Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.China in dem wunderbarsten Einverständniß der That und Die Reformation war ein Zeichen der Zeit gewesen. Sie China in dem wunderbarſten Einverſtaͤndniß der That und Die Reformation war ein Zeichen der Zeit geweſen. Sie <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0020" n="198"/> China in dem wunderbarſten Einverſtaͤndniß der That und<lb/> der Lehre. Aus ihren Schulen rekrutirten ſie mit weiſer Aus¬<lb/> wahl ihren Orden. Gegen die Lutheraner predigten ſie mit<lb/> zerſtoͤrendem Eifer und ſuchten die grauſamſte Vertilgung die¬<lb/> ſer Ketzer, als eigentlicher Genoſſen des Teufels, zur dringend¬<lb/> ſten Pflicht der katholiſchen Chriſtenheit zu machen. Ihnen<lb/> allein hatten die katholiſchen Staaten und inſonderheit der<lb/> paͤbſtliche Stuhl ihr langes Ueberleben der Reformation zu<lb/> danken gehabt, und wer weiß, wie alt die Welt noch ausſehn<lb/> wuͤrde, wenn nicht ſchwache Obere, Eiferſucht der Fuͤrſten und<lb/> andern geiſtlichen Orden, Hofintriguen und andere ſonderbare<lb/> Umſtaͤnde ihren kuͤhnen Lauf unterbrochen und mit ihnen dieſe<lb/> letzte Schutzwehr der katholiſchen Verfaſſung beinah vernichtet<lb/> haͤtten. Jetzt ſchlaͤft er, dieſer furchtbare Orden, in armſeliger<lb/> Geſtalt an den Grenzen von Europa, vielleicht daß er von da¬<lb/> her ſich, wie das Volk das ihn beſchuͤtzt, mit neuer Gewalt<lb/> einſt uͤber ſeine alte Heimath, vielleicht unter anderm Namen,<lb/> verbreitet.</p><lb/> <p>Die Reformation war ein Zeichen der Zeit geweſen. Sie<lb/> war fuͤr ganz Europa bedeutend, wenn ſie gleich nur im wahr¬<lb/> haft freien Deutſchland oͤffentlich ausgebrochen war. Die gu¬<lb/> ten Koͤpfe aller Nationen waren heimlich muͤndig geworden,<lb/> und lehnten ſich im taͤuſchenden Gefuͤhl ihres Berufs um deſto<lb/> dreiſter gegen verjaͤhrten Zwang auf. Aus Inſtinkt iſt der ge¬<lb/> lehrte Feind der Geiſtlichkeit nach alter Verfaſſung; der ge¬<lb/> lehrte und der geiſtliche Stand muͤſſen Vertilgungskriege fuͤhren,<lb/> wenn ſie getrennt ſind; denn ſie ſtreiten um Eine Stelle. Dieſe<lb/> Trennung that ſich immer mehr hervor, und die Gelehrten ge¬<lb/> wannen deſto mehr Feld, je mehr ſich die Geiſtlichkeit der eu¬<lb/> ropaͤiſchen Menſchheit dem Zeitraum der triumphirenden Ge¬<lb/> lehrſamkeit naͤherte, und Wiſſen und Glauben in eine entſchie¬<lb/> denere Oppoſition traten. Im Glauben ſuchte man den Grund<lb/> der allgemeinen Stockung, und durch das durchdringende Wiſ¬<lb/> ſen hoffte man ſie zu heben. Ueberall litt der heilige Sinn<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [198/0020]
China in dem wunderbarſten Einverſtaͤndniß der That und
der Lehre. Aus ihren Schulen rekrutirten ſie mit weiſer Aus¬
wahl ihren Orden. Gegen die Lutheraner predigten ſie mit
zerſtoͤrendem Eifer und ſuchten die grauſamſte Vertilgung die¬
ſer Ketzer, als eigentlicher Genoſſen des Teufels, zur dringend¬
ſten Pflicht der katholiſchen Chriſtenheit zu machen. Ihnen
allein hatten die katholiſchen Staaten und inſonderheit der
paͤbſtliche Stuhl ihr langes Ueberleben der Reformation zu
danken gehabt, und wer weiß, wie alt die Welt noch ausſehn
wuͤrde, wenn nicht ſchwache Obere, Eiferſucht der Fuͤrſten und
andern geiſtlichen Orden, Hofintriguen und andere ſonderbare
Umſtaͤnde ihren kuͤhnen Lauf unterbrochen und mit ihnen dieſe
letzte Schutzwehr der katholiſchen Verfaſſung beinah vernichtet
haͤtten. Jetzt ſchlaͤft er, dieſer furchtbare Orden, in armſeliger
Geſtalt an den Grenzen von Europa, vielleicht daß er von da¬
her ſich, wie das Volk das ihn beſchuͤtzt, mit neuer Gewalt
einſt uͤber ſeine alte Heimath, vielleicht unter anderm Namen,
verbreitet.
Die Reformation war ein Zeichen der Zeit geweſen. Sie
war fuͤr ganz Europa bedeutend, wenn ſie gleich nur im wahr¬
haft freien Deutſchland oͤffentlich ausgebrochen war. Die gu¬
ten Koͤpfe aller Nationen waren heimlich muͤndig geworden,
und lehnten ſich im taͤuſchenden Gefuͤhl ihres Berufs um deſto
dreiſter gegen verjaͤhrten Zwang auf. Aus Inſtinkt iſt der ge¬
lehrte Feind der Geiſtlichkeit nach alter Verfaſſung; der ge¬
lehrte und der geiſtliche Stand muͤſſen Vertilgungskriege fuͤhren,
wenn ſie getrennt ſind; denn ſie ſtreiten um Eine Stelle. Dieſe
Trennung that ſich immer mehr hervor, und die Gelehrten ge¬
wannen deſto mehr Feld, je mehr ſich die Geiſtlichkeit der eu¬
ropaͤiſchen Menſchheit dem Zeitraum der triumphirenden Ge¬
lehrſamkeit naͤherte, und Wiſſen und Glauben in eine entſchie¬
denere Oppoſition traten. Im Glauben ſuchte man den Grund
der allgemeinen Stockung, und durch das durchdringende Wiſ¬
ſen hoffte man ſie zu heben. Ueberall litt der heilige Sinn
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