Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.Mystizismus der neuern Aufklärung, aufgenommen worden ist; Von den übrigen europäischen Ländern, außer Deutsch¬ Myſtizismus der neuern Aufklaͤrung, aufgenommen worden iſt; Von den uͤbrigen europaͤiſchen Laͤndern, außer Deutſch¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0025" n="203"/> Myſtizismus der neuern Aufklaͤrung, aufgenommen worden iſt;<lb/> auch die neuen Eroberungen der Jeſuiten; auch die Naͤherung<lb/> ans Morgenland durch die neuern politiſchen Verhaͤltniſſe.</p><lb/> <p>Von den uͤbrigen europaͤiſchen Laͤndern, außer Deutſch¬<lb/> land, laͤßt ſich nur prophezeihen, daß mit dem <hi rendition="#g">Frieden</hi> ein<lb/> neues hoͤheres religioͤſes Leben in ihnen zu pulſiren und bald<lb/> Alles andere weltliche Intereſſe verſchlingen wird. In Deutſch¬<lb/> land hingegen kann man ſchon mit voller Gewißheit die Spu¬<lb/> ren einer neuen Welt aufzeigen. Deutſchland geht einen lang¬<lb/> ſamen aber ſichern Gang vor den uͤbrigen europaͤiſchen Laͤn¬<lb/> dern voraus. Waͤhrend dieſe durch Krieg, Spekulation und<lb/> Parthey-Geiſt beſchaͤftigt ſind, bildet ſich der Deutſche mit al¬<lb/> lem Fleiß zum Genoſſen einer hoͤhern Epoche der Cultur, und<lb/> dieſer Vorſchritt muß ihm ein großes Uebergewicht uͤber die<lb/> Andere im Lauf der Zeit geben. In Wiſſenſchaften und Kuͤn¬<lb/> ſten wird man eine gewaltige Gaͤhrung gewahr. Unendlich viel<lb/> Geiſt wird entwickelt. Aus neuen, friſchen Fundgruben wird<lb/> gefoͤrdert. — Nie waren die Wiſſenſchaften in beſſeren Haͤnden,<lb/> und erregten wenigſtens groͤßere Erwartungen; die verſchieden¬<lb/> ſten Seiten der Gegenſtaͤnde werden ausgeſpuͤrt, nichts wird<lb/> ungeruͤttelt, unbeurtheilt, undurchſucht gelaſſen. Alles wird<lb/> bearbeitet; die Schriftſteller werden eigenthuͤmlicher und ge¬<lb/> waltiger, jedes alte Denkmal der Geſchichte, jede Kunſt, jede<lb/> Wiſſenſchaft findet Freunde, und wird mit neuer Liebe umarmt<lb/> und fruchtbar gemacht. Eine Vielſeitigkeit ohne Gleichen, eine<lb/> wunderbare Tiefe, eine glaͤnzende Politur, vielumfaſſende<lb/> Kenntniſſe und eine reiche kraͤftige Fantaſie findet man hie und<lb/> da, und oft kuͤhn gepaart. Eine gewaltige Ahndung der ſchoͤpfe¬<lb/> riſchen Willkuͤhr, der Grenzenloſigkeit, der unendlichen Man¬<lb/> nigfaltigkeit, der heiligen Eigenthuͤmlichkeit und der Allfaͤhig¬<lb/> keit der innern Menſchheit ſcheint uͤberall rege zu werden. Aus<lb/> dem Morgentraum der unbehuͤlflichen Kindheit erwacht, uͤbt<lb/> ein Theil des Geſchlechts ſeine erſten Kraͤfte an Schlangen,<lb/> die ſeine Wiege umſchlingen und den Gebrauch ſeiner Glied¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [203/0025]
Myſtizismus der neuern Aufklaͤrung, aufgenommen worden iſt;
auch die neuen Eroberungen der Jeſuiten; auch die Naͤherung
ans Morgenland durch die neuern politiſchen Verhaͤltniſſe.
Von den uͤbrigen europaͤiſchen Laͤndern, außer Deutſch¬
land, laͤßt ſich nur prophezeihen, daß mit dem Frieden ein
neues hoͤheres religioͤſes Leben in ihnen zu pulſiren und bald
Alles andere weltliche Intereſſe verſchlingen wird. In Deutſch¬
land hingegen kann man ſchon mit voller Gewißheit die Spu¬
ren einer neuen Welt aufzeigen. Deutſchland geht einen lang¬
ſamen aber ſichern Gang vor den uͤbrigen europaͤiſchen Laͤn¬
dern voraus. Waͤhrend dieſe durch Krieg, Spekulation und
Parthey-Geiſt beſchaͤftigt ſind, bildet ſich der Deutſche mit al¬
lem Fleiß zum Genoſſen einer hoͤhern Epoche der Cultur, und
dieſer Vorſchritt muß ihm ein großes Uebergewicht uͤber die
Andere im Lauf der Zeit geben. In Wiſſenſchaften und Kuͤn¬
ſten wird man eine gewaltige Gaͤhrung gewahr. Unendlich viel
Geiſt wird entwickelt. Aus neuen, friſchen Fundgruben wird
gefoͤrdert. — Nie waren die Wiſſenſchaften in beſſeren Haͤnden,
und erregten wenigſtens groͤßere Erwartungen; die verſchieden¬
ſten Seiten der Gegenſtaͤnde werden ausgeſpuͤrt, nichts wird
ungeruͤttelt, unbeurtheilt, undurchſucht gelaſſen. Alles wird
bearbeitet; die Schriftſteller werden eigenthuͤmlicher und ge¬
waltiger, jedes alte Denkmal der Geſchichte, jede Kunſt, jede
Wiſſenſchaft findet Freunde, und wird mit neuer Liebe umarmt
und fruchtbar gemacht. Eine Vielſeitigkeit ohne Gleichen, eine
wunderbare Tiefe, eine glaͤnzende Politur, vielumfaſſende
Kenntniſſe und eine reiche kraͤftige Fantaſie findet man hie und
da, und oft kuͤhn gepaart. Eine gewaltige Ahndung der ſchoͤpfe¬
riſchen Willkuͤhr, der Grenzenloſigkeit, der unendlichen Man¬
nigfaltigkeit, der heiligen Eigenthuͤmlichkeit und der Allfaͤhig¬
keit der innern Menſchheit ſcheint uͤberall rege zu werden. Aus
dem Morgentraum der unbehuͤlflichen Kindheit erwacht, uͤbt
ein Theil des Geſchlechts ſeine erſten Kraͤfte an Schlangen,
die ſeine Wiege umſchlingen und den Gebrauch ſeiner Glied¬
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Zitationshilfe: | Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208, hier S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_christenheit_1826/25>, abgerufen am 22.07.2024. |