Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Es waren ſchoͤne glaͤnzende Zeiten, wo Europa ein chriſtliches <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb n="189" facs="#f0011"/> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> <p><hi rendition="#in">E</hi>s waren ſchoͤne glaͤnzende Zeiten, wo Europa ein chriſtliches<lb/> Land war, wo <hi rendition="#g">Eine</hi> Chriſtenheit dieſen menſchlich geſtalteten<lb/> Welttheil bewohnte; <hi rendition="#g">Ein</hi> großes gemeinſchaftliches Intereſſe<lb/> verband die entlegenſten Provinzen dieſes weiten geiſtlichen<lb/> Reichs. — Ohne große weltliche Beſitzthuͤmer lenkte und ver¬<lb/> einigte <hi rendition="#g">Ein</hi> Oberhaupt, die großen politiſchen Kraͤfte. — Eine<lb/> zahlreiche Zunft zu der jedermann den Zutritt hatte, ſtand un¬<lb/> mittelbar unter demſelben und vollfuͤhrte ſeine Winke und<lb/> ſtrebte mit Eifer ſeine wohlthaͤtige Macht zu befeſtigen. Je¬<lb/> des Glied dieſer Geſellſchaft wurde allenthalben geehrt, und<lb/> wenn die gemeinen Leute Troſt oder Huͤlfe, Schutz oder Rath<lb/> bei ihm ſuchten, und gerne dafuͤr ſeine mannigfaltigen Beduͤrf¬<lb/> niſſe reichlich verſorgten, ſo fand es auch bei den Maͤchtigeren<lb/> Schutz, Anſehn und Gehoͤr, und alle pflegten dieſe auserwaͤhl¬<lb/> ten, mit wunderbaren Kraͤften ausgeruͤſteten Maͤnner, wie<lb/> Kinder des Himmels, deren Gegenwart und Zuneigung man¬<lb/> nigfachen Segen verbreitete. Kindliches Zutrauen knuͤpfte die<lb/> Menſchen an ihre Verkuͤndigungen. — Wie heiter konnte jeder¬<lb/> mann ſein irdiſches Tagewerk vollbringen, da ihm durch dieſe<lb/> heilige Menſchen eine ſichere Zukunft bereitet, und jeder Fehl¬<lb/> tritt durch ſie vergeben, jede mißfarbige Stelle des Lebens<lb/> durch ſie ausgeloͤſcht, und geklaͤrt wurde. Sie waren die er¬<lb/> fahrnen Steuerleute auf dem großen unbekannten Meere, in<lb/> deren Obhut man alle Stuͤrme geringſchaͤtzen, und zuverſicht¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [189/0011]
Es waren ſchoͤne glaͤnzende Zeiten, wo Europa ein chriſtliches
Land war, wo Eine Chriſtenheit dieſen menſchlich geſtalteten
Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinſchaftliches Intereſſe
verband die entlegenſten Provinzen dieſes weiten geiſtlichen
Reichs. — Ohne große weltliche Beſitzthuͤmer lenkte und ver¬
einigte Ein Oberhaupt, die großen politiſchen Kraͤfte. — Eine
zahlreiche Zunft zu der jedermann den Zutritt hatte, ſtand un¬
mittelbar unter demſelben und vollfuͤhrte ſeine Winke und
ſtrebte mit Eifer ſeine wohlthaͤtige Macht zu befeſtigen. Je¬
des Glied dieſer Geſellſchaft wurde allenthalben geehrt, und
wenn die gemeinen Leute Troſt oder Huͤlfe, Schutz oder Rath
bei ihm ſuchten, und gerne dafuͤr ſeine mannigfaltigen Beduͤrf¬
niſſe reichlich verſorgten, ſo fand es auch bei den Maͤchtigeren
Schutz, Anſehn und Gehoͤr, und alle pflegten dieſe auserwaͤhl¬
ten, mit wunderbaren Kraͤften ausgeruͤſteten Maͤnner, wie
Kinder des Himmels, deren Gegenwart und Zuneigung man¬
nigfachen Segen verbreitete. Kindliches Zutrauen knuͤpfte die
Menſchen an ihre Verkuͤndigungen. — Wie heiter konnte jeder¬
mann ſein irdiſches Tagewerk vollbringen, da ihm durch dieſe
heilige Menſchen eine ſichere Zukunft bereitet, und jeder Fehl¬
tritt durch ſie vergeben, jede mißfarbige Stelle des Lebens
durch ſie ausgeloͤſcht, und geklaͤrt wurde. Sie waren die er¬
fahrnen Steuerleute auf dem großen unbekannten Meere, in
deren Obhut man alle Stuͤrme geringſchaͤtzen, und zuverſicht¬
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Zitationshilfe: | Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208, hier S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_christenheit_1826/11>, abgerufen am 02.03.2025. |