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Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802.

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trefft. Ich habe die Welt nicht geflohen, son¬
dern ich habe nur eine Ruhestätte gesucht, wo
ich ungestört meinen Betrachtungen nachhängen
könnte. -- Hat euch euer Entschluß nie gereut,
und kommen nicht zuweilen Stunden, wo euch
bange wird und euer Herz nach einer Men¬
schenstimme verlangt? -- Jetzt nicht mehr.
Es war eine Zeit in meiner Jugend, wo eine
heiße Schwärmerey mich veranlaßte, Einsied¬
ler zu werden. Dunkle Ahndungen beschäf¬
tigten meine jugendliche Fantasie. Ich hoffte
volle Nahrung meines Herzens in der Ein¬
samkeit zu finden. Unerschöpflich dünkte mir
die Quelle meines innern Lebens. Aber ich
merkte bald, daß man eine Fülle von Erfah¬
rungen dahin mitbringen muß, daß ein jun¬
ges Herz nicht allein seyn kann, ja daß der
Mensch erst durch vielfachen Umgang mit
seinem Geschlecht eine gewisse Selbstständig¬
keit erlangt.

trefft. Ich habe die Welt nicht geflohen, ſon¬
dern ich habe nur eine Ruheſtätte geſucht, wo
ich ungeſtört meinen Betrachtungen nachhängen
könnte. — Hat euch euer Entſchluß nie gereut,
und kommen nicht zuweilen Stunden, wo euch
bange wird und euer Herz nach einer Men¬
ſchenſtimme verlangt? — Jetzt nicht mehr.
Es war eine Zeit in meiner Jugend, wo eine
heiße Schwärmerey mich veranlaßte, Einſied¬
ler zu werden. Dunkle Ahndungen beſchäf¬
tigten meine jugendliche Fantaſie. Ich hoffte
volle Nahrung meines Herzens in der Ein¬
ſamkeit zu finden. Unerſchöpflich dünkte mir
die Quelle meines innern Lebens. Aber ich
merkte bald, daß man eine Fülle von Erfah¬
rungen dahin mitbringen muß, daß ein jun¬
ges Herz nicht allein ſeyn kann, ja daß der
Menſch erſt durch vielfachen Umgang mit
ſeinem Geſchlecht eine gewiſſe Selbſtſtändig¬
keit erlangt.

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[172/0180] trefft. Ich habe die Welt nicht geflohen, ſon¬ dern ich habe nur eine Ruheſtätte geſucht, wo ich ungeſtört meinen Betrachtungen nachhängen könnte. — Hat euch euer Entſchluß nie gereut, und kommen nicht zuweilen Stunden, wo euch bange wird und euer Herz nach einer Men¬ ſchenſtimme verlangt? — Jetzt nicht mehr. Es war eine Zeit in meiner Jugend, wo eine heiße Schwärmerey mich veranlaßte, Einſied¬ ler zu werden. Dunkle Ahndungen beſchäf¬ tigten meine jugendliche Fantaſie. Ich hoffte volle Nahrung meines Herzens in der Ein¬ ſamkeit zu finden. Unerſchöpflich dünkte mir die Quelle meines innern Lebens. Aber ich merkte bald, daß man eine Fülle von Erfah¬ rungen dahin mitbringen muß, daß ein jun¬ ges Herz nicht allein ſeyn kann, ja daß der Menſch erſt durch vielfachen Umgang mit ſeinem Geſchlecht eine gewiſſe Selbſtſtändig¬ keit erlangt.

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Zitationshilfe: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/180>, abgerufen am 25.11.2024.