schon der
christliche Standpunkt gebiete dies. Der Christianismus sei die wahre Demokratie Der
Christianismus lasse die Menschen nicht Hungers sterben. Geschähe dies, so sei dies ein
Beweis, daß er in Verfall gekommen. Man müsse ihn wieder herstellen. Auch habe er nicht das
Eigenthum geschaffen, sondern Brüderschaft gepredigt.
Thiers (Spannung): Wir haben die Republik nicht gemacht, auch nicht gewünscht, wir nehmen
sie an. (Lärm zur Linken.) Ich und meine Freunde nehmen die Republik aufrichtiger und loyaler
Weise an. Für jeden vernünftigen Bürger ist die gesetzliche Regierungsform seines Landes
achtungswerth. Wir haben niemals konspirirt und werden niemals konspiriren Wir haben nie dem
Königthum geschmeichelt, wir werden auch der Republik nicht schmeicheln. Die Regierungsform
eines Landes sei gleichgültig, das Glück desselben sei Alles.
Der Redner geht auf die Frage über. Wäre sie rein ökonomischer Natur, so würde er still
geschwiegen haben, aber sie sei sozialistischer, philosophischer und metaphysischer Natur. Man
sagt, das Volk leide! Man wirft den frühern Staatsmännern vor, daß sie diesen Leiden ruhig
zugesehen hätten. Ich wende mich jetzt an Euch und frage Euch, was habt Ihr denn gethan? Eure
Mittel?
Der Redner kritisirt nun die sozialistischen Schritte der Februar-Regierung und schildert
sie als unheilbringend und Freiheit zerstörend. Nach ihm übertrieben die Sozialisten die Lage
der Proletariats. Es gibt nur ein Mittel, und dieses ist die größte industrielle Freiheit. Die
freieste Konkurrenz bessert die Lage des Arbeiters. (Nein! Nein! vom Berge.) Jeder bisherige
Versuch habe nur die Lage des Arbeitgebers verschlimmert.
Flocon und Victor Considerant unterbrechen den Redner mit Heftigkeit.
Thiers setzt seine Kritik der Arbeitsverhältnisse jedoch fort und wirft einen großen Theil
der Schuld des Elends unter den Arbeitern auf die Achseln derselben, z. B. muthwillige
Arbeitseinstellung, Koalition etc.
Wir brauchen nicht hinzuzufügen, daß Thiers auf Streichung des Rechts auf Arbeit antrug und
damit schloß, daß der Staat unmöglich Allen Arbeit verschaffen könne
Victor Considerant hält einen kurzen Vortrag.
Rollinat, bisher ganz unbekannt, erhebt sich für den Antrag. Seine Rede erntet großen
Beifall, und wird mit großer Aufmerksamkeit gehört. Er bekämpft zunächst die Ansicht, daß die
Republik eine hohle Form sei; sie sei vielmehr die ergiebigste und mächtigste von Allen. Wie?
ruft er aus, die Februar-Revolution dekretirte das Recht arbeitend zu leben, und Ihr wollet
dieß Recht aus der Verfassung streichen? Habt Ihr denn die Proklamation schon vergessen, die
Euer damaliger Präsident Senard an die Insurgenten erließ, und in der er sie beschwor die
Waffen niederzulegen, indem ihnen die kunftige Verfassung Arbeit und Existenz garantiren
würde? Wollt Ihr Euer Wort zurücknehmen? Es falle ihm nicht ein, ein Prinzip zu vertheidigen,
das den Staat verpflichte, jedem einzelnen Bürger in seiner Spezialität Arbeit zu verschaffen;
aber wenn der Privatbetrieb nicht ausreiche, dann müsse der Staat für Arbeit sorgen. (Stimme:
Dasselbe will ja auch Thiers!) Der Staat müsse jede Arbeitslosigkeit unmöglich machen. Die
Revolution unserer Väter und ihre gesetzgebende Versammlung haben uns die Arbeitsfreiheit
errungen, die Revolution von 1848 hat für volle Benutzung dieser Freiheit, d. h. für Arbeit zu
sorgen. Das Privilegium ist für immer abzuschaffen und Jedem Gelegenheit zu geben, arbeitend
zu leben. (Beifall).
Bouhier de l'Ecluse hat das Wort, ruft Marrast. Aber alle Welt schreit: Schluß! Schluß! Und
die Sitzung wurde um 6 Uhr aufgehoben.