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Extrabeilage zu Nr. 36 der Neuen Rheinischen Zeitung.
Neue Ministerkrisis. Rodbertus ausgetreten. Sieg der Linken. Staatsstreich der Rechten.
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[ 103 ] Berlin, 4. Juli.
Ich komme so eben aus der Sitzung der Vereinbarer-Versammlung und bin so verwirrt von den verschiedenartigsten Eindrücken, welche diese Sitzung auf mich und gewiß auch auf alle Anwesende hervorbrachte, daß ich kaum weiß, worüber ich Ihnen berichten soll. Ein Gedanke überstürzt den andern und deshalb will ich nur Alles gleich auf einmal auskramen. Der Minister des Kultus, Rodbertus, hat abgedankt. ‒ Die Polenfrage wurde gegen den Willen der Minister entschieden. ‒ Die Vereinbarer widerrufen hierauf theilweise den gefaßten Beschluß, nachdem sich die Linke in Masse wegen der ungerechten Fragestellung entfernt. ‒ Das Ministerium erkennt nothgedrungen die in Frankfurt angenommene Vollstreckungsbehörde und den Reichsverweser Erzherzog Johann an.
Nach Eröffnung der heutigen Sitzung zeigte der Ministerpräsident v. Auerswald an, daß der Minister des Kultus, Rodbertus, seine Entlassung eingereicht habe. Die Meinungsverschiedenheit sey durch die Behandlung der deutschen Angelegenheit hervorgerufen. Obgleich das Ministerium darüber einstimmig gewesen, daß die Begründung eines einigen und starken Deutschlands das einzige Ziel sei, das es zu verfolgen habe, ist es doch nicht gelungen, eine Einigung über die einzelnen Fragen mit dem Minister des Kultus zu Stande zu bringen. Das Ministerium hält sich durch diesen Austritt nicht für gefährdet und will suchen sich gelegentlich zu ergänzen. Einstweilen und bis zur baldigen Wiederbesetzung wird der Direktor im Kultusministerium, v. Ladenberg, dasselbe interimistisch vorstehen.
Rodbertus machte hierauf die Mittheilung, daß er nur in einigen Differenzen bei der deutschen Frage mit seinen Kollegen gewesen, glaubte aber deshalb seine Entlassung einreichen zu müssen. Er hatte diesen Schritt genau erwogen und wäre der Meinung gewesen, durch diesen Schritt das fernere Bestehen des Ministeriums nicht zu gefährden. Er glaubte es aber seiner Gesinnung schuldig zu sein, auszutreten, jedoch wird er auch ferner das Ministerium in allen Fragen unterstützen.
Hiermit war die Sache in der Vereinbarerversammlung erledigt, nachdem der Ministerpräsident veranlaßt durch einige Bemerkungen und Zurufe von der Linken sich genötbigt sah zu erklären, daß Hr. v. Ladenberg dem Ministerium des Kultus jedenfalls nur bis zur baldigen Wiederbesetzung dieses Ministeriums vorstehen werde. Hr. v. Ladenberg ist nämlich noch ein Beamter des alten Systems, der Günstling des Exministers Eichhorn; deshalb ist es nicht auffallend, daß die Linke sogleich ihr Mißfallen über diese Besetzung zu erkennen gab.
Hierauf kam die polnische Frage zur Verhandlung. Das Kommissionsgutachten ging dahin, „daß eine Kommission zur Untersuchung der Ursachen, wodurch die blutigen Vorfälle im Großherzogthum Posen hervorgerufen, niedergesetzt und ihr zu deren Erforschung völlig freie Hand gelassen werde.“ ‒ Viele Amendements zur Erweiterung oder Beschränkung der Befugnisse der Kommission wurden eingereicht, eine Menge Redner, im verschiedenartigsten Sinne wurden angehört, selbst der Minister des Innern, Kühlwetter, fand sich veranlaßt, das Wort zu ergreifen, um erstens die Beamten des Großherzogthums, denen man Partheilichkeit und viel Schuld am Vorgefallenen vorgeworfen hatte, in Schutz zu nehmen. Man solle den ganzen Beamtenstand nicht tadeln, weil vielleicht einzelne Beamte unrecht gehandelt hätten. Dann gab der Minister eine langweilige Auseinandersetzung zum Besten, über die Befugnisse der Kammern zur Einsetzung von Untersuchungs-Kommissionen und über die Trennung der richterlichen, der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalten. Seiner langen Rede kurzer Sinn war, daß er die Befugnisse oder die Kompetenz der Versammlung zu bezweifeln schien und daß seiner Ansicht nach die Kommission wenig ausrichten könne.
Dr. d'Ester widerlegt den Minister und mehrere andere Redner der Rechten in einer langen glänzenden Rede. Seiner Ansicht nach, maßt sich die Versammlung durch die Einsetzung der vorgeschlagenen Untersuchungs-Kommission keine richterliche Gewalt an. „Wir thun nichts anders, als Jemand, der einen Beschluß fassen, und sich vorher deshalb informiren will. Auch wir wollen uns informiren. Man bestreitet die Kompetenz der Versammlung, ihre Berechtigung, Zeugenverhöre vorzunehmen. Aber ich behaupte, daß jeder Privatmann sogar dazu berechtigt ist. (Dieser Satz findet viel Widerspruch.) Es freut mich, daß ich Widerspruch finde, da ich besonders darüber Aufschluß geben kann. Ich und der ebenfalls hier anwesende Dr. Borchhardt waren angeklagt, zwei Zeugen vernommen zu haben, um politische Thatsachen festzustellen. Alle Gerichtshöfe haben unsere Berechtigung dazu anerkannt. Ich muß ferner bezweifeln, ob das Ministerium im Stande wäre, alle nöthigen Mittheilungen machen zu können, weil es eben an die einseitigen Berichte seiner Beamten gebunden ist. Deshalb ist es durchaus nothwendig, daß die Kommission das Recht haben muß, sich selbst an Ort und Stelle zu begeben und den nöthigen Thatbestand aufzunehmen. Es fragt sich noch, ob dieser Kampf in Posen wirklich der Kampf zweier Nacen war, wie er bisher dargestellt wurde. Es fragt sich noch, ob dieser Kampf nicht auch wie in ganz Europa der Kampf der Unterjochten gegen das unterdrückende System war.“ Nachdem der Redner seine Ansichten noch näher begründet hatte, schloß er mit vielem Beifall. Als endlich der Schluß der Debatte angenommen war, wurde zur Fragestellung geschritten. Der Präsident Grabow entwickelte mit vieler Klarheit, daß nach den vielen gestellten Amendements nicht anders zum Ziele zu gelangen sei, als daß er alle in die Form von Fragen auflöse. Die Versammlung nimmt hierauf fast einstimmig an, „daß eine Kommission zur Untersuchung der Angelegenheiten im Großherzogthum Posen seit der versprochenen Reorganisation vom 22. März dieses Jahres eingesetzt werde; daß diese Kommission aus sechszehn Mitgliedern bestehen solle, wozu je zwei Mitglieder in jeder Abtheilung gewählt werden sollen; daß die Kommission die Aufgabe haben soll, die Gründe und Ursachen zu erforschen, welche die unter den Angehörigen der polnischen und deutschen Nationalität stattgefundenen Entzweiungen hervorgebracht; daß sie das Ganze, bei der Einleitung der Reorganisation seitens der Regierung und ihrer Organe beobachtete Verfahren untersuche; daß sie die, die Provinz Posen betreffenden internationalen Verhältnisse untersuche; daß sie die Mittel erforsche und angebe, wie die Eintracht herzustellen sei; daß sie ermittele, wie die beabsichtigte Reorganisation durchzuführen sei.“ ‒ Alle diese Fragen wurden angenommen und es handelte sich nur noch um die Fragestellung, wie die Kommission ihre Aufträge in Ausführung zu bringen habe. Der Präsident stellt nun zuerst die Frage: „Soll der Kommission in Ausführung ihrer Aufträge ganz freie Hand gelassen werden?“
Der Präsident erklärt, daß wenn diese Frage angenommen wird, alle andern Fragen wegfallen würden, da die andern Fragen diese erste beschränken. Nach einer kurzen Debatte stellte sich als ganz sicher heraus, daß durch die Annahme dieser Frage der Kommission alle mögliche Befugnisse eingeräumt werden. ‒ Graf Reichenbach verlangt namentliche Abstimmung, welche auch von der ganzen Linken unterstützt wird. ‒ Die namentliche Abstimmung ergiebt folgendes:
195 stimmen mit „ja“ ‒ 170 mit „nein“
Die Frage ist also angenommen. Alle Minister haben mit nein gestimmt, also eine Niederlage des Ministeriums.
Schon während der Stimmenzählung entfernten sich viele Mitglieder der Linken, in der Gewißheit, daß die Frage angenommen, und daß dadurch alle nachfolgenden verworfen seien. Aber die Rechte war anderer Meinung. Sie wollte nun durchaus die andern Fragen auch zur Abstimmung bringen. Durch die Annahme der ersten Frage, die ganz allgemein sei, wären die Mittel zur Ausführung noch nicht angegeben; man müsse erst feststellen, ob die Kommission das Recht haben solle, Zeugen zu vernehmen u. s. w. Man bestürmte den Präsidenten so lange, bis er einwilligte, die Fragen zur Abstimmung zu bringen. Daß der Präsident bei der Fragestellung durch die Annahme der ersten Frage die andern für unnöthig erklärt habe, das sei noch kein Beschluß der Versammlung. Der Präsident sieht sich genöthigt, die Frage zur Abstimmung zu bringen. Die Linke protestirt dagegen und da die Rechte auf der Fragestellung besteht, so verläßt die Linke in Masse die Versammlung.
Nachdem sich nun die Linke entfernt hatte, beschließt die Versammlung, in Widerspruch mit der ersten Frage, welche mit Majorität angenommen war, die andern Fragen auch zur Abstimmung zu bringen, und die Frage: „Soll der Kommission die Befugniß zustehen, sich nöthigenfalls nach der Provinz Posen begeben und Zeugen vernehmen zu dürfen?“ wird verneint. ‒ Die Kommission, welcher man durch die Annahme der ersten Frage, zur Ausführung ihrer Aufträge ganz freie Hand gelassen, wird durch die Bestimmung, sich nicht nach Posen begeben und Zeugen vernehmen zu dürfen, wieder beschränkt.
Die Durchführung der letzten Fragstellung ist jedenfalls ein Staatsstreich, dessen Folgen von unermeßlicher Wirkung sein kann. Jetzt ist es an der Zeit, jetzt kann die Linke der Versammlung zeigen, ob sie es ernsthaft meint. ‒ Die Spaltung, die bisher in der Versammlung bestand, ist heute zum völligen Bruch geworden.
Nach dieser folgenreichen Abstimmung nahm zuletzt noch der Minister-Präsident v. Auerswald das Wort und sprach mit lieblichen Phrasen von der Einheit Deutschlands, von Eintracht, und daß das Ministerium demnach auch die in Frankfurt gefaßten Beschlüsse, die Einsetzung einer exekutiven Behörde und die Wahl eines Reichsverwesers in der Person des Erzherzogs Johann, dieses edlen Prinzen, anerkenne. Er gab nicht undeutlich zu verstehen, daß eine vorhergehende Genehmigung Preußens zu diesen Beschlüssen nöthig gewesen wäre, aber das Ministerium wolle Alles durch die Dringlichkeit der Umstände entschuldigen, und gebe seine vollkommene Zustimmung.
Wenn wir ein Haus auf festen Grundlagen bauen wollen, so müssen wir es mit Eintracht errichten u. s. w. So schloß der Ministerpräsident seine Rede. ‒ Der Präsident Grabow forderte hierauf die Versammlung auf, ihre Zustimmung durch ein einstimmiges Hoch auszudrücken, und die folgsamen Vereinbarer ‒ die unfolgsamen hatten sich ja entfernt ‒ brachten ein „Hoch Deutschland“ aus.
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Druck von Wilhelm Clouth in Köln.
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