Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.maßen ihm benehmen wollen. Noch sind alles nur Andeutun¬ Jetzt stehn wir hoch genug um auch jenen oberwähnten, maßen ihm benehmen wollen. Noch ſind alles nur Andeutun¬ Jetzt ſtehn wir hoch genug um auch jenen oberwaͤhnten, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0026" n="204"/> maßen ihm benehmen wollen. Noch ſind alles nur Andeutun¬<lb/> gen, unzuſammenhaͤngend und roh, aber ſie verrathen dem<lb/> hiſtoriſchen Auge eine univerſelle Individualitaͤt, eine neue Ge¬<lb/> ſchichte, eine neue Menſchheit, die ſuͤßeſte Umarmung einer jun¬<lb/> gen uͤberraſchten Kirche und eines liebenden Gottes, und das<lb/> innige Empfaͤngniß eines neuen Meſſias in ihren tauſend Glie¬<lb/> dern zugleich. Wer fuͤhlt ſich nicht mit ſuͤßer Schaam guter<lb/> Hoffnung? Das Neugeborne wird das Abbild ſeines Vaters,<lb/> eine neue goldne Zeit mit dunkeln unendlichen Augen, eine<lb/> profetiſche wunderthaͤtige und wundenheilende, troͤſtende und<lb/> ewiges Leben entzuͤndende Zeit ſein — eine große Verſoͤhnungs¬<lb/> zeit, ein Heiland, der wie ein aͤchter Genius unter den Men¬<lb/> ſchen einheimiſch, nur geglaubt nicht geſehen werden, und unter<lb/> zahlloſen Geſtalten den Glaͤubigen ſichtbar, als Brod und Wein,<lb/> verzehrt, als Geliebte umarmt, als Luft geathmet, als Wort<lb/> und Geſang vernommen, und mit himmliſcher Wolluſt, als Tod,<lb/> unter den hoͤchſten Schmerzen der Liebe, in das Innre des ver¬<lb/> brauſenden Leibes aufgenommen wird.</p><lb/> <p>Jetzt ſtehn wir hoch genug um auch jenen oberwaͤhnten,<lb/> vorhergegangenen Zeiten freundlich zuzulaͤcheln und auch in je¬<lb/> nen wunderlichen Thorheiten merkwuͤrdige Kriſtalliſationen des<lb/> hiſtoriſchen Stoffs zu erkennen. Dankbar wollen wir jenen<lb/> Gelehrten und Philoſophen die Haͤnde druͤcken; denn dieſer<lb/> Wahn mußte zum Beſten der Nachkommen erſchoͤpft, und die<lb/> wiſſenſchaftliche Anſicht der Dinge geltend gemacht werden.<lb/> Reizender und farbiger ſteht die Poeſie, wie ein geſchmuͤcktes<lb/> Indien dem kalten, todten Spitzbergen jenes Stubenverſtandes<lb/> gegenuͤber. Damit Indien in der Mitte des Erdballs ſo warm<lb/> und herrlich ſey, muß ein kaltes ſtarres Meer, todte Klippen,<lb/> Nebel ſtatt des geſtirnvollen Himmels und eine lange Nacht,<lb/> die beiden Enden unwirthbar machen. Die tiefe Bedeutung<lb/> der Mechanik lag ſchwer auf dieſen Anachoreten in den Wuͤſten<lb/> des Verſtandes; das Reizende der erſten Einſicht uͤberwaͤltigte<lb/> ſie, das Alte raͤchte ſich an ihnen, ſie opferten dem erſten<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [204/0026]
maßen ihm benehmen wollen. Noch ſind alles nur Andeutun¬
gen, unzuſammenhaͤngend und roh, aber ſie verrathen dem
hiſtoriſchen Auge eine univerſelle Individualitaͤt, eine neue Ge¬
ſchichte, eine neue Menſchheit, die ſuͤßeſte Umarmung einer jun¬
gen uͤberraſchten Kirche und eines liebenden Gottes, und das
innige Empfaͤngniß eines neuen Meſſias in ihren tauſend Glie¬
dern zugleich. Wer fuͤhlt ſich nicht mit ſuͤßer Schaam guter
Hoffnung? Das Neugeborne wird das Abbild ſeines Vaters,
eine neue goldne Zeit mit dunkeln unendlichen Augen, eine
profetiſche wunderthaͤtige und wundenheilende, troͤſtende und
ewiges Leben entzuͤndende Zeit ſein — eine große Verſoͤhnungs¬
zeit, ein Heiland, der wie ein aͤchter Genius unter den Men¬
ſchen einheimiſch, nur geglaubt nicht geſehen werden, und unter
zahlloſen Geſtalten den Glaͤubigen ſichtbar, als Brod und Wein,
verzehrt, als Geliebte umarmt, als Luft geathmet, als Wort
und Geſang vernommen, und mit himmliſcher Wolluſt, als Tod,
unter den hoͤchſten Schmerzen der Liebe, in das Innre des ver¬
brauſenden Leibes aufgenommen wird.
Jetzt ſtehn wir hoch genug um auch jenen oberwaͤhnten,
vorhergegangenen Zeiten freundlich zuzulaͤcheln und auch in je¬
nen wunderlichen Thorheiten merkwuͤrdige Kriſtalliſationen des
hiſtoriſchen Stoffs zu erkennen. Dankbar wollen wir jenen
Gelehrten und Philoſophen die Haͤnde druͤcken; denn dieſer
Wahn mußte zum Beſten der Nachkommen erſchoͤpft, und die
wiſſenſchaftliche Anſicht der Dinge geltend gemacht werden.
Reizender und farbiger ſteht die Poeſie, wie ein geſchmuͤcktes
Indien dem kalten, todten Spitzbergen jenes Stubenverſtandes
gegenuͤber. Damit Indien in der Mitte des Erdballs ſo warm
und herrlich ſey, muß ein kaltes ſtarres Meer, todte Klippen,
Nebel ſtatt des geſtirnvollen Himmels und eine lange Nacht,
die beiden Enden unwirthbar machen. Die tiefe Bedeutung
der Mechanik lag ſchwer auf dieſen Anachoreten in den Wuͤſten
des Verſtandes; das Reizende der erſten Einſicht uͤberwaͤltigte
ſie, das Alte raͤchte ſich an ihnen, ſie opferten dem erſten
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