Französische Republik.
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[7]Paris, 28. Juni.
Emil v. Girardin wurde am 25. Abends auf die Polizeipräfektur geführt in
Folge eines vom Diktator Cavaignac erlassenen Dekrets, das den Redakteur des
Journals „La Presse“ zu verhaften und letztere zu unterdrücken befahl.
Nächste Veranlassung jenes Dekrets war die Sonntagsnummer des gedachten
Journals, die auf Befehl Cavaignacs mit Beschlag belegt worden. Es finden
sich darin zwei Artikel, deren Form und Inhalt den jetzigen Machthabern
natürlich nicht in ihren Kram passen konnte. Der eine dieser Aufsätze
lautet:
„Endlich haben sie (der Vollziehungsausschuß und die Minister) abgedankt; was
sag' ich, abgedankt? Die Blutwoge hat sie herangespült und in ihrem
Zurückweichen wieder davon getragen. Sie hatten sich am 24. Februar der
Gewalt in unwürdiger Weise bemächtigt und jämmerlich ist sie den 24. Juni
ihren Händen entschlüpft. Das Reich ihrer Ohnmacht hat 120 Tage gewährt…
Nach 30 Jahren, wenn auch beschränkter, doch gesicherter Freiheit sind wir
wieder dem Säbeldespotismus verfallen und zum Uebermaaß unserer Erniedrigung
sind wir dahin gekommen, diesen Despotismus als eine Wohlthat zu
betrachten.
Alle Freiheiten suspendirt! die persönliche Freiheit wie die der Presse! Ein
übel gedeutetes Wort, ein Druckfehler genügt, um Euch zu füsiliren. Paris
ist im Belagerungszustande! Welchen Angriffen var nicht von Seiten des
„National“ die Juliregierung ausgesetzt, daß sie Paris in Belagerungszustand
erklärt! Und jetzt? Kaum daß der „National“ 4 Monate regiert und herrscht,
so sehen wir, bis zu welchem Aeußersten es mit uns gekommen!
Wo wird er auf diesem Abhang einhalten? Bis wohin wird er uns fortrollen? Wer
könnte das sagen, wer es voraussehen? Es steht Alles zu befürchten. Man
täusche sich nicht. Die Schwierigkeiten werden die jetzige Gefahr
überdauern, die Frage auch nach Wegräumung der Barrikaden aufrecht stehen
bleiben. Wenn man von beiden Seiten seine Blessirten verbunden, seine
Gebliebenen beerdigt haben wird, so ist dadurch weder das Mißtrauen
beschwichtigt noch das Problem gelöst, das drei Monate im Luxembourg
verhandelt worden.
Welch entsetzlicher Tag! Seit des Morgens 3 Uhr hat der Kanonendonner, hat
das Pelotonfeuer noch keinen Augenblick aufgehört. Nur in der Uniform eines
Nationalgardisten oder unter militärischer Bedeckung kann man von einer
Straße bis zur andern gelangen; nur so ist noch die Passage erlaubt.
Welche Masse von Todten und Verwundeten auf beiden Seiten!
Das ist die Freiheit und Brüderlichkeit, die uns von den Republikanern „von
gestern“ verschafft worden!
Der zweite Artikel Girardins spricht sich in folgender Art aus:
„Wie sollen wir diese Rasenden, Unerschrockenen nennen, welche am 23. Juni
die Barrikaden des 23. Febr. hergestellt haben? wollen wir sie mit dem Maire
von Paris „eine kleine Anzahl unruhiger Köpfe“ nennen? Dies hieße den Muth
der Nationalgarde und der Armee beschimpfen, die seit 30 Stunden mit Gefahr
ihres Lebens den Aufstand bekämpfen und ihn bis jetzt nicht haben besiegen
können! Werden wir sie „Aufhetzer“ nennen? Männer, die vor den
Kartätschenkugeln nicht zurückweichen, sind keine bloßen Aufhetzer.
Werden wir sie, wie Hr. Flocon gestern that, vom Ausland oder von
Prätendenten „besoldete Agenten“ nennen? Agenten findet man nicht zu
Tausenden; sie färben nicht das Pflaster mit ihrem eigenen Blut und
ihretwegen setzen sich nicht ganze Viertel von Paris dem ganzen Jammer, der
ganzen Strenge eines Belagerungszustandes aus.
Werden wir sie endlich „Emeutiers“, „Faktiosen“, „Insurgenten“ nennen? Aber
jede Insurrektion setzt eine Regierung voraus, die man stürzen, eine
Regierung, die man gründen will. Nun, gestehen wir's: wir haben uns unter
viele Gruppen gemischt, eine Menge Erkundigungen eingezogen: überall hörten
wir mit Verachtung von der Unfähigkeit, von der offenliegenden Ohnmacht der
aus den Bureaus des „National“ und der „Reforme“ hervorgegangenen Regierung,
aber nirgends davon sprechen, daß man die
republikanische Staatsform aufgeben und zum monarchischen Regime
zurückkehren wollte.
Die Rasenden, die in solcher Art seit gestern Morgen Paris mit Schrecken und
Trauer erfüllen, die seinen Ruin vollenden, die das Elend verschlimmern, die
Paris entehren, die sich im vollen Frieden dem Despotismus des Säbels
überliefern: diese Leute werden also sehr ungenau mit den Namen von
„unruhigen Köpfen“, „Aufhetzern“, „bezahlten Agenten“, „Emeutiers“,
„Faktiosen“ und „Insurgenten“ bezeichnet. Es sind unerbittliche Gläub ger,
die der Republik drei Monate Elend auf Kredit gegeben und ihre Verpflichtung
treu erfüllt haben, die aber jetzt ihrer Seits verlangen, daß man die
Wechsel honorire, die ihnen in Form von Dekreten am 25. Februar, am 1. und
2. März auf dem Stadthause mit allem Bedacht ausgestellt worden, ausgestellt
von Verschwendern, denen 4 Monate hingereicht, um alle Quellen nationaler
Größe und des öffentlichen Wohlstandes zu verschütten, die Gewalt in den
Koth zu ziehen, die Freiheit in Mißkredit zu bringen, den Bürgerkrieg
anzufachen und aus Paris das Grab der Civilisation zu machen!
Merkwürdige und neue Lektion! Sie beweist, daß man dem Volke nie etwas
anderes versprechen muß, als was man ihm halten zu können sicher ist. Den
Wortbruch verzeiht das Volk am wenigsten. . . . .
Unbedachte Unterzeichner von Dekreten, die Ihr nicht unterzeichnen durftet
und die ihr protestiren ließet: auf Euch und auf Euch allein wird und muß
die Verantwortlichkeit dieser beiden schrecklichen Tage zurückfallen.
Wie wagt Ihr von „der verbrecherischen Aufsetzigkeit einiger irregeleiteten
Arbeiter“ zu sprechen? Seid Ihr es denn nicht, die die Ihr sie am 1. März
irregeleitet, als Ihr in einem Dekret zu ihnen sagtet: „Es ist Zeit, den langen und unbilligen Leiden der Arbeiter ein Ende zu
machen?“ Waret Ihr es nicht, die Ihr am 2. März sehr zur Unzeit die
tägliche Arbeitsdauer um 1 Stunde verkürztet und als Grund angabt: „Eine zu
lang dauernde körperliche Arbeit untergräbt nicht allein die Gesundheit des
Arbeiters, sondern hindert ihn auch an Ausbildung seiner Intelligenz und ist
seiner Würde als Mensch zuwider?“
Wenn die Leiden der Arbeiter vor dem 24. Februar, als
Arbeit im Ueberfluß vorhanden und als der Ueberfluß auf die Höhe des Salairs
günstig einwirkte, reell waren und Euch unbillig schie nen: um wie viel
reeller sind sie jetzt und um wie viel unbilliger müssen sie Euch heute
erscheinen, wo alle Arbeit aufgehört und Ihr so viele grausam zerstörte
Illusionen in ihnen erweckt habt!
Besitzet drum mindestens so viel Schaamhaftigkeit, um zu schweigen! Ueberlaßt
Andern, die das Volk nicht betrogen haben, die Sorge und die Pflicht, ihm
die Wahrheit zu sagen. Das ist ein Recht, das Ihr verscherzt habt.“
„Emile de Girardin.“
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[16] Paris, 27. Juni.
Mit dem Siege der Bourgeoisie wächst ihre Kühnheit; sie wird gar übermüthig
werden. Die Insurgenten sind zwar noch in der Banlieue in der Gegend von
Villejuif unfern Vincennes, wo die Bauern ihnen eine Schlacht liefern
werden. Die Hetzjagd geht aufs prächtigste; Pardon wird im Durchschnitt
nicht gegeben, und man hört überall auf Straßen und in Kafe's, im
Familienkreise und in der Wachtstube die fraternellsten Aeußerungen. Ganz
naiv machen Bourgeoisdamen den Vorschlag, alle Brigands (d. h. Arbeiter der
Nationalateliers) zu fusiliren. Ein feiner Monsieur im Kafe de France (rue
Bussy) betheuerte, die Ouvriers müßten sämmtlich todt gemacht werden, und da
man ihm bescheiden bemerkte, Ouvriers seien gewissermassen dennoch
nothwendig, ward er sehr verdrießlich. Die Herren Studiosen und
Polytechniker haben sich diesmal nicht ganz die chevaleresken Sporen
verdient wie im Februar und 1830; diese armen Jünglinge zitterten gar zu
sehr vor dem infernalen Zorn des Proletariats, das eine
schwarze Riesenfahne mit einem weißen Todtenkopf auf die Barrikaden
im Faubourg St. Denis gesteckt; aber desto mehr renommiren sie nach dem
Kampfe und verlangen Füsillaren en Masse; so unglaublich dies klingt, es ist
leider wahr. Die lieben Knaben hatten von den 1793. Exekutionen gelesen, die
der Konventsdelegirte in Lyon und Nantes gegen die damaligen Volksfeinde
kommandirte. Wie schön wenn man das Ding 1848 umkehrte! notabene im Namen
der république honnête. Dies ist der funkelnagelneue Titel durch den unsre
frischgebackene jeunesse dorée den garstigen Ausdruck: république
démocratique et sociale zu verdrängen strebt. Mehrmals vernahm man gestern
aus den Gruppen der Bourgeoisdemoisellen und bourgeoisirten Ouvriéren, die
vor den Hausthüren sitzend emsiglich Charpie zupfen die liebevolle Phrase:
„wüßte ich daß dies für die Brigands bestimmt sei, ich wollte keinen Finger
rühren.“ Eine dieser Bourgeoisen Xten Grades sah sich jedoch deswegen von
einem Poleizeichef, einem Freunde Caussidiere's, hart zurecht gewiesen; noch
ist allerdings das demokratische Gift nicht aus allen Beamten ausgemerzt. In
Marseille wehte, wie Privatbriefe melden, eine ungeheure Trauerfahne
zwischen zwei blutrothen mit der Inschrift:
„Die marseiller Proletarier und Proletarierinnen wollen ewige Abschaffung des
Diebstahls, der Prostitution, des
Elends und der
Unwissenheit“; große Affischen auf schwarzem Papier mit weißen und
rothen Lettern sprachen ähnliches aus, mit dem Schluß: „da die jetzige
Repräsentantenkammer total unfähig sei, wollten sie lieber den Schlachtentod
sterben als den infamen Tod der Demoralisation und Misere“. Fast
buchstäblich dieselben Sätze standen auf Flugzetteln, welche seit 8 Tagen in
den Faubourgs von Paris kursirten. Einer derselben sagte: „Arbeiterinnen,
ihr armen Geschöpfe in Lumpen oder, was noch ärger, in seidnen Kleidern, die
ihr mit Vermiethung eurer körperlichen Schönheit dem Geldkasten der
Bourgeois abgerungen habt; Arbeiterinnen aller Geschäfte, die ihr eure Augen
blind arbeitet oder blind weint, und frohlocken müßt, wenn ein Lord von der
Finanz (lord de la financerie) oder sein Vasall euch den Hof
[0144]
macht; Arbeiterinnen, die ihr von den Bourgoisfrauen als bildungslose und
als unmoralische Personen angeschaut, und doch zum Anputzen ihrer trägen
Leiber gebraucht werdet; Arbeiterinnen, die ihr in den Dachstübchen und
Fabriken schafft, auf der Straße und auf den Märkten in Wind und Wetter euer
bitt'res, redliches Brod verdient, während die Demoisellen am Fenster des
ersten Stocks an euch gleichgültig vorbeiblicken: erhebt euch und erobert
mit uns die gemeinsame Ehre der wahren, wirklichen, anständigen Arbeit. Wir
sind es satt, seit Jahrtausenden von den Geldinhabern gekreuzigt zu werden;
ihr müßt endlich auch die Augen öffnen.“ Viele Frauen fochten diesmal mit.
Gestern noch, als die Stadt bereits von den brigands und chauffeurs,
(letzterer Titel wird jetzt gleichfalls von den modernen Thermidoriern
wieder hervorgesucht) gesäubert war, hat ein starkes Arbeiterweib neben der
Deputirtenkammer ein Pistol auf einen Offizier der Nationalgarde abgebrannt,
doch nur seine Uniform getroffen; sie ward nach der Präfektur geführt, doch
nur mit Mühe vor den „werft sie in die Seine“ schreienden Leuten gerettet.
In den vier gewaltigen Schlachten (Faubourg St. Denis, Pantheon, Isle St.
Louis nebst Citè, und Faubourg St. Antoine) haben die Weiber unausgesetzt
Kugeln gegossen in ihren Fingerhüten, und
Schießbaumwolle gemacht, Schwefelsäure und Pech aus den Fenstern
geschleudert. Die Mobilgarde ist jetzt mit einem Mal zur Prätorianergarde
der herrschenden Klasse avancirt, und da die Helden dieser Garde noch sehr
jung sind, meist 17 Jahre, so läßt sich recht viel von ihnen hoffen. Sie hat
keinen Pardon gegeben; da die meisten ihrer Chefs ehemalige Ouvriers und in
den geheimen Gesellschaften unter Ludwig Philipp bewährte Republikaner sind,
zudem lauter Barrikadeurs vom Februar, so hatten auf sie die Insurgenten
felsenfest gerechnet. Daher die Rache der letztern an einzelnen persönlich
ihnen besonders verhaßten Abtrünnigen. Höchst brutale Szenen fanden übrigens
nur auf den Barrikaden im südöstlichen Theil Statt, in dem Faubourg der
Chiffoniers und Handweber, im St. Marcel, wo bekanntlich 8000 polizeilich
Beaufsichtigte wohnen. Beklagenswerth ist, daß die Insurrektion, deren
Majorität, für jeden einigermaßen tiefen Beobachter streng und ernst das
Gute wollte, kein Programm erließ; möglich übrigens, daß ein solches
existirte und von den Bourgois überall zerrissen wurde, weil es „nicht toll
genug“ war. Feststeht, daß viele wack're, gebildete Führer auf den
Barrikaden von St. Antoine und von St. Jacques kommandirten, die das
Erstaunen Arago's und Larabit's, zweier Repräsentanten, in mehrfachen
Parlamentirgesprächen erregt haben. Daß Louis Blanc von der fashionabln
Banquierlegion, in deren Arrondissement er zu wohnen das Unglück hat, auch
diesmal wieder insultirt wurde, versteht sich; diese Herren vom Coffrefort
stießen ihn in's Café Frascati, und stimmten mit Händeheben auf Todtschießen
ab; nur ein Kollege rettete ihn in einem Kabriolet, doch flog die Kugel
eines der Lions bei der Madeleine hintendrein. Der bei der letzten Wahl in
die Kammer gekommene Lagrange, dieser langjährige Gefangene unter Ludwig
Philipp, scheint sogar schon an der Mauer habe niederknien müssen, um die
Sünde, auf den Boulevards: vive la république rouge geschrieen zu haben, in
seinem „unlautern Kommunistenblut (wie die Assemblée nationale in einer
ihrer letzten Nummern sagt) zu büßen; nur mit mühevollen Nothlügen brachte
ihn ein Offizier in Gewahrsam. ‒ Die Stadt ist jetzt mit hunderttausend
Liniensoldaten und Provinzialgarden bedeckt; Cavaignac affischirt die
brüderlichsten Versprechen: statt Todestrafe
nur
Deportirung nach den interessanten Markesasinseln und dem gesunden Guyana,
drei Millionen (statt dreißig) zur
Beschwichtigung des pariser Elends, sofortiges Beginnen der riesenhaften
Untersuchung, u. s. w. Freilich hat er nicht allein die extremen Redaktoren
der Demokratie, sondern zugleich auch Girardin und den Redakteur der
Assemblée nationale einstecken lassen, indessen vermuthet man nicht
grundlos, letzteres geschehe blos zum Schein. Thiers freut sich (nicht
weniger als Marrast) über die Tragödie, welche mindestens viertausend Todte,
abgerechnet die in's Wasser „gefallenen“, auf dem Pflaster ließ. Ecrasons
l'infame, ist ihr Stichwort, es ist ja „die Rebellion der Blouse gegen die
Civilisation und gegen den honnetten Besitz“ wie ein junger preußischer
wohlhäbiger Arzt mich mit vieler Weisheit gestern belehrte. A bas le
travail, vive la faineantise, du riche rief der verhaftete „Pire Duchesne“
in seiner vorletzten Nummer; à bas l'égalité, vive l'orde bourgeois, à bas
la fraternité, vive la vertu de l'argent!
Schluß der Sitzung vom 26. Juni, 2 Uhr. Hr.
Degoussée, einer der Quästoren, steigt auf's Büreau und schellt mehrmals mit
der Glocke. Hr. Corbon, Vizepräsident: Hier ist ein Brief des Chefs der
exekutiven Gewalt (Bewegung):
„Bürger Präsident, Dank der Haltung der Nationalversammlung, Dank dem
bewundernswerthen Benehmen der Nationalgarde und Armee: der Aufstand ist
bezwungen, die Ruhe in Paris wieder hergestellt. Sobald die mir anvertraute
außerordentliche Gewalt füe das öffentliche Wohl nicht mehr nöthig sein
wird, werde ich sie respektvoll in die Hände der Nationalversammlung
niederlegen.“ Von allen Seiten : es lebe die Republik! Die Sitzung wird
abermals suspendirt und nach einer Stunde, um 3 Uhr, wieder eröffnet.
Der Vizepräsident (Corbon) : Bürger, ich freue mich, Ihnen mittheilen zu
können, daß es mit der Blessur des Bürgers Dornès gut geht ‒ (um so besser!
um so besser!)
Abermalige Suspension.
Man hört draußen, nach der Rue de Bourgogne hin, lebhafte Akklamationen. Ein
Detaschement der Mobilgarde, mit Zöglingen der polytechnischen Schule an der
Spitze, überbringt wiederum eine auf den Barrikaden eroberte Fahne. Sie ist
zur Hälfte zerrissen und ganz schwarz vom Pulverdampf. Der junge Martin
trägt die Fahne; er hat das Kreuz der Ehrenlegion auf der Brust, das ihm
gestern ertheilt wurde. Eine Stimme : in welchem Zustande ist Hr. Bixio? Der
Präsident: wir haben von ihm keine Nachricht. Inzwischen wird an mehrere
Repräsentanten die Proklamation Cavaignac's vertheilt, die alsbald in ganz
Paris affichirt werden soll. (Der Leser wird sie weiter unten finden.) Die
Nationalgarde von Blois langt vor den Thoren des Pallastes an; sie wird von
den Repräsentanten des Lois-et-Cher-Departements begrüßt. Gegen 7 1/2 Uhr
trifft ein bedeutendes Korps Nationalgarde von Seine-et-Marne vor dem
Pallast ein.
Abendsitzung. 8 1/2 Uhr. Senard, Präsident: Alle seit
meinen vorigen Mittheilungen eingelaufenen Berichte sind völlig
befriedigend. Auf den Punkten, wo man nach kämpfte, hat jetzt der Kampf
aufgehört. Es bleibt nur übrig : dort die Aufregung, hier die Konsternation,
die stets so großen Ereignissen nachfolgen; aber von Stunde zu Stunde mehrt
sich das Gefühl des Vertrauens in die Zukunft, des Vertrauens in die
Nationalversammlung und in die Rückkehr der Ordnung. Dies ist es, was beinah
für alle Schmerzen, die wir in den eben verflossenen Tagen erduldet, ein
heilender Trost ist. (Sehr gut! sehr gut!) Morgen, meine Herren, werden wir
den momentan ununterbrochenen Lauf unserer Arbeiten fortsetzen. Morgen früh
werde ich der Versammlung eine Tagesordnung vorschlagen, die ich heute Abend
noch nicht anführe. Morgen werden wir zur vollständigen Ausführung des
Reglements zurückkehren, das wir in einigen seiner Bestimmungen während der
verflossenen Tage suspendiren mußten. Namentlich werde ich eine Abänderung
über die Art, Motionen zu stellen, in Vorschlag bringen, zu dem Zweck, daß
die Initiative der Versammlung vollständig gesichert werde.
Die Herren Bonjean, Alem. Rousseau und andere Mitglieder: Der Augenblick ist
schlecht gewählt, um uns mit reglementarischen Vorschlägen zu
beschäftigen.
Andere Mitglieder: Zur Ordnung.
Präsident: Hätte man mich ausreden lassen, so würde man die Dringlichkeit der
Bestimmungen, die ich beantrage, erkannt haben.
Von allen Seiten wird „zur Ordnung“ gerufen.
Präsident: Ich frage die Versammlung, ob sie die Kommission des Reglements
bevollmächtigen will . . . .
Alem Rousseau steigt auf die Tribüne und will sprechen. Durch den allseitigen
Ruf „zur Ordnung“ ist er genöthigt, auf seinen Platz zurück zu kehren.
Präsident: Es ist mir unmöglich, gegen eine solche Unterbrechung anzukämpfen.
Ich rufe den Unterbrecher nicht zur Ordnung; ich will versuchen, meinen
Gedanken vollends auszudrücken.
Bonjean sagt einige Worte, die nicht bis zu uns gelangen.
Präsident: Es liegt nicht in meiner Gewohnheit, Herr Bonjean, mich mit
persönlichen Dingen zu beschäftigen; aber wenn Sie fortfahren, mich zu
unterbrechen, so werde ich genöthigt sein, Ihnen zu erklären, daß Sie sich
nicht allein gegen den Präsidenten, sondern gegen die ganze Versammlung
vergehen. Die Kommission des Reglements wird beauftragt werden, die
angegebenen Bestimmungen zu revidiren. Man beantragt außerdem noch eine
Ergänzung zum Dekrete, welches Sie gestern in Bezug auf die Verlängerung der
Wechsel und Billete angenommen.
Die Modifikation des Artikels 1 lautet folgender Maßen: Die Verfallzeit
derjenigen Wechsel, die in Paris und den Departements vom 23. Juni an bis
zum 5. Juli inclusive zahlbar sind, wird auf 5 Tage hinausgeschoben, in der
Art, daß die auf den 23. fälligen Wechsel den 28., die auf den 24. fälligen
den 29. u. s. w. zahlbar sind.
Die Artikel 2 und 3 werden beibehalten, wie sie gestern votirt worden
sind.
Die Versammlung dekretirt die Dringlichkeit.
Mehrere Mitglieder: Es genügt, die Verlängerung für diejenigen Billets,
welche vor dem 30. Juni fällig sind, zu reglementiren.
Das Amendement wird verworfen.
Der Artikel 1 wird angenommen, wie er vorgeschlagen worden.
Tillancourt: Ich beantrage, daß der Hr. Präsident eingeladen werde morgen den
Entwurf zu eine Proklamation an das französische Volk vorzulegen, um ihn der
Versammlung bei Eröffnung der Sitzung zu unterwerfen.
Corbon, Vice-Präsident, nimmt die Stelle des Präsidenten ein.
‒ Der Vorschlag wird abgestimmt und angenommen.
Präsident. Die Arbeit der Kommission in Betreff der Deportation ist noch
nicht fertig: sie wird morgen der Versammlung vorgelegt werden.
Flocon: spricht über die Verproviantirung von Paris, die gar nichts zu
wünschen übrig ließe.
Präsident: Ich höre so eben, daß die letzten Barrikaden von la Villette
genommen seien.
Die Sitzung wird um 9 Uhr Abends aufgehoben.
‒ Nationalversammlung. Sitzung vom 27. Juni. Die
Gegend des Sitzungssaales, von der Rivolistraße bis hinter den
Burgunderplatz, gleicht immer noch einem Kriegslager. Die Kanonen sind
aufgepflanzt, ganze Regimenter bivouakiren auf dem Conkordiaplatze u. s. w.
Im Sitzungssaale selbst suchte unser Auge zuerst diejenigen Deputirten,
welche die gestrige Nacht als Geisseln hinter den Barrikaden des Faubourgs
St. Antoine's zubrachten und denen Larabit als Parlamentär diente. Wir
erblickten nur Larabit. Das alte Oppositionsglied saß ziemlich zerstört auf
seinem Platze; es schien sehr nachdenklich. Senard, der unermüdliche
Generaladvokat, eröffnete die Sitzung um 11 Uhr. Er zeigte der Versammlung
an, daß einzelne kleine Scharmützel abgerechnet, Paris, bis auf die
zahllosen Wachen, ruhig geschlafen habe. In den Departements, z. B. in
Marseille, habe die Kontrerevolution ebenfalls ihr Haupt erhoben, sei aber
bald unterdrückt worden. In Nantes, Lyon, Rouen sei die Ruhe aufrecht
erhalten worden u. s. w. In Paris selbst wache die Vollziehungsgewalt
unermüdet. Die 9. und 12. Legion der Pariser Bürgerwehr (St. Antoine und St.
Marceau) würden Exzesse und Mißtrauens halber so eben entwaffnet. Ferner
trage er auf Niedersetzung eines Ausschusses an, der sich sofort mit den
Opfern der letzten 4 Tage beschäftige. Die Nationalversammlung habe zwar
bereits die Wittwen und Waisen adoptirt, aber es bleibe noch viel zu thun
übrig.
Es wird ein Ausschuß von 9 Glieder ernannt, der die nöthigen Anträge
auszuarbeiten hat. Endlich soll eine pomphafte Revue aller herbeigeeilten
Bürgerwehren stattfinden und Alles aufgeboten werden, um ihnen den für die
Republick bewiesenen Eifer möglichst zu vergelten. Dieser Vorschlag fand
nicht minder Beifall. Inzwischen sorgt der Gefängnißausschuß für die
gehörige Verwahrung der gefangenen Insurgenten. Es ist interessant hiebei zu
erfahren, daß Barrot, Thiers und V. Hugo das Geschäft der Klassifizirung,
Transportirung und Verpflegung der Gefangenen zu besorgen hatten. Bei
Durchsuchung von etwa 60 Insurgenten, die in Abbaye gesperrt wurden, fand
man kaum 10 Franken im Ganzen! Hieraus möge man auf die Wahrheit des
Geschreies der Zeitungspresse über Bestechung urtheilen. Die Sitzung wurde
suspendirt, und die Glieder zogen sich in die Büreaus zurück, um mehrere
Gesetzentwürfe (Deportation), Begräbnißfeierlichkeit und dergl. insgeheim zu
berathen.
‒ 3 Uhr Wiedereröffnung der Sitzung.
Senart. Ehe ich dem Berichterstatter das Wort ertheile, will ich noch einem
einstimmigen Wunsch entgegen kommen, indem ich Euch Kenntniß gebe von den
telegraphischen Depeschen von Limoges und Marseille. Zu Limoges brachte die
durch die Nachricht von den Ereignissen in Paris hervorgerufene Agitation
keine Kollision hervor. Zu Marseille ist die Ruhe hergestellt, nicht ohne
Blutverlust. Eine kleine Anzahl von Soldaten und Nationalgardisten ist in
dem Gefecht getödtet worden, woran, wie es scheint,
die Clubistes montagnards allein Theil nahmen. Die italienische Legion blieb
dieser Bewegung fremd. An 15 der Montagnards sind gefallen. Die vor der
Stadt arretirten Gefangenen belaufen sich auf 700.
Meaulle. Berichterstatter der Kommission bezüglich des Dekrets der
Deportation:
Eure Kommission fand sich zwischen zwei Dekrete gestellt, Eins der
Versammlung, das über alle mit den Waffen in der Hand ergriffene Individuen
Deportation verhängt und ein Andres der exekutiven Gewalt, das sie vor
Militärgerichte stellt. Die Kommission hat den Mittelweg zwischen den zwei
entgegengesetzten Ansichten eingeschlagen. Sie hat begriffen, daß die
Gesellschaft, heftig angegriffen, mit allen zu ihrer Verfügung stehenden
Mitteln sich vertheidigen müsse. Es ist indeß klar, daß es unter den
Revoltirten, unter den Schuldigen verschiedene Kategorien gibt. So sind
sicher die, die bloß gekämpft haben, weniger schuldig, als die Lenker, die
Aufhetzer, die, welche Geld vertheilt haben, um den Bürgerkrieg zu nähren.
Wir schlagen euch folgende doppelte Maßregel vor:
Art. 1. Gemäß einer Sicherhe tsmaßregel werden in die überseeischen
französischen Besitzungen mit Ausschluß der des mittelländischen Meers, die
gegenwärtig verhafteten Individuen deportirt, die an der Insurrektion des
22. Juni und der folgenden Tage Theil genommen haben.
Art. 2. Die von den Kriegsgerichten eröffnete Instruktion wird fortgesetzt
werden gegen die Individuen, welche die Instruktion bezeichnen würde als
Aufhetzer, Anführer, Leiter der Insurrektion, sei es durch Vertheilung von
Geld, Uebernahme eines Kommandos während des Kampfes oder durch Vollbringung
erschwerender rebellischer Akte.
Art. 3. Ein Dekret der Nationalversammlung wird die spezielle Lebensordnung
bestimmen, der die transportirten Individuen unterworfen werden.
Art. 4. Die exekutive Gewalt ist beauftragt unverzüglich das Dekret zu
vollstrecken.
General Cavaignac: Ich bin erstaunt über einige von Eurem Berichterstatter
ausgesprochenen Worte. Er hat gesagt, die Kommission habe sich zwischen zwei
absolute Meinungen gestellt gefunden, der Meinung der Nationalversammlung
und der Meinung der exekutiven Gewalt. Ich bin erstaunt, meine Herren, daß
man mir vor den Augen der N.-V., vor den Augen der Nation, eine Stellung
giebt, die ich nicht eingenommen habe, die eines Menschen, der sich strenger
gezeigt hätte, als die Versammlung, als die gesammte Nation. Wir machen Geschichte, meine Herrn, und man muß nicht die
Verantwortlichkeit noch vermehren, die unsre Hingebung an das Vaterland, an
die Republik, uns zur Pflicht macht zu übernehmen. (Verlängerte Bravos,
Akklamationen!)
Mèaulle deutet seine Worte im Sinne Cavaignac's.
Cavaignac. Die Versammlung wird mir erlauben hinzuzufügen, daß die
Abänderungen des ursprünglichen Entwurfs, so weit sie mildernd sind, auf
mein Verlangen stattgefunden haben
Ein Mitglied verlangt, daß der Bericht gedruckt und die Diskussion auf Morgen
vertagt werde. (Reklamation. Einige Stimmen: Ja! Ja!)
Perrèe. Ich trage auf Dringlichkeitserklärung an. In den Umständen, worin wir
uns befinden, begreife ich keine Verzögerung. (Sehr gut! Beifall.)
Germain Sarrut bekämpft die Dringlichkeit, nicht das Dekret selbst, aber er
verlangt, daß man diskutire mit Ruhe, mit Reflexion, und daß man nicht durch
fatale Uebereilung, sich, wie zu andern Epochen einer nutzlosen Reue
aussetze. (Skandal. Lärm. Trommeln.)
Ein Mitglied. Seit zwei Tagen ist das Projekt vorgelegt. Jeder von uns hat
Zeit gehabt, sich mit seinem Gewissen zu verständigen.
General Lebreton. Ich bedaure meine Herrn, daß ausgezeichnete Mitglieder
dieser Versammlung in einem beklagenswerthen Stillschweigen verharren! In
den jetzigen feierlichen Umständen, scheint mir, muß Niemand vor seinem
Antheil von Verantwortwortlichkeit zurückbeben. Ich nehme mir die Freiheit,
der Versammlung einige Bemerkungen zu machen. Wir, meine Herrn, entschlüpfen
so eben einer Gefahr, deren fürchterliche Bedeutsamkeit vielleicht nicht
Alle begriffen haben. (Reklamationen). Die Gesellschaft, einen Augenblick in
ihren Grundlagen erschüttert, erwartet von Euch einen großen Akt, einen Akt
strengster Gerechtigkeit. (Sehr gut.) Diesen Akt werdet Ihr der Gesellschaft
nicht abschlagen; wie die Nationalgarde, wie die Armee, wird die Versammlung
ihre Pflicht erfüllen und auf der Höhe der Verhältnisse stehn. (Sehr gut.
Verlängerte Bravo's.)
Sarrans besteigt die Tribüne. (Geräusch, Tumult. Der Schluß! der Schluß!)
Der Schluß wird zur Abstimmung gebracht und beinahe einstimmig
angenommen.
Der Präsident. Ich bringe die von dem Bürger Perrèe verlangte unmittelbare
Verweisung des Dekrets in die Bureaux zur Abstimmung.
Eine erste Probe ist zweifelhaft. Die unmittelbare Verweisung an die Büreaux
wird verworfen.
Der Präsident. Ich bringe den Druck und die Vertheilung des Berichts zur
Abstimmung.
Charamaul. Man mußte diesen Vorschlag vor dem andern zur Abstimmung bringen,
weil er weiter ist. (Geräusch, Agitation).
Der Druck wird verworfen.
Pascal Duprat. Im Namen der nationalen Gerechtigkeit verlange ich, daß die
Diskussion nicht unmittelbar statt hat. Ich verlange für mein Gewissen, für
eures, eine gewisse Langsamkeit. Ich bitte euch, zwei, drei Stunden
nachdenken zu wollen. Ich verlange den Aufschub der Diskussion bis 8
Uhr.
Baroche behauptet, die Versammlung habe durch ihr Votum schon entschieden,
daß die Diskussion unmittelbar statt finde.
Flocon. Ich habe die Dringlichkeit votirt, aber neben dieser Dringlichkeit
steht die „moralische“ Zeit des Nachdenkens, welche
die Gesetzgeber nicht aus den Augen verlieren dürfen. Wir werden über
Menschen richten; vergessen wir nicht, daß die Geschichte die Richter
richten wird; es ist dies ihr Recht. (Gelächter). Ich verlange, daß die
Richter sich einen Augenblick sammeln.
Mehrere Stimmen. Nein, nein!
Die Vertagung auf den morgenden Tag wird verworfen, die Vertagung bis auf 8
Uhr wird mit sehr schwacher Majorität angenommen. Die Sitzung wird
aufgehoben um 4 1/2 Uhr inmitten einer großen Aufregung.
Drei und eine halbe Stunde Bedenkzeit wird der rachsüchtigen Versammlung mit
der größten Mühe abgerungen! Das Volk vom 24. Februar vergaß sich zu Gericht
zu setzen.
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Paris, 27. Juni.
(Letzte Augenblicke der Insurrektion.) Enorme
Truppenmassen der Generäle Lamoriciére und Perrot hielten das ganze Faubourg
St. Antoine umschlungen. Nur von Menilmontant und Popincourt, jenseits des
Kanals her beunruhigten einzelne Insurgenten-Abtheilungen die Truppen. Es
schlug 10 Uhr. Die Belagerungsgeschütze, Mörser, Haubitzen und Kanonen,
welche Cavaignac auf Verlangen Lamoricière's aus Arras und La Fere (zwei
Festungen) in aller Eile hatte herbeischaffen lassen, waren eingetroffen.
Die Pechkränze und Brandbomben lagen bereit. Der produktivste Theil von
Paris sollte vernichtet werden. Der revolutionäre Heerd brannte bereits an
einigen Stellen, als Lamoricière, ein kleinee, blutjunger, negerköpfiger
Glückssoldat, umgeben von seinem ganzen Generalstabe m KaféAmand an der Ecke
des Bastillenplatzes auf den Befehl zum Beginn des Bombardements wartete und
mit der Uhr in der Hand die Minuten zählte, welche das Schicksal über
Hunderttausende entscheiden sollte . . . . Da sprengt ein Ordonanzreiter
herbei und bringt ihm die Kapitulation des Faubourgs: die Insurgenten haben
die Waffen gestreckt und reißen selbst die Barrikaden nieder. Die größte
Katastrophe wurde vermieden ‒ Ströme von Blut dadurch erspart.
‒ Das halbe Blatt der
„Réforme“, das heute erschienen
ist, wagt nicht mehr mit
Flocon die Junitage als
Resultat der Intriguen des Auslandes und geheimer Bestechungen darzustellen.
Dem Ernst der Ereignisse stellt es fromme Wünsche gegenüber. „Dieß
schreckliche Beispiel diene uns allen als Lehre und Warnung! Ueberwachen wir
uns gewissenhaft und ohne das Recht aufzugeben, beseelen wir uns mehr und
mehr, Journale, Staatsgewalten, Parteien, mit jenem edlen Gefühle, dessen
Namen der Februar auf seine Banner schrieb:
Fraternité! ‒ Ein Beschluß der Maires von Paris vom 26. Abends,
kündet an, daß die Circulation wieder hergestellt ist, mit Ausnahme der
Punkte, wo Maßregeln der Ordnung und der Ueberwachung noch unentbehrlich
sind. Nach demselben Beschluß müssen alle Eigenthümer oder Miether ihre
Wohnungen illuminiren, um den Dienst der Patrouillen zu erleichtern. ‒ Neben
den Schreckens-
[0145]
scenen, deren Zeuge Herr
Payer (Deputirter) war während der 12 Stunden, wo die Insurgenten
ihn gefangen hielten, erzählt er Thatsachen, die beweisen, daß
die große Mehrzahl der Kämpfer Arbeiter waren, in
Verzweiflung gestürzt durch das Elend, das sie seit 4 Monaten
erdrückte. Sie antworteten denen, welche sie fragten, warum sie
sich schlügen:
Besser an einer Kugel sterben, als am
Hunger. Als man ihnen zu trinken anbot, wollte keiner Wein nehmen,
ohne ihn vorher mit Wasser vermischt zu haben. Sie schlugen sich und
starben, ohne einen Schrei auszustoßen.
[(la Réforme.)]
‒ Seit heute früh beginnt die Vertheilung der Unterstützungsgelder an die
Bedürftigsten. Man entsinnt sich daß die Nationalversammlung von gestern
3,000,000 Franken dafür votirte. Die Noth ist fürchterlich.
‒ Im Laufe der vorigen Nacht wurden etwa 2000 Gefangene in Omnibuswagen,
unter starkem Kavalleriegeleit, aus den Stadtgefängnissen in die Kasematten
von Vincennes und der übrigen Außenwerke geschafft.
‒ Noch läßt sich die Zahl der Gefallenen, Verwundeten, Ersäuften,
Verbrannten, Massakrirten, kurz aller Verlorenen nicht genau bestimmen. Man
schätzte sie gestern Abend auf 10 bis 11,000. Außer den Spitälern sind
mehrere Kirchen und Privatgebäude der Pflege der Verwundeten gewidmet. Die
Frauenwelt sitzt vor den Hausthüren und zupft Charpie. Wehmüthiger
Anblick!
‒ Der Erzbischof von Paris ist gestorben. Die Kugel, die ihn hinter den
Barrikaden erreichte, hatte das Rückenmark verletzt und jede Rettung war
unmöglich.
‒ Die Gesammtzahl der gefangenen Insurgenten wird von Einigen auf 4 bis 5000
geschätzt.
‒ Der zur Untersuchung der Ereignisse des 23., 24., 25. und 26. Juni
dekretirte Ausschuß besteht aus meist der Majorität angehörenden Gliedern.
Odilon-Barrot ist Präsident, Woirhaye Vicepräsident, Waldeck-Rousseau und
Landrin Sekretäre.
‒ Die Journale: 1. La Presse, 2. La Révolution, 3. L'assemblée nationale, 4.
La Vraie République, 5. L'Organisation du travail, 6. Le Napoléon
républicain, 7. L'aimable faubourien ou le Journal de la Canaille, 8. Le
Lampion, 9. La Liberté, 10) Le Père Duchène und 11. le Pilori sind bis auf
Weiteres unterdrückt und ihre Pressen versiegelt. Auch der Proudhonsche
Représentant du peuple ist nicht erschienen. Indessen kommt das wohl nur
daher, daß er in derselben Offizin mit „La Presse“ gedruckt wurde. Ein
Verbot ist gegen ihn nicht erlassen.
‒ Lalanne, der neue Direktor der Nationalwerkstätten (Schwager des
Staatsbautenministers Trèlat) ist als der Begünstigung der Insurrektion
verdächtig arretirt worden.
‒ Deflotte, der bekannte Marine-Offizier und Mitredakteur der Democratie
pacifique ist ebenfalls verhaftet.
‒ Emil de Girardin, Redakteur der Presse, sitzt in der Conciergerie im
strengsten Verhaft. Selbst seine Frau, die bekannte Delphine Gay, darf nicht
ihm mit korrespondiren.
‒ Um Mitternacht fand noch eine lebhafte Füsillade in der Nähe der Tuilerien
und des Palais National statt. Der Père la Chaise ist noch von den
Insurgenten besetzt. Heute war keine Börse.
‒ Proklamation Cavaignac's. An die Bürgerwehr und
Armee. Bürger, Soldaten! Die geheiligte Sache der Republik hat triumphirt.
Eure Hingebung, Euer unerschütterlicher Muth haben sträfliche Pläne
vereitelt, verhängnißvolle Irrthümer gerichtet. Im Namen des Vaterlandes, im
Namen der ganzen Menschheit seid bedankt für Eure Anstrengungen, seid
gesegnet für diesen nothwendigen Triumph. Diesen Morgen noch war die
Aufregung des Kampfs legitim, unvermeidlich. Jetzt aber seid eben so groß in
der Ruhe als Ihr es so eben im Kampfe gewesen. In Paris sehe ich Sieger,
Besiegte; möge mein Name verflucht bleiben, wenn ich einwilligte, dort Opfer
zu sehen. Die Gerechtigkeit wird ihren Lauf haben; möge sie handeln. Das ist
Euer Gedanke, das ist der meinige. Bereit, wieder in den Rang eines
einfachen Bürgers zurückzukehren, nehme ich in Eure Mitte das bürgerliche
Bewußtsein zurück, in diesen Tagen schwerer Prüfungen die Freiheit nur
insoweit beschränkt zu haben, als das Heil der Republik dies selbst
verlangte, und demjenigen ein Beispiel geliefert zu haben, der einmal
berufen sein könnte, seinerseits ebenso ernste Pflichten zu erfüllen. Paris,
26. Juni Abends 1848. (gez.) E. Cavaignac.
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[7]Paris, 27. Juni.
Man sagt, daß so eben Ordre abgegangen ist, eine Fregatte und zwei Corvetten
auszurüsten, um die gefangenen Insurgenten zu deportiren.
‒ Man liest oben im Journal „Le peuple constituant“ vom 26. und 27. Juni:
„Wir offenherzige Republikaner, die nicht so glücklich sind, als die Herrn
vom Constitutionel, den Débats u. s. w., wir haben gestern nicht erscheinen
können, da die neue Gewalt unsre Pressen unter Siegel gestellt hat. Wir
versuchen heute, eine Schuldigkeit gegen unsere Abonnenten zu erfüllen, wir
stehen aber nicht für morgen.
‒ Die Freilassung Girardin's unter Stellung einer Kaution ist verweigert
worden.
‒ Die Boulevards zwischen der Porte St. Denis bis zur Bastille hin (begriffen
in der Abtheilung Lamoriciére) bilden in diesem Augenblicke noch ein wahres
Lager von zwei Stunden Ausdehnung. Die Pferde der Cavalerie, der Curassiere,
Ulanen und Dragoner stehen angebunden. Zu beiden Seiten der Straße liegt
Stroh hingestreut, worauf die Soldaten ausruhen. Allenthalben sind Schenken
errichtet.
‒ Keine einzige Schlacht unter Napoleon hat so viele Generale geraubt, als
die Begebenheiten der vier letzten Tage.
‒ Die Börse war einige Augenblicke lang geöffnet. Geschäfte wurden keine
gemacht. Die Börse soll so lange geschlossen bleiben, als der
Belagerungszustand dauert.
‒ Man hat die Gewißheit, daß 7 bis 8000 Insurgenten sich in den Wald von
Vincennes geflüchtet haben, wo sie mit einem ungemeinen Eifer und Energie
verfolgt werden Es ist wahrscheinlich, daß in Folge der getroffenen
Maßregeln man nicht zögern wird, sie wie Wild einzufangen.
‒ Man liest im Peuple Constituant von Lamennais: „Die
Schlacht ist aus, das Faubourg St. Antoine hat kapitulirt und verlangt, daß
der General Cavaignac die Kapitulation selbst unterzeichne.
„Der Kampf war riesenhaft; von beiden Seiten gleicher Muth, gleiche heroische
Wunder! und über diesen Heroismus kann das Vaterland nur weinen. Was könnte
nicht Alles eine Regierung mit einem solchen Volke machen, wenn in dieser
Regierung die Seele des Volkes athmete!
Der Belagerungszustand dauert fort, und mit ihm die Aufhebung aller Gesetze.
Man begreift also, daß man sich lediglich am bloßen Erzählen halten muß. Es ist zu hoffen, daß die Presse bald wieder
zu ihren Rechten kommen und der Gedanke aufhören wird, vom fremden,
eigenmächtigen Willen abzuhängen.
‒ Man liest in demselben Journale:
Strenge Geschichtsschreiber, werden wir mäßig sein mit unserm Lobe auf die
Sieger; die Besiegten sind ihre Brüder, deren Muth immerhin geachtet und
sichergestellt werden muß vor den schmählichsten
Verläumdungen, in dem Falle selbst, wo sie eine gerechte Strafe
verdient hätten. Auf beiden Seiten hat der Tod schrecklich gemäht, und der
Parteigeist ist erloschen vor Gott: Lebende, thut ein Gleiches.
‒ Der Korrespondent des „London Telegraph“ behauptet, daß 500 Insurgenten,
die sich im Clos St. Lazare ergaben, Sonntag Abend und 400 andere Montag
früh erschossen wurden.