Französische Republik.
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]Paris, 19. Juni.
Marrast hat heute seine mit Cormenin zugestutzte
Verfassung der Nationalversammlung vorgelegt Rothschid, der gestern im
Luxembourg einen Anleihebesuch machte, hat sie für ein gutes Trinkgeld im
Voraus erhalten und gestern schon zur Verzweiflung aller hiesigen
Korrespondenten der Londoner Blätter, per Estaffette an sein
Morning-Chronicle geschickt, das sie uns morgen früh schon in engl.
Uebersetzung zurückbringen wird.
‒ Das „Journal d. Debats“ findet es in der Ordnung,
daß man den Journalen Kautionen abverlangt. Welch Wunder! Die Cautionen sind
1819 erfunden worden von den Herren Deserre, Guizot,
Lainè und Royer-Collard. Letzterer sagte 1819: „Ein Journal ist eine
politische Macht, welche eine Garantie erheischt. Die politische Garantie,
nach den Prinzipien der Charte, findet sich nur
in einer gewissen socialen Stellung, welche durch
das Eigenthum oder s.in Aequalivalent bestimmt wird.“
In andern Worten: Nach der konstitutionellen Philosophie ist die Presse ein
Monopol der Kapitalisten.
Das Comite, welches mit der Untersuchung des Gesetzentwurfes in Betreff des
Ankaufs sämmlicher Eisenbahnen beauftragt war, hat sich wie jeder weiß,
gegen diese Maßregel erklärt, da die Schuldenlast des Landes fast um ein
Drittel des jetzigen Betrages dadurch vergrößert werden würde.
Das Journal des Débats gibt heute die Details dieser Riesenmaßregel um auch
dem Ungläubigsten zu beweisen, welche Folgen die Ausführung des Duclercschen
Vorschlages nach sich ziehen müsse.
Summe der Einzahlungen der Aktionäre und der durch die
Kompagnien gemachten Anleihen Fr. 748,150,000
Summe der durch den Staat
zu zahlenden Gelder, welche zur Vollendung der Linien nöthig sind: Fr.
350,100,000
Summe des nach dem Gesetz vom 11. Juni 1842 durch den Staat
zu entrichtenden Antheiles: Fr. 311,636,464
Summe der durch das Gesetz
vom Jahre 1845 berührten Abschätzung der Ausgaben für den Bau der Bahn von
Lyon nach Avignon: Fr. 150,000,000
Summe der für die Bahn von Paris
nach Lyon noch nöthigen Einzahlung: Fr. 100,000,000
Rembours der
Kompagnieen Fr. 104,314,178
Minimum der unvorhergesehenen Ausgaben für
die im Bau begriffenen Bahnen: Fr. 60,000,000
Total-Summe Fr.
1,824,200,642
Der Finanzminister fordert daher von der Nationalversammlung die Bewilligung
von fast 2 Milliarden.
‒ Die „Organisation du Travail“ giebt wieder eine Liste von
Grundeigenthümern; „man braucht,“ sagt sie, „im Irrthumsfall nur die frühern
Wahllisten nachzulesen, auf ihnen steht der Steuerantheil, und somit kann
man ziemlich genaue Bestimmungen bekommen.
Vicomte Rouget 1,000,000 Graf Granuy 1,000,000
Vicomtesse Véant 1,000,000 Comtesse Pontalba 20,000,000
Baron Mayendorf 4 000,000 M. de Grammont 2,000,000 Graf L.
La Tour du Pin 1,000,000 Herzog Feltre 3,000,000 Comtesse
Sommariva 3,000,000 Marquis Osmont 7,000,000 Vicomte
Chabrillant 2,000,000 Comtesse La Tour du Pin 1,000,000 M.
Davilliers 2,000,000 Graf Panis 3,000,000 |
‒ Nationalversammlung. Sitzung vom 19. Juni. ‒ Der
Arbeiterzulauf bedeutend schwächer, darum viel weniger Truppen aufgestellt.
Senard eröffnet um 1 Uhr die Sitzung. Es macht
sich eine gewisse Spannung auf den Gesichtern bemerklich, weil man den neuen
Verfassungsentwurf von ihm erwartete. Diese Erwartung wurde jedoch noch
getäuscht und Latrade, ein halber Kommunist, legte
der Versammlung einen Plan vor, der die Bedingungen feststellt, unter
welchen Arbeiter auch ohne Zuziehung der Meister und Kapitalisten direkt
Staatsbauten ausführen dürfen. (Wir werden auf diese Bedingungen sobald sie
gedruckt sind, zurückkommen.) ‒ Picard entwickelt
einen Antrag rücksichtlich der Departements- und Kommunalwahlen. ‒ Favart erklärt ihm, daß der Ausschuß wegen eines
Amendements seine Prüfung noch nicht vollendet. ‒ Brunet überreicht einen neuen Kolonisationsplan für Algerien. ‒
Türck drängt auf Auflösung der
Nationalwerkstätten und übergibt der Versammlung einen Plan, nach welchem
dieselbe erfolgen solle. Derselbe stellt im Gegensatze zur ministeriellen
Maßregel ein fünf- statt dreimonatliches Domizil als Bedingung der
Nichtexpulsion auf. ‒ Talloux, der geschworne Feind
des Sozialismus, und Legitimist des Maine- und Loire-Departements, dessen
Wahl die Jesuiten durchsetzten, besteigt die Bühne und liest seinen Bericht
über die verlangten 3,000,000 Fr. für diese Werkstätten vor. Er benutzte
diese Gelegenheit, um seine Hauptgegner, Louis Blanc und Pierre Leroux, für
ihre jüngsten kommunistischen Vorträge derb zu züchtigen. Man könne wohl,
sagte er, sich an den Berg wendend, alle Theorieen anhören, aber man müsse
sich vor auflösenden Versuchen hüten. Für diesmal habe der Ausschuß noch die
verlangten 3 Mill. genehmigt, aber er gebe in seinem Namen die Erklärung:
daß die Unter-Arbeitskommission der Versammlung entschlossen sei, keinem
Kreditverlangen mehr zu entsprechen, daß die Ausgaben für jene Faulenzer
noch um Eine Million übersteige. ‒ Trelat, dessen
Gesichtszüge und Stimme viel Wehmuth verrathen, hält, statt sich kurz zu
bedenken, eine lange Rede zu Gunsten jener Werkstätten, die er so lange
bekämpft habe als er noch Arzt und nicht Minister war. Er schilderte die
Leiden des Proletariats, aus denen die Februar-Revolution hervorgegangen sei
und weist der Versammlung die Gefahren einer übereilten Auflösung der
Werkstätten nach. Nachstehendes bildet ungefähr den ministeriellen Plan der
Auflösung: Binnen 20 Tagen werden 1000 Arbeiter aus jenen Werkstätten an den
Marne-Kanal, 1500 an die Ober-Seine, 1500 in kleinen Rotten zu 50 Mann nach
Nantes und Tours an die Eisenbahnen und 1200 etwa für den Saônekanal
weggeschicki werden. Hiermit beruhigt sich Falloux. ‒ Duprat errang dann eine Dringlichkeitserklärung seines
Preßfreiheitsgesetzes und dann stieg Marrast auf die
Bühne und las folgenden Verfassungsentwurf vor:
„Im Beisein Gottes und im Namen des franz. Volkesproklamirt und dekretirt die
Nat.-Versammlung folgendes.“ Die ersten 9 Artikel handeln von den
bürgerlichen Rechten und Pflichten. Art. I. besteht aus dem christlichen
Grundsatze: „Was Du nicht willst, das Dir geschehe, das thu auch keinem
Andern weh.“ Die Familie und das Eigenthum sind garantirt, eben so die
Arbeit und der Unterhalt. Frankreich ist eine demokratische Republik, einig
und unzertheilbar. Dieselbe wird durch Eine Versammlung von 750 Gliedern für
die gewöhnliche Gesetzgebung und von 900 Gliedern vertreten, wenn die
Verfassung revidirt werden soll. Keine Beamtenstelle ist mit dem Amte eines
Volksvertreters verträglich, mit Ausnahme der Minister, des Maire's von
Paris, und einiger andern höchsten Beamten der Centralbehörden in Paris. Das
Volk übergibt die Vollziehungsgewalt an Einen Bürger, welcher den Titel
„Präsident der Republik“ führt. Um Präsident der Republik zu werden, genügt
es, geborner Franzose und dreißig Jahre alt zu sein. Außerdem wird ein
Vicepräsident für vier Jahre auf den Vorschlag des Präsidenten durch die
Nationalversammlung erwählt. Die folgenden Artikel sprechen sich über die
Landesverwaltung, Justizpflege und die Armee aus. Das Militärersatzwesen ist
abgeschafft. Keine fremden Truppen dürfen ohne Genehmigung der
Nationalversammlung das Gebiet der Republik berühren. Die Todesstrafe bleibt
abgeschafft für politische Verbrechen. Die politischen Verbrechen aller
Kategorien verfallen der Geschworenen Urtheil anheim. Die Unterrichts- und
Lehrfreiheit geschieht unter Aufsicht des Staates. Die Ehrenlegion bleibt
bestehen, ihre Satzungen sollen mit den Einrichtungen der Republik in
Einklang gebracht werden. Alle bisherigen transitorischen Bestimmungen
bleiben in Gesetzeskraft bis sie definitiv erledigt werden.
Diesem Vortrage folgte eine lange Aufregung und die Sitzung blieb einige Zeit
suspendirt.
Um 4 Uhr beginnt die Sitzung wieder. Auf der Tagesordnung befindet sich die
Diskussion über die Cumulation zu Gunsten der besoldeten Offiziere und
Unteroffiziere der Nationalgarden. Der darauf bezügliche Dekretvorschlag
wird angenommen. Sodann befindet sich auf der Tagesordnung das Dekret
bezüglich der Steuer auf Getränke.
Manguin führt aus, daß den Weinbergbesitzern nur zu
helfen sei durch radikale Unterdrückung der Octrois und Abschaffung jeder
Grundsteuer auf die Weinberge. Die weitere Diskussion wird auf Morgen
vertagt.
‒ Morgen (20.) findet ein in der modernen Völkergeschichte einziges Verfahren
statt. Von Morgens 6 Uhr an werden nämlich sämmtliche Häuser von
Polizeidienern besucht, um die darin befindlichen Proletarier
aufzuschreiben. Diese Maßregel soll zunächst für eine genaue Kontrolle der
Nationalwerkstätten benutzt werden. Jeder Arbeiter muß von 6 Uhr früh bis
Mittags 12 Uhr in seiner Wohnung bleiben.
‒ Außer obiger Maßregel richtet der Staatsbautenminister Trelat ein
Rundschreiben an sämmtliche Fabrikanten, Werkstättenführer und Patrone aller
Industrien, um sie der baldigen Rückkehr der Arbeiter in ihre Werkstätten zu
versichern. Andererseits sprechen sich die Organe der Arbeiter energischer
als je für Solidarität und Associatton aus.
‒ Louis Blanc ist gestern von Neuem wegen des Sturms des 15. Mai verhört
worden.
‒ Aus den amtlich revidirten Tabellen der Assekuranzgesellschaften ergibt
sich, daß sich gegenwärtig in Frankreich allein über 30 Milliarden
Privat-Eigenthum versichert befindet.
‒ Ausser Gueret und Nimes haben in Medoc (Gironde), in Toulouse, Toulon,
Nantes und in dem fabrikreichen Sedan (Ardennen) mehr oder weniger
bedenkliche Unruhen stattgefunden. In Sedan vertheidigten Weiber und Kinder
eine Barrikade mit wahrem Heldenmuthe gegen die heranrückende Bürgerwehr.
Und welches war die Veranlassung zum Kampfe daselbst? … Die Ausfuhr einiger
Säcke voll Getreide! Das Volk fürchtet künftige Brodtheuerrng und ruhte
nicht eher, als bis das Getreide in die Stadtspeicher zurückgeschafft
war.
‒ Frankreich zählt 2,500,000 Weinbauer. Unter ihnen herrscht in Folge der
tiefgesunkenen Weinpreise und des Mangels an baarem Gelde der
Zwischenhändler ein solches Elend, daß man sich auf den Ausbruch einer
schrecklichen Krisis gefaßt machen kann, wenn die Republik nicht auch ihnen
bald hülfreiche Hand bietet.
‒ Die Gazette de France (et de Navarre) zeigt alles Ernstes an, daß sich die
Gräfin v. Ehambord in guter Hoffnung befinde.
‒ Die Tuilerien sind leer. Imbert ist daraus verschwunden. Dieser Tage
beginnen die Ausbesserungen und Aenderungen, welche aus diesem Palast den
Sitz des gesetzgebenden Körpers machen sollen.
‒ Das Monsterbankett (Banquet de la fraternisation des travailleurs) findet
am 14. Juli ganz bestimmt statt. Der Preis bleibt 25 Centimes. Der
Vereinigungsraum dehnt sich längs der Festungswälle vom Ourcq-Kanale bis
nach Neuilly aus. Ein Maueranschlag von Zeitungsanoncen laden auch die
Departements zur Theilnahme an dieser Demonstration ein, welche unsere
Bourgeoisie keine geringe Angst einflößt.