Großbritannien.
@xml:id | #ar001_020 |
@type | jArticle |
@facs | 0003 |
[X]London, 29.
Mai.
Vor der Wahl der neuen französischen Exekutivgewalt war Ledru Rollin und
seine ganze Partei in deutschen Journalen glänzend durchgefallen und
förmlich aus dem öffentlichen Leben relegirt worden. Auf einmal erklärt
Lamartine, ohne Ledru Rollin die Theilnahme an der Regierung ablehnen zu
müssen. Die deutschen Journale, von jeher dem status quo huldihend, können
nun nicht mehr regieren ohne Ledru Rollin. Der anmaßlich lächerliche
Diktator, einen Tag vorher noch ohne Halt in der Volksmeinung, eine bloße
Traumgewalt, wird plötzlich zum Mann der Nothwendigkeit. Die deutschen
Redakteure drohen, ihre Stellen niederzulegen, wenn Ledru Rollin, der
unentbehrlich geworden, die seine nicht erhält oder nicht annimmt.
Aber die deutschen Journale wissen sich zu rächen. Haben die Umstände sie
gezwungen, einen gestern geschmähten französischen Demokraten heute wieder
zu rehabilitiren, so erlauben ihnen die Umstände dagegen morgen die heute
noch verherrlichte, weil sagenhaft verhüllte Figur eines englischen
Demokraten zwerghaft zusammenschrumpfen zu lassen. So hat O'Connor,der Chartisten-Chef, und mit ihm die ganze Partei der
Chartisten, dafür büßen müssen, daß ein Moment eingetreten war, wo in
Deutschland die Redakteure liberal scheinen wollten und wo in Frankreich die
Verhältnisse liberal zu sein schienen.
In diesem charakterlosen Wirrwarr, in diesem Auf und Ab der Anerkennung und
Verkennung der demokratischen Parteien und ihrer Vertreter, in dieser
beständigen Kniebeugung vor den Namen und der Gewalt des Augenblickes,
bleibt sich die deutsche Presse nichts desto weniger treu, treu in der
gesinnungstüchtigen Feigheit, treu im biedern Schwanken, treu in dem
unfehlbaren Instinkt, womit sie am gelegenen Ort und zur rechten Zeit die
Sache der jedesmaligen Reaktion herauszuwittern und sich anzueignen
versteht.
Kommen wir auf O'Connor zurück. Die Sitzung, worin
Cobden, der nominelle Vertreter der
industriellen Bourgoisie Englands ‒ wir sagen nominell,denn Cobden ist in Wirklichkeit nur der populäre Name des
Quäkers John Bright ‒ die Parlamentssitzung also,
worin Cobden dem Ingrimm der englischen Bourgeoisie gegen die Arbeiterpartei
Luft machte und sich in Renommistereien gegen O'Connor erging; albernen
Renommistereien, die er in derselben Sitzung widerrufen mußte, diese schwache Stunde Richard Cobden's war die starke
Stunde für den deutschen Preßbengel. Kurz vorher hatte noch Hr. Cripps in
diesem lieu d'aisance der öffentlichen Meinung kniend Abbitte gethan vor dem
athlethischen Celten. Jetzt liegt der celtische Athlet zu Füßen des
kentischen Bauernsohnes und Lancashire- Kattundruckers, der so trocken, so
dürr und eckig sich windet, wie ein aus dem gepreßten Bündel gezogener
Strang Baumwollengarn.
In kurzen Zügen werde ich Ihnen das Duell zwischen Cobden und O'Connor
schildern, das Duell zwischen dem englischen Bauernsohn, der die
Bourgeoisie, und dem irischen Königssohn, der das Proletariat vertritt ‒ ein
Duell, das in England mit allen Waffen, zu jeder Stunde und an allen Orten
ausgekämpft wird, aber nicht immer zwischen zwei so klassischen
Figuranten.
Also : es bedarf nur der Erinnerung, daß unerwarteter Weise in England eine
seuchenartig um sich greifende Sympathie der Middleclatz für die
Arbeiterklasse ausgebrochen war nach der verfehlten Demonstration der
Chartisten vom 10. April. Die Anticornlawleague fing an in politicis zu
machen und Herr Hume entwarf eine geschwächte Volks-Charte, welche die
Forderungen der Chartisten bürgerlich zustutzte und provisorisch ein
gemeinsames Wirken der radikalen Bourgoisie und der Arbeiterklasse möglich
zu machen schien. O'Connor, in gutem Glauben, empfiehlt den Chartisten
einstweilen ihre Bewegung mit der Bewegung der demokratisch gewordenen
League zu vereinen.
Wie aber die englische Bourgeoisie stets nur heuchlerische Friedensverträge
mit der Arbeiterpartei schloß, um ihre eigenen Forderungen der Aristokratie
gegenüber als Volksforderungen geltend machen und hinterher mit verdoppelter
Wucht über den eigenen bethörten Bundesgenossen herfallen zu können, so auch
diesmal.
Herr Hume! Doch sagen wir vorher zwei Worte über den
Herrn Hume. Herr Hume war stets eine der sieben Krücken im Dienste des
verrotteten Whigthums vom Jahre 1833‒1841. Er und 6 andere haschten nach
Popularität, indem sie Ausdehnung der Volksrechte verlangten. Kam aber die
Regierung, der sie opponirten, ernstlich in Gefahr, so wurden aus den sieben
radikalen Krücken eben so viele liberale Knüppel, womit das Ministerium nach
Willkür auf seine Gegner losschlagen konnte. Herr Hume hat zudem die
Specialität, an den Staatsausgaben herumzumäkeln und dafür zu sorgen, daß
der englischen hohen Bourgeoisie das Verwaltungs-Comite ihrer
gemeinschaftlichen Angelegenheiten, der Staat, nicht zu viel Ausgaben
verursacht. Der Punch hat ihn nach dieser Seite hin treffend charakterisirt
als „revenue-cutter.“ Endlich ist Hr. Hume der Rabulist des Hauses der
Gemeinen, der alle die unzähligen Kniffe und Pfiffe kennt, die das
unentwirrbare englische parlamentarische Reglement zuläßt. Er betreibt
seinen Kampf gegen seine Gegner wie ein Advokat, dessen Hauptwaffen
Prozedurschwierigkeiten, Nullitätsfragen, Formalitätschikanen sind!
Dieser Herr Hume also hatte einstweilen die chartistische Bewegung gelähmt
durch das Versprechen in der Sitzung des Hauses der Gemeinen vom 22. Mai die
von den Arbeitern und den Freihandelsmännern gemeinschaftlich acceptirten
Reformforderungen als Motion einzubringen. Alles war gespannt im Hause der
Gemeinen. Die liberalen irischen Mitglieder waren entschlossen, die ganze
Nacht zu bleiben, um mit O'Connor und den Freetradern vereint, die Motion zu
unterstützen. Herr Hume unterdessen plaudert mit den Peeliten und mit den
Ministern. Herr Milner Gibson, Deputirter von Manchester und
Hauptfreetrader, provocirt im offnen Einverständniß mit Hume eine
unmotivirte Debatte mit Lord Bentinck, die sich bis ein Viertel nach 10 Uhr
Abends fortspinnt. Nun war es nach der Gewohnheit des Hauses zu spät, die
von Hume gestellte Motion einzubringen. Herr Hume erklärt, daß er jetzt nach
der Zahl der auf der Tagesordnung befindlichen Gegenstände erst den 20. Juni
seine Motion einbringen könne.
So hat der schlaue Mann die Wahlreformfrage für einen ganzen Monat eskamotirt
und in Wirklichkeit die Motion fallen gelassen.
Die Reformfrage ist für die Freetrader nämlich ein bloser Schein, wie das
wohlfeile Brod und das hohe Salair, die durch die Abschaffung der
Korngesetze den Arbeitern errungen werden sollten, Scheinbrod und
Scheinsalair waren. Wie einst O'Connell und Konsorten in Irland die
Repealfrage nur als Popanz benutzten, um das Gouvernement einzuschüchtern,
so gedenken die Herren Freetrader die Wahlreform zu manipuliren, um die
Ermäßigung der auf den industriellen Kapitalisten lastenden Steuern zu
erzwingen. Cobden, Hume und seine Freunde haben nämlich den Forderungen der
parlamentarischen Reform die Forderung „einer billigen Reduktion der
Besteuerung“ hinzugemengt. Cobden und Compagnie wissen es recht wohl, daß
ein nach den Prinzipien der Volks-Charte reformirtes Haus der Gemeinen, eine
wirkliche Volksrepräsentation, die billige Regulirung der Steuern von selbst
nach sich ziehen würden. Radikale Reform des Parlaments ist der kürzeste Weg
zur Revision der Steuergesetzgebung. Aber es ist keineswegs eine „billige“
Besteuerung, wonach es diese Patrioten drängt. Die Lasten, die sie
gegenwärtig drücken, wollen sie auf andere Schultern abwälzen, auf die
Grund- und Geldrentner, oder auf die Schultern des Volks. Die Schultern,
worauf diese Last fällt, sind ihnen natürlich gleich gerecht. Die Wahlreform
ist nur die Peitsche um Regierung und Parlament zu dieser Steuerveränderung
hinzujagen. Einmal die Steuerrevision erreicht, so würde ihr Reformgeschrei
sofort verstummen. Da nun die Aristokratie, eher der Bourgeoisie jede
Konzession als dem Volk seine Rechte zugestehen wird, so kann die
Arbeiterklasse, schließt sie sich der Bewegung der Freetraders auf die
gegebenen Bedingungen an, von vornherein entnehmen, daß man sie prellen
wird, wie früher. Ihre „respektablen“ Freunde wollen sie benutzen und dann
mit Füßen treten. Das Manoeuvre des Hrn. Hume in der Sitzung vom 22. Mai
öffnete dem O'Connor die Augen. Er enthüllte den ganzen Feldzugsplan. Die
Zurechtweisung, die Herr Cobden ihm darauf zukommen ließ, haben die
deutschen Journale, die hier Reaktion witterten, als den Todesschlag
O'Connor's dargestellt.
Und nun merken Sie auf, wie der große Cobden den O'Connor getödtet.
Zuerst erzählt Herr Cobden, er habe keinen Grund gegen O'Connor aufgebracht
zu sein, denn nie habe ihm ein Mann mehr geschmeichelt. Das Parlament selbst
war über diese Schamlosigkeit erstaunt. Die Schmeichelei bestand darin, daß
O'Connor, der fünfzehn Jahre unermüdlich die Antikornlawleague und Cobden an
deren Spitze bekämpft hatte, nach seiner Zusammenkunft mit Cobden in
Northampton in dem ihm zugehörigen Chartistenblatt, dem Northernstar,
erklärte, Herr Cobden scheine ihm ein persönlich gemäßigter und
philantropischer Mann. Er werde ihn künftig schonender behandeln.
Und, fuhr Herr Cobden fort, jede Stadt Englands weiß zu erzählen von den
Siegen, die ich in den Volksversammlungen über O'Connor davon getragen.
O'Connor erwidert hierauf, daß er nur zweimal mit Cobden zusammen getroffen,
einmal in Malta, und einmal in Northampton, wo Cobden notorisch unterlegen
sei.
Der Philantrop Cobden, auf einer augenscheinlichen Lüge ertappt, sucht sich
herauszuwinden durch die neue Lüge, er habe nicht O'Connor selbst, sondern
seine Helfershelfer, die Chartisten im Allgemeinen gemeint. Auf diese
prunkende Versicherung antwortet einfach die Thatsache, daß die
Anticornlawleaguer in den letzten zwei bis drei Jahren nur noch
Ticket-meetings abzuhalten wagten, weil sie in allen öffentlichen Meetings
von den Chartisten regelmäßig geschlagen wurden.
Endlich erklärt Herr Cobden die Chartisten für eine kleine, unbedeutende und
machtlose Parthei, für eine in den kleinsten Umrissen organisirte Faktion.
O'Connor antwortete darauf, indem er in ganz London Placate anheften ließ,
worin er den Richard Cobden aufforderte, in Wakefield mit ihm auf den
Sonntag zur öffentlichen Debatte zusammenzutreffen. Vor dem versammelten
Volke werde es sich dann herausstellen, auf wessen Seite die „möglichst
kleine Faktion“ sei. Herr Cobden hat sich weislich gehütet, die Einladung zu
acceptiren.
Ich habe Ihnen über diesen Vorfall so ausführlich berichtet, zunächst um an
einem Beispiel die alberne Schamlosigkeit nachzu
[0004]
weisen, womit
die so feierlich und gewissenhaft sich gebahrende deutsche Presse große
historische Gestalten und Bewegungen in ihren eignen Schmutz herabzieht.
Dann aber spiegelt die Sitzung des Hauses der Gemeinen vom 22. Mai das
Verhältniß selbst der radikal und philantropisch thuenden englischen
Bourgeoisie zur englischen Arbeiterklasse auf's treuste wieder. Und endlich
hat diese Sitzung das Loos geworfen. Die Chartisten, d. h. die Masse des
englischen Volks, haben sich noch einmal entschieden losgesagt von jedem
gemeinschaftlichen Zusammenwirken mit der radikalen Bourgeoisie.
„Eine Woche früher“ erklären die Chartisten in London „waren wir der neuen
Agitation günstiger, aber die Scene vom letzten Dienstag muß die
Leichtgläubigsten über die wirklichen Plane der Bourgeoisie aufklären. Nach
dieser Schaustellung wüthenden Hasses von Seiten der Leiter der wirklichen
Mittelklasse ist jeder Vergleich unmöglich, es sei denn, daß die
Mittelklassen Cobden desavouiren und ihre bonne foi dadurch beweisen, daß
sie vollständig und bedingungslos die Principien der Charte acceptiren. Wir
verhindern die Shopkeeper nicht, ihre Meetings ungeschoren zu halten. Geben
sie aber ihre Beschlüsse für Volksbeschlüsse aus und verlangen sie unsre
Unterstützung, so müssen sie wissen, daß diese nur unter einer Bedingung zu
erhalten ist: Die Volkscharte, die ganze Volkscharte und
nichts als die Volkscharte.