Französische Republik.
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[12]Paris, 19. Juli.
‒ Alles kommt wieder ins alte Geleise; die alten republikanischen Phrasen und
die alten republikanischen Dekorationen werden als abgethan beseitigt, und
mit ihnen die Männer, welche sie hervorgeholt. Der Bürger Marrast, der Maire
von Paris, tritt ab, und mit seinem Abtreten geht der republikanische Name
eines „Maire von Paris“ ebenfalls zu Grabe. An seine Stelle kommt ein
Präfekt der Seine, wie er früher bestanden, und, Trouvé-Chauvé, der
Polizei-Präfekt ist zu dieser Stelle bestimmt. Ducoux, wie die „Patrie“
versichert, wird Polizei-Präfekt werden. Und Marrast? Marrast war nahe daran
die Rolle eines Lamartine zu spielen! Wie man weiß, hat er im Institut einen
eigenen Cirkel gebildet, der aus lauter „blassen“ Republikanern besteht. Die
andern mit Lamartine, Ledrü-Rollin und Flocon halten, wie früher, ihre
Zusammenkünfte im Palais-National. Das Institut hat beschlossen, Marrast als
Kandidaten zur Präsidentenstelle in der National-Versammlung vorzuschlagen.
Das Palais-National, welches zu schwach ist, um einen Kandidaten aus seiner
Mitte durchzubringen, unterstützt die Kandidatur des Herrn Marrast. Das
Institut, vereint mit dem Palais National, ist einstweilen noch stark genug,
um der Rue Poitiers entgegen zu arbeiten, deren Kandidat Dufaure oder
Lacrosse ist, aber wie lange noch?
Alles wird bürgerlich gelichtet, sogar die Nationalgarde. Man kann wohl
sagen, daß die aufgelößten Legionen und Compagnien die eine Hälfte der
ganzen Nationalgarde betragen. Das Decret des Präsidenten Cavaignac, wonach
dieselbe reorganisirt werden soll, lautet folgender Maßen:
„In Erwägung, daß die zu den aufgelößten Legionen und Compagnien gehörigen
Bürger, durch den thätigen Antheil den sie
größtentheils an der Insurrektion vom 23., 24., 25. und 26. Juni
genommen, in der Art gehandelt haben, daß die Ausnahmsmaßregeln, die zur
Wieder-Constituirung dieser Legionen in Anwendung gebracht werden, sich in
jeder Hinsicht gerechtfertigt finden.
„In Erwägung, daß bis zum Zeitpunkte hin, wo ein organisches Dekret die
Bildung der Nationalgarde festgesetzt, es nothwendig ist, im 8., 9. und 12.
Arrondissements, zur Aufrechthaltung der Ordnung und des öffentlichen
Friedens, die Nationalgarde in diesen Stadtvierteln zu rekonstituiren;
„In Erwägung, daß dieselbe Nothwendigkeit hinsichtlich der aufgelößten
Compagniern in den andern Stadtvierteln stattfindet;
„Beschließen wir:
1. Der Maire eines jeden der oben bezeichneten Stadtviertel soll einen
Musterungsrath bilden, der aus 32 Mitgliedern besteht, und unter dem
Vorsitze des Maire's, nach vorläufiger Untersuchung, zur Anfertigung neuer
Controllisten schreitet.
2. Nach Anfertigung dieser Controllisten soll die Wahl der Offiziere und
Unteroffiziere in den gewöhnlichen Formen stattfinden.
3. Der Commandant en Chef der Nationalgarde der Seine ist beauftragt, die
Liste derjenigen Offiziere vorzulegen, die den Generalstaab der
Nationalgarde bilden sollen.
4. Der Minister des Innern ist mit der Vollstreckung dieses Beschlusses
beauftragt.
Cavaignac.
Der Minister des Innern, Senard.
Die Mobilegarde dagegen kommt immer mehr zu Ehren. Diese wahren „Bohemiens“
von Paris, die früher Schwefelhölzchen verkauften, bekommen jetzt Pistolen
mit zu ihrer „Privat-Sicherheit.“ Und so hatte neulich ein fünfzehnjähriger
Bursche, dem aus Ungeschicklichkeit die Pistole losging, einen ganzen
Zusammenlauf im Walde Romaine-Ville verursacht. Man glaubte, es handele sich
wieder von einer Insurgentenjagd. Die wahren Arbeiter dagegen, welche die
Februar-Revolution gemacht haben, werden täglich mehr zurückgesetzt. Die
Bourgeois zeigen ordentlich, daß sie diese Leute gar nicht kennen, daß
dieser Theil der Bevölkerung ihnen ganz fremd geblieben; und sie haben das
eigene Talent, sich durch ihre Wohlthaten den Arbeitern noch verhaßter zu
machen, als durch ihre feindseligen Maßregeln, der Entwaffnung u. s. w.
Bourgeois-Kommissare werden abgeschickt in die verschiedenen Behausungen der
Arbeiter, um nach dem Alter des Mannes, der Frau, der Anzahl der Kinder, der
Subsistenzmittel, zu fragen, die Möbeln, das Lokal in Anschau zu nehmen etc.
Durch dergleichen Untersuchungen, meinen die Debats, welche in die kleinsten
Details des Lebens eindringen, könne man die Pflichten der Menschlichkeit
mit denen der Sparsamkeit verbinden. Wenn die Bourgeois der Debats von
Arbeitern sprechen, so haben sie nur das Lumpen-Proletariat im Auge. Der
wahre Arbeiter läßt diese Leute gar nicht eindringen in diese Details seines
Lebens, und diese Leute dringen auch nicht ein in Behausungen dieser
Arbeiter, und wenn sie eindringen, so geschieht es bloß, um ihnen Waffen
wegzunehmen, nicht aber, um ihnen Speise und Trank zu bringen.
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‒ Die ganze gestrige Sitzung der Nationalversammlung war fast ausschließlich
der Präsidentenwahl gewidmet. Der Kampf war heiß. Jede Partei wollte ihren
Kandidaten durchsetzen. Die Rue de Poitiers hatte alle ihre Sprungfedern in
Bewegung gesetzt, um die Mehrheit für ihren Kandidaten Lacrosse zu erzielen.
Sie ist geschlagen worden. Marrast, der im ersten Skrutinium von 781
Stimmenden 386 erhielt, ließ seinen Konkurrenten Lacrosse mit 341 Stimmen im
zweiten Skrutinium weit hinter sich, indem er von 765 Stimmen 411 erhielt
und somit zum Präsidenten der Nationalversammlung proklamirt wurde. Der
Berg, der sich Anfangs gespalten, indem ein Theil für Lacrosse, ein anderer
für Marrast und der Kern mit 37 Stimmen für Bac gestimmt hatte, rächte sich
zuletzt an der Thierspartei und stimmte für ihren eifersüchtigsten Gegner,
Hrn. Armand Marrast, der auf diese Weise den Sieg errang.
‒Nach der Präsidentenwahl votirte gestern die Nationalversammlung die Summe
von 15.000 Franken an Bureaukosten für den Konseilpräsidenten. Diese
Bureaukosten verdienen eine spezielle Erwähnung. Man entsinnt sich, daß
Ledru Rollin bald nach dem Februarsiege das einst so berüchtigte Bureau de
publi cité, oder Bureau de l'Esprit public wieder in das Leben rief. In
dieses Bureau wandern bekanntlich alle Journale des In- und Auslandes, und
zwei bis drei Menschen sind unaufhörlich beschäftigt, dem Minister in's Ohr
zu blasen, was in den Departements und in der übrigen Welt vorgeht. Der
Abonnementspreis für auswärtige Blätter beträgt allein 10,200 Franken.
Ledru-Rollin hatte diesem Bureau eine recht volksthümliche Einrichtung
gegeben, indem er die Herausgabe des berüchtigten Mauer-Journals „der
Bülletins des Minister des Innern“ daran knüpfte, das dem Volke die Wahrheit
sagte und die einlaufenden Depeschen veröffentlichte. Aber die Journale
protestirten gegen diese gefährliche Konkurrenz, sprachen das Monopol der
Volksbelehrung für sich allein an, und die Haupthätigkeit des Bureau de
publicité erlosch. Obige 15,000 Franken sind daher nur dafür bestimmt, die
Herren General Cavaignac und Oberadvokat Senard über die Stimmung in den
Departements und der Fremde gegen Sie und die Republik aufzuerklären.
‒ Auch das Schicksal der Mobilgarde zu Fuß und zu
Pferd sollte gestern in der Nationalversammlung verhandelt werden. Charoix
erinnerte an die Rechenschaft, welche die Versammlung von der vorigen
Exekutivgewalt rücksichtlich dieser Garde verlangt hatte und daß sie den
Oberst Ambert beauftragt habe, ihr einen vollständigen Bericht über die
Bildung und den eigentlichen Zweck derselben, abzustatten. Seit dem Sturz
des Vollziehungsausschusses habe sich jene Garde brav geschlagen; sie habe
das Meiste zum Junisiege beigetragen, und sei jetzt Gläubigerin des Landes.
Bonhier de l'Ecluse und Boulay (Meurthe) nahmen sich der Garde zu Pferd,
welche Ambert durchaus aufgelöst zu sehen wünschte, ebenfalls an, und wir
werden wohl die Junihelden konservirt sehen. Ob sie aber sich zum zweiten
Male mit derselben Ausdauer gegen ihre Brüder hinter den Barrikaden schlagen
werden, das ist eine andere Frage. Die Versammlung verschob den
Gegenstand.
‒Ein anderes Projekt der provisorischen Regierung wurde ebenfalls zu Grabe
getragen. Dieselbe beabsichtigte bekanntlich, in allen Städten und Flecken
Provianthäuser zu errichten, in welchen das
Arbeitsvolk seine Lebensmittel zu den wohlfeilsten Preisen erhalten könne.
Bautier hatte auf jenes Projekt hin einen vollständigen Plan ausgearbeitet
und ihn der Nationalversammlung in Form einer motivirten Proposition
vorgelegt, in der er ihr haarklein auseinandersetzte, daß, je ärmer der
Mensch sei, desto theurer er alles bezahlen müsse.(Dans l'état actuel des
choses, plus on est pauvre, plus on paye cher les objets de premiére
necessité.)
Die Versammlung fand diesen Grund wenig plausibel und zog es vor, die Sache
auf die lange Bank zu schieben, d. h. in's Unendliche zu vertagen. Sie hatte
übrigens selbst Hunger, und eilte schon um 6 Uhr zum Provianthause. Ihr
eigner Magen konnte sie also nicht einmal von der Wichtigkeit des
Bautier'schen Antrages überzeugen.
‒ In der Rue de Charenton und Rue de Montreuil (Faubourg St. Antoine) sind
abermals eine Menge Verhaftungen in vergangener Nacht vorgenommen worden.
Man hofft indeß, daß
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[Spaltenumbruch] die Untersuchungskommission es endlich satt bekommen und nicht
länger zögern wird, ihr vaevictis über die Junikämpfer zu fällen. Heute hält
sie ihre zweite Plenarsitzung im Justizpalaste, um den Generalbericht ihrer
Instruktionsrichter anzuhören. Die Kriegsgerichte sind natürlich aus den
Koryphäen der Bürgerwehr, welche das Arbeitervolk am meisten haßt,
zusammengesetzt, und an der Urteilsstrenge kein Augenblick zu zweifeln. Wir
hörten gestern ein Glied dieser Standgerichte verbissen zu seinem Nachbar
sagen: „.... Wir werden doch endlich einmal mit der „Canaille“ fertig
werden!“
‒ Ohne ganz vertraute Freunde zu sein, haben sich doch Frankreich und England
entschlossen, eine vereinigte Flotte in das schwarze
Meervor die Donaumündung zu schicken, um die Schritte Rußlands zu
überwachen.
Es frägt sich, was Rußland zu diesem Bruch des Vertrages von Unkiar Skelessy
sagen wird, der den französischen und englischen Kriegsschiffen den Eingang in den Bosphor ausdrücklich
verbietet.
‒ Die Unterhandlungen zwischen Goudchaur, dem Finanzminister, und der Lyoner
Eisenbahndirektion, die so plötzlich abgebrochen wurden, sind wieder
angeknüpft. Goudchaux ‒ der honnete Jude, nach
Morning Chronicle's eigenem Ausdruck ‒ bietet diesmal nur 7 Frk. 50 Cent. in
5 pCt. Rente für die Umwandlung und resp. Abtretung der von den Aktionären
bereits eingezahlten 250 Frk.
‒ General Cavainac heirathet nicht das Fräulein Dubouchet, sondern Dubochet,
Tochter des Gasfabrikanten Vinzenz Dubochet, eines alten Freundes und
Verwandten des J. J. Dubochet, ehemaligen Geranten des National, und
Mitgründer der Illustrirten Zeitung.
‒ Gestern war große Soirée beim General Cavaignac, bei der die alte Mutter
desselben, trotz ihrer 70 Jahren, noch die Honneurs machte. Cavaignac
bewohnt bekanntlich das Hôtel Baudon (ehemals der Prinzessin Adelaide
angehörig) in der Rue de Varennes.
‒ Nationalversammlung. Sitzung vom 20. Juli.
Vizepräsident Gorbon eröffnet sie um 2 1/2 Uhr. Nach Vorlesung des
Protokolls durch einen der Schreiber, theilt der Präsident der Versammlung
einen Brief von A. Marrast mit, worin derselbe ihr für das hohe Vertrauen
dankt, daß sie ihm durch seine Wahl zum Präsidenten erwiesen. Er bedauert
jedoch, nicht sofort den Präsidentenstuhl einnehmen zu können, indem ihn ein
heftiges Fieber im Bett zurück halte. Sobald dieses vorüber, werde er sich
beeilen, sein hohes Amt zu erfüllen.
Ein zweiter Brief, den der Präsident verliest, zeigt der Versammlung den Tod
ihres Kollegen Dornes, Redakteur des National, offizell an. Der Präsident
zieht eine Deputation von 50 Gliedern, die der Beerdigungsfeier beiwohnen
soll.
Eine Menge Petitionen wird auf den Büreautisch gelegt.
Der Präsident zeigt an, daß die Stimmzettelzählung über die Wahl eines neuen
Vizepräsidenten in den Nebensälen vollendet sei und folgendes Resultat
gegeben habe. Zahl der Stimmenden 440, absolute Mehrheit 221.
Bixio hat 328 Stimmen erhalten und wird somit zum
Vizepräsidenten proklamirt.
Nach Bixio, der sich so muthig gegen die Insurgenten auf den Barrikaden
gezeigt hatte, zählte Trelat, der Exstaatsbauten Dr. und Vivien, der
Akademiker, die meisten Stimmen.
Ceyras verlangt das Wort, um seinen Vorschlag
rücksichtlich der Versorgung arbeitsunfähig gewordener Landbewohner zu
entwickeln. Er beklagte sich, daß man ihm das Wort verweigern wolle, weil
sein Antrag mit dem Antrage Waldeck-Rousseau, angeblich derselbe sei und mit
ihm zusammenzalle.
Ein Glied des Arbeitsausschusses springt auf die Tribüne und sagt: „Der
Ausschuß trägt auf Vertagung des Antrages an.“ Nachdem das geehrte Glied,
dessen Namen uns leider entfallen, eine Menge nichtssagender vager Gründe
unter allgemeinem Lärmen hergesagt, schließt er: Sie sehen also, meine
Herren, daß dieser Antrag neue Ausgaben verursachen würde. Da aber die
Versammlung jede neue Ausgaben scheuen, und sich mit neuen Einnahmen
beschäftigen muß, so scheint die Vertagung mehr als gerechtfertigt.
v. Luneau, Ex-Deputirter, richtet den Muth des
Antragstellers etwas aufrecht, indem er ihm verspricht, daß der Ausschuß ihn
morgen anzuhören geruhen werde.
Hiernächst hört die Versammlung den Bericht Vivien's über die Wahl eines
Vertreters des Departements von Vacluse an, der an die Stelle Agricole
Perdigniers gewählt wurde, weil letzterer für das Seine-Departement
angenommen hatte. Der Neugewählte heißt Adolph Gens
und ist ein ehemaliger Kommissair der Regierung. Ein halbes Dutzend
Protestationen gegen seine Wahl liegen vor. Sie seien mehr oder wenigee
begründet, darum der Ausschuß durch sein Organ Vivien auf Einleitung einer
Untersuchung antrage.
Der Kampf um diese Wahl war ziemlich heiß. Die Einen, selbst Clemens Thomas
schrieen nach Annulation, die Anderen nach Untersuchung. Vivien trotz aller
möglichen Rücksicht sah sich genöthigt, einige empörende Zeitungsartikel
gegen den Gewählten vorzulesen. Dieses Mittelchen zog und der Bestrittene
wird von Neuem vor ein Untersuchungsgericht gestellt werden.
Der Präsident ladet die Versammlung ein, sich von Montag an fleißig mit
Prüfung des Verfassungsentwurfs zu beschäftigen, damit dessen öffentliche
Berathung bald beginnen könne.
Die Versammlung schreitet bei Postschluß zur Berathung der Glais-Bizoinschen
Proposition rücksichtlich der Nebenwege (chemins
vicinaux).
Luneau dringt auf Vertagung. Die Diskussion entspinnt
sich dennoch ohne erhebliches Interesse.