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Sonntags-Blatt. Nr. 22. Berlin, 31. Mai 1868.

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[Beginn Spaltensatz]
Trotz Lotte und Lene.
Aus dem Leben eines Philosophen.
Von
Theobald Buddeus.

An einem sonnigen Tage in der Mitte des Juni saß der Philosoph
Jacobi in München an seinem Schreibtisch und versuchte eines jener tief-
sinnigen Probleme zu lösen, das seit Jahrhunderten schon Gegenstand des
edelsten Geistesringens war. Sein Mühen war jedoch umsonst; die Ge-
danken ließen sich nicht halten, bestanden vielmehr darauf, sich in die Er-
innerung an eine Begebenheit zu vertiefen, die längst vergessen schien,
und plötzlich, wie von einem Zauberwort wach gerufen, in voller Blüthe
stand. Die an und für sich höchst einfache Begebenheit war folgende. An
einem Abend war Bettina, die während ihrer Anwesenheit in München
das Haus Jacobi's eifrig besuchte, in das Zimmer getreten und hatte sich
hinter dem großen runden Tisch auf ihrem Lieblingsplatz, einem weichen
Lehnstuhl, niedergelassen. Es war ein recht heimischer Sitz, der, wenn
man zur Thür hereintrat, nicht gleich in die Augen fiel. Während sie
sich's bequem machte, führten Lotte und Lene, Jacobi's Schwestern, den
Professor Sailer ein und begannen alsbald ihre Verwunderung darüber zu
äußern, daß Bettina noch nicht da sei. Schon wollte Jacobi mit einem
schelmischen Blick auf den stillen Winkel, in dem die Vermißte saß, den
Jrrthum aufklären, unterließ es aber auf einen heimlichen Wink der Ver-
borgenen, und nun ergossen sich Lotte und Lene, von denen die Letztere
eine besonders geschärfte Zunge aufweisen konnte, in laute Klagen über
das unruhige, flatterhafte und witzig boshafte Geschöpf, das sich Bettina
nannte, und zählten ungenirt ein ganzes Heer ihrer Fehler auf. Da
plötzlich, mitten im schärfsten Redefluß, erhob sich Bettina, sprang aus
dem Winkel hervor und rief:

"Habt doch Geduld, ich will mich ja bessern!"

Als Lotte und Lene, schwer überrascht und mit fast komisch verlegenen
Gesichtern zu Boden blickten, umfaßte die Geschmähte, zornig und demüthig
zugleich, die Schwester Lene, nahm sie beim Kopf und küßte sie herzhaft
auf den Mund.

"Um Dir den Mund zu stopfen", sagte sie kurz und setzte sich wieder
in ihren Winkel.

Jacobi konnte sich keine Rechenschaft geben, durch welche Jdeen-
Association diese Geschichte in ihm erweckt worden war, genug, sie war
da und beschäftigte ihn. Sie sollte ihn noch mehr beschäftigen. Der Post-
bote trat ins Zimmer und überreichte ihm ein feines, rosafarbenes Briefchen.
Das konnte unmöglich von einem Philosophen herrühren -- diese Herren
schreiben ihre Gedanken auf gediegenere Stoffe -- und verwundert brach er es
auf. Es standen folgende Zeilen darin: "Jch komme morgen und sicher
auf Flügeln, zwar nicht auf Engelsflügeln, obschon Sie mich, theuerster
Freund, gar oft den fliegenden Engel nannten; aber jedenfalls auf den
alten bekannten Flügeln der Liebe. Seit Jahren habe ich mich nach dem
stillen Winkel gesehnt, wo ich so manchmal saß, um Jhrer Philosophie des
Herzens zu lauschen. O wie freue ich mich, Sie wieder zu sehen und
alles Bekannte und Traute in Jhrem Zimmer zu grüßen. Gewiß steht
Alles noch auf dem alten Fleck, ich hoffe es wenigstens. Jch habe nichts
von früher her vergessen, weder den alten Plato auf dem Schrank, noch
den Kanarienvogel am Fenster, sogar Lotte und Lene stehen mir lebhaft
mit ihren Herrscherstäben vor Augen. Nun, die guten Schwestern werden
freilich etwas ungehalten sein, wenn der flatterhafte, witzig boshafte Dämon
auf einmal wieder in ihre stille Häuslichkeit einbricht, aber Jhrer Liebe und
Freude gewiß, sage ich: Trotz Lotte und Lene! Mit herzlichem Grüßen Jhre

    Bettina. "

Jacobi saß nach dem Lesen dieser Zeilen eine Zeit lang in tiefes Sinnen
versunken da. Er hatte so lange nichts von Bettina gehört; um so an-
genehmer war die Ueberraschung, die ihm die Ankündigung ihres Besuches
verursachte, um so lebhafter die Erinnerung an all' die unvergeßlichen
Stunden, die er mit ihr in seinem Hause verlebt hatte. An dem großen
runden Tisch, an dem Goethe, Seebach, Niemeier, Schweigger, Hegel und
Jean Paul gesessen und ihrem Denken Luft gemacht, hatte auch Bettina
oft verweilt, aller Männer Liebling, besonders Jacobi's. Der Lehnstuhl
dicht am Sopha war ihr erwählter Platz gewesen; dort hatte sie die Pfeile
ihres oft dämonischen Witzes auf die Mißliebigen geschleudert, dort die
Leuchtkugeln ihres wunderbaren Genius aufsteigen lassen, und von dort
war gar oft auch ein so lustiges, hell aufjubelndes Gelächter erschollen, daß
selbst die ernsten Männer mit eingestimmt hatten. Und wie gern hörten
sie ihr zu, wenn sie mit überschwänglicher Jnnerlichkeit sich in den Zauber
der Sinnenwelt, in die Reize und Geheimnisse der Natur vertiefte, oder
wenn sie den Charakter einer bekannten Persönlichkeit mit der ihr eigenen
treffenden Richtigkeit und Feinheit des Urtheils schilderte. Daran dachte
Jacobi, und er vielleicht von Allen am tiefsten und innigsten. Denn für
ihn war Mittheilung der höchste Genuß, und die Erinnerung an verlebte
Gesprächsstunden eine unvergängliche Lust. Er appellirte in Allem immer
an seine Frühlingszeit. Und war das nicht ein schöner sonniger Frühling,
den er mit Bettina verlebt? Ein Frühling, der jetzt noch in seinen alten
Tagen frische Knospen nachtrieb. Es hatte sich seit jener Zeit viel ver-
ändert; er war Präsident der Akademie geworden; Studien, Alter und
Erfahrungen hatten seine Haare entfärbt, seine Gestalt gebeugt; doch Geist
und Herz waren jung geblieben, und auf dem Grunde seiner Seele lagen
die schönsten Stunden seines Lebens neben einander, wie die Saiten eines
Jnstruments, immer bereit, zu Akkorden zusammen zu klingen, so oft die
Erinnerung sie berührte, und ihn stets aufs Neue zu verjüngen.

Daß Bettina einer der angenehmsten, in seinem Herzen wiederholt
nachklingenden Akkorde war, konnte er sich nicht verhehlen, und mit einem
[Spaltenumbruch] stillen, glücklichen Lächeln, das den Eindruck, den die Erinnerung an sie
auf sein Herz machte, deutlich genug erkennen ließ, schob er ihren Brief
in das unsterbliche Buch Spinoza's, das neben ihm auf dem Tisch lag.
Daß er ihn nicht in das gewöhnliche Brieffach legte, dazu hatte er seine
guten Gründe. Lotte und Lene, die für Bettina nie große Zuneigung
gezeigt hatten, durften von dem Briefe, in dem das "Trotz Lotte und Lene"
als entschiedene Kriegserklärung stand, nichts wissen. Auch war darin von
"Flügeln der Liebe" die Rede, was die Schwestern sicherlich in ihrer Weise
als eine jener unausstehlichen Koketterien betrachtet haben würden, die sie
immer an Bettina getadelt hatten. Jm Spinoza lag der Brief sicher, das
wußte Jacobi; an seinen Büchern vergriffen sich die Schwestern nicht, und
beruhigt erhob er sich, um dieselben zu erwarten, die um diese Stunde
erscheinen mußten, das tägliche Geschäft seines Ankleidens zu besorgen. Sie
ließen auch nicht lange auf sich warten; mit den nöthigen Kleidern ver-
sehen, traten sie ein, legten sie sorgfältig über eine Stuhllehne und be-
gannen alsbald, was sie seit Jahren gewohnt waren: den ihrer Herrschaft
unbedingt und willenlos ergebenen Leib des Philosophen zur Akademie
herauszuputzen. Er selbst durfte keine Hand rühren; von dem batistenen
Hemd mit frischem Jabot und Manschetten an bis zum Pelzrock mit präch-
tigem Zobel gefüttert, den er an jedem nur einigermaßen kühlen Morgen
anlegen mußte, war Alles das Werk der Schwestern. Aus der Akademie
zurückgekehrt, mußte er ein wenig schlafen, und am Abend, wenn er sich
niederlegen wollte, zogen die ewig Herrschenden ihm sogar die Nachtmütze
über die Ohren.

So wurde auch heut der Bruder in gewohnter Weise bekleidet, aus-
gebürstet, mit Hut und Stock versehen und mit der üblichen Ermahnung,
sich nicht zu erkälten, zur Thür hinausgelassen. Alsdann begannen beide
Schwestern mit wirthschaftlichem Heroismus eine vollständige Fegung des
Zimmers vorzunehmen. Fenster und Thüren wurden geöffnet, die Teppiche
ausgestäubt, jeder Gegenstand, selbst der alte Plato auf dem Schrank, mit
Besen oder Lappen bearbeitet. Bei dieser Beschäftigung, die zuweilen
etwas wild und leidenschaftlich gehandhabt wurde, geschah es durch einen
jener eigenthümlichen Zufälle, die oft die sichersten Voraussetzungen und
Berechnungen der Menschen zunichte machen, daß der alte Spinoza durch
einen Schlag des Besens vom Tisch herabgeschleudert wurde und Bettina's
Rosabriefchen herausfiel. Da die Rosafarbe unter den Papieren des Phi-
losophen etwas Ungewohntes war, so griff Schwester Lene rasch darnach,
und in Kurzem war der Jnhalt desselben bis zu dem energischen Schluß:
"Trotz Lotte und Lene!" kein Geheimniß mehr. Schwer gekränkt sahen sich
die Schwestern an.

"Der Kobold!" rief Lotte.

"Die Hexe!" steigerte Lene.

"Auf Flügeln der Liebe!" spottete Lotte.

"Als ob unser guter Bruder noch ein Jüngling wäre, dem man eine
solche Ueberschwänglichkeit bieten dürfte! Dem ruhig stillen Manne mit
neunundsechszig Jahren und grau gewordenem Kopf von Liebe zu sprechen --
welche tolle Koketterie!"

"Und wir mit den Herrscherstäben in der Hand!" eiferte Lene. "Uns
gleichsam als Hausdespoten hinzustellen! Ganz abscheulich! Und zu guter
Letzt dieser Schluß, dies impertinente: Trotz Lotte und Lene! Das können
wir uns doch unmöglich gefallen lassen, Schwester!"

"Das meine ich auch", entgegnete Lotte; "aber was wollen wir machen?
Bettina und wir sind von je her Antipoden gewesen, und die längere Tren-
nung von ihr hat in dieser Beziehung nichts geändert. Wir haben ihr
Trotz geboten, so lange sie hier aus und einging und ihr Genie wie einen
Pfauenschweif aufrollte, was können wir nun gegen dies: "Trotz Lotte und
Lene" anfangen? Sie findet in dieser Aeußerung eine Genugthuung für
vergangene Niederlagen; gönnen wir ihr diesen Triumph, und erwarten wir
ihren Besuch mit voller Ruhe. Legen wir uns morgen auf Kundschaft,
lauschen wir ein wenig an der Kammerthür, und ich denke, es wird sich
schon etwas finden lassen, was wir zu einer kleinen Rache an ihr benutzen
können."

Da sich Lene mit diesem Vorschlag einverstanden erklärte, so wurde die
Arbeit ferner nicht mehr unterbrochen und das Rosabriefchen wieder dem
alten Spinoza anvertraut.

Den andern Morgen war Jacobi noch nicht aufgelegt, sein Problem
zu lösen; denn er erwartete Bettina mit Ungeduld. Während er in der
Stube auf und ab ging, lauerten die Schwestern in der Küche, vollständig
angekleidet, um nach dem Lausch=Akt an der Thür, die zum Studirzimmer
Jacobi's führte und von ihnen zugeriegelt worden war, sich zur rechten
Zeit als von einem Besuch Zurückkehrende der Bettina präsentiren zu können.
Beiden Theilen wurde die Zeit lang, ehe die Erwartete eintraf; endlich
aber rollte ein Wagen vor die Thür; die Glocke der Hausthür dröhnte;
flüchtige Schritte eilten die Treppe herauf; es klopfte an die Thür, und
auf Jacobi's freudiges: "Herein!" sprang Bettina ins Zimmer.

"Da bin ich, da bin ich!" jubelte sie. "Da haben Sie mich wieder,
mein allerbester, theuerster Freund! Durch Sturm und Regen, dem Wind
entgegen, bin ich glücklich angelangt mit einem ganzen Schatzkästlein voll
Reisebilder und Abenteuer, bereit, es zu öffnen, wenn Sie Zeit und Lust
haben. O wie freue ich mich, wieder hier zu sein!"

Jacobi drückte die feine, zarte Hand, die sich ihm entgegenstreckte, leb-
haft und sagte:

"Auch ich habe Sie mit Sehnsucht erwartet, liebe Bettina. Das
Schöne, das man in der Vergangenheit genossen hat, weckt eine unaufhör-
liche Sehnsucht nach Wiederholung, und wem sie geboten wird, ist ein
glücklicher Mensch. Jch bin es heut. Und nun kommen Sie und lassen
Sie sich auf dem gewohnten Platz nieder, damit ich mir einbilden kann,
es lägen keine Jahre zwischen uns und dem heutigen Tag."

Bettina ließ sich nieder, und Jacobi bewunderte die feingegliederte Ge-
stalt, deren Bild ihm bis jetzt in treuer Erinnerung geblieben war, mit
neuem Jnteresse. Es war in der That eine liebliche Erscheinung. Das
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]
Trotz Lotte und Lene.
Aus dem Leben eines Philosophen.
Von
Theobald Buddeus.

An einem sonnigen Tage in der Mitte des Juni saß der Philosoph
Jacobi in München an seinem Schreibtisch und versuchte eines jener tief-
sinnigen Probleme zu lösen, das seit Jahrhunderten schon Gegenstand des
edelsten Geistesringens war. Sein Mühen war jedoch umsonst; die Ge-
danken ließen sich nicht halten, bestanden vielmehr darauf, sich in die Er-
innerung an eine Begebenheit zu vertiefen, die längst vergessen schien,
und plötzlich, wie von einem Zauberwort wach gerufen, in voller Blüthe
stand. Die an und für sich höchst einfache Begebenheit war folgende. An
einem Abend war Bettina, die während ihrer Anwesenheit in München
das Haus Jacobi's eifrig besuchte, in das Zimmer getreten und hatte sich
hinter dem großen runden Tisch auf ihrem Lieblingsplatz, einem weichen
Lehnstuhl, niedergelassen. Es war ein recht heimischer Sitz, der, wenn
man zur Thür hereintrat, nicht gleich in die Augen fiel. Während sie
sich's bequem machte, führten Lotte und Lene, Jacobi's Schwestern, den
Professor Sailer ein und begannen alsbald ihre Verwunderung darüber zu
äußern, daß Bettina noch nicht da sei. Schon wollte Jacobi mit einem
schelmischen Blick auf den stillen Winkel, in dem die Vermißte saß, den
Jrrthum aufklären, unterließ es aber auf einen heimlichen Wink der Ver-
borgenen, und nun ergossen sich Lotte und Lene, von denen die Letztere
eine besonders geschärfte Zunge aufweisen konnte, in laute Klagen über
das unruhige, flatterhafte und witzig boshafte Geschöpf, das sich Bettina
nannte, und zählten ungenirt ein ganzes Heer ihrer Fehler auf. Da
plötzlich, mitten im schärfsten Redefluß, erhob sich Bettina, sprang aus
dem Winkel hervor und rief:

„Habt doch Geduld, ich will mich ja bessern!“

Als Lotte und Lene, schwer überrascht und mit fast komisch verlegenen
Gesichtern zu Boden blickten, umfaßte die Geschmähte, zornig und demüthig
zugleich, die Schwester Lene, nahm sie beim Kopf und küßte sie herzhaft
auf den Mund.

„Um Dir den Mund zu stopfen“, sagte sie kurz und setzte sich wieder
in ihren Winkel.

Jacobi konnte sich keine Rechenschaft geben, durch welche Jdeen-
Association diese Geschichte in ihm erweckt worden war, genug, sie war
da und beschäftigte ihn. Sie sollte ihn noch mehr beschäftigen. Der Post-
bote trat ins Zimmer und überreichte ihm ein feines, rosafarbenes Briefchen.
Das konnte unmöglich von einem Philosophen herrühren — diese Herren
schreiben ihre Gedanken auf gediegenere Stoffe — und verwundert brach er es
auf. Es standen folgende Zeilen darin: „Jch komme morgen und sicher
auf Flügeln, zwar nicht auf Engelsflügeln, obschon Sie mich, theuerster
Freund, gar oft den fliegenden Engel nannten; aber jedenfalls auf den
alten bekannten Flügeln der Liebe. Seit Jahren habe ich mich nach dem
stillen Winkel gesehnt, wo ich so manchmal saß, um Jhrer Philosophie des
Herzens zu lauschen. O wie freue ich mich, Sie wieder zu sehen und
alles Bekannte und Traute in Jhrem Zimmer zu grüßen. Gewiß steht
Alles noch auf dem alten Fleck, ich hoffe es wenigstens. Jch habe nichts
von früher her vergessen, weder den alten Plato auf dem Schrank, noch
den Kanarienvogel am Fenster, sogar Lotte und Lene stehen mir lebhaft
mit ihren Herrscherstäben vor Augen. Nun, die guten Schwestern werden
freilich etwas ungehalten sein, wenn der flatterhafte, witzig boshafte Dämon
auf einmal wieder in ihre stille Häuslichkeit einbricht, aber Jhrer Liebe und
Freude gewiß, sage ich: Trotz Lotte und Lene! Mit herzlichem Grüßen Jhre

    Bettina.

Jacobi saß nach dem Lesen dieser Zeilen eine Zeit lang in tiefes Sinnen
versunken da. Er hatte so lange nichts von Bettina gehört; um so an-
genehmer war die Ueberraschung, die ihm die Ankündigung ihres Besuches
verursachte, um so lebhafter die Erinnerung an all' die unvergeßlichen
Stunden, die er mit ihr in seinem Hause verlebt hatte. An dem großen
runden Tisch, an dem Goethe, Seebach, Niemeier, Schweigger, Hegel und
Jean Paul gesessen und ihrem Denken Luft gemacht, hatte auch Bettina
oft verweilt, aller Männer Liebling, besonders Jacobi's. Der Lehnstuhl
dicht am Sopha war ihr erwählter Platz gewesen; dort hatte sie die Pfeile
ihres oft dämonischen Witzes auf die Mißliebigen geschleudert, dort die
Leuchtkugeln ihres wunderbaren Genius aufsteigen lassen, und von dort
war gar oft auch ein so lustiges, hell aufjubelndes Gelächter erschollen, daß
selbst die ernsten Männer mit eingestimmt hatten. Und wie gern hörten
sie ihr zu, wenn sie mit überschwänglicher Jnnerlichkeit sich in den Zauber
der Sinnenwelt, in die Reize und Geheimnisse der Natur vertiefte, oder
wenn sie den Charakter einer bekannten Persönlichkeit mit der ihr eigenen
treffenden Richtigkeit und Feinheit des Urtheils schilderte. Daran dachte
Jacobi, und er vielleicht von Allen am tiefsten und innigsten. Denn für
ihn war Mittheilung der höchste Genuß, und die Erinnerung an verlebte
Gesprächsstunden eine unvergängliche Lust. Er appellirte in Allem immer
an seine Frühlingszeit. Und war das nicht ein schöner sonniger Frühling,
den er mit Bettina verlebt? Ein Frühling, der jetzt noch in seinen alten
Tagen frische Knospen nachtrieb. Es hatte sich seit jener Zeit viel ver-
ändert; er war Präsident der Akademie geworden; Studien, Alter und
Erfahrungen hatten seine Haare entfärbt, seine Gestalt gebeugt; doch Geist
und Herz waren jung geblieben, und auf dem Grunde seiner Seele lagen
die schönsten Stunden seines Lebens neben einander, wie die Saiten eines
Jnstruments, immer bereit, zu Akkorden zusammen zu klingen, so oft die
Erinnerung sie berührte, und ihn stets aufs Neue zu verjüngen.

Daß Bettina einer der angenehmsten, in seinem Herzen wiederholt
nachklingenden Akkorde war, konnte er sich nicht verhehlen, und mit einem
[Spaltenumbruch] stillen, glücklichen Lächeln, das den Eindruck, den die Erinnerung an sie
auf sein Herz machte, deutlich genug erkennen ließ, schob er ihren Brief
in das unsterbliche Buch Spinoza's, das neben ihm auf dem Tisch lag.
Daß er ihn nicht in das gewöhnliche Brieffach legte, dazu hatte er seine
guten Gründe. Lotte und Lene, die für Bettina nie große Zuneigung
gezeigt hatten, durften von dem Briefe, in dem das „Trotz Lotte und Lene“
als entschiedene Kriegserklärung stand, nichts wissen. Auch war darin von
„Flügeln der Liebe“ die Rede, was die Schwestern sicherlich in ihrer Weise
als eine jener unausstehlichen Koketterien betrachtet haben würden, die sie
immer an Bettina getadelt hatten. Jm Spinoza lag der Brief sicher, das
wußte Jacobi; an seinen Büchern vergriffen sich die Schwestern nicht, und
beruhigt erhob er sich, um dieselben zu erwarten, die um diese Stunde
erscheinen mußten, das tägliche Geschäft seines Ankleidens zu besorgen. Sie
ließen auch nicht lange auf sich warten; mit den nöthigen Kleidern ver-
sehen, traten sie ein, legten sie sorgfältig über eine Stuhllehne und be-
gannen alsbald, was sie seit Jahren gewohnt waren: den ihrer Herrschaft
unbedingt und willenlos ergebenen Leib des Philosophen zur Akademie
herauszuputzen. Er selbst durfte keine Hand rühren; von dem batistenen
Hemd mit frischem Jabot und Manschetten an bis zum Pelzrock mit präch-
tigem Zobel gefüttert, den er an jedem nur einigermaßen kühlen Morgen
anlegen mußte, war Alles das Werk der Schwestern. Aus der Akademie
zurückgekehrt, mußte er ein wenig schlafen, und am Abend, wenn er sich
niederlegen wollte, zogen die ewig Herrschenden ihm sogar die Nachtmütze
über die Ohren.

So wurde auch heut der Bruder in gewohnter Weise bekleidet, aus-
gebürstet, mit Hut und Stock versehen und mit der üblichen Ermahnung,
sich nicht zu erkälten, zur Thür hinausgelassen. Alsdann begannen beide
Schwestern mit wirthschaftlichem Heroismus eine vollständige Fegung des
Zimmers vorzunehmen. Fenster und Thüren wurden geöffnet, die Teppiche
ausgestäubt, jeder Gegenstand, selbst der alte Plato auf dem Schrank, mit
Besen oder Lappen bearbeitet. Bei dieser Beschäftigung, die zuweilen
etwas wild und leidenschaftlich gehandhabt wurde, geschah es durch einen
jener eigenthümlichen Zufälle, die oft die sichersten Voraussetzungen und
Berechnungen der Menschen zunichte machen, daß der alte Spinoza durch
einen Schlag des Besens vom Tisch herabgeschleudert wurde und Bettina's
Rosabriefchen herausfiel. Da die Rosafarbe unter den Papieren des Phi-
losophen etwas Ungewohntes war, so griff Schwester Lene rasch darnach,
und in Kurzem war der Jnhalt desselben bis zu dem energischen Schluß:
„Trotz Lotte und Lene!“ kein Geheimniß mehr. Schwer gekränkt sahen sich
die Schwestern an.

„Der Kobold!“ rief Lotte.

„Die Hexe!“ steigerte Lene.

„Auf Flügeln der Liebe!“ spottete Lotte.

„Als ob unser guter Bruder noch ein Jüngling wäre, dem man eine
solche Ueberschwänglichkeit bieten dürfte! Dem ruhig stillen Manne mit
neunundsechszig Jahren und grau gewordenem Kopf von Liebe zu sprechen —
welche tolle Koketterie!“

„Und wir mit den Herrscherstäben in der Hand!“ eiferte Lene. „Uns
gleichsam als Hausdespoten hinzustellen! Ganz abscheulich! Und zu guter
Letzt dieser Schluß, dies impertinente: Trotz Lotte und Lene! Das können
wir uns doch unmöglich gefallen lassen, Schwester!“

„Das meine ich auch“, entgegnete Lotte; „aber was wollen wir machen?
Bettina und wir sind von je her Antipoden gewesen, und die längere Tren-
nung von ihr hat in dieser Beziehung nichts geändert. Wir haben ihr
Trotz geboten, so lange sie hier aus und einging und ihr Genie wie einen
Pfauenschweif aufrollte, was können wir nun gegen dies: „Trotz Lotte und
Lene“ anfangen? Sie findet in dieser Aeußerung eine Genugthuung für
vergangene Niederlagen; gönnen wir ihr diesen Triumph, und erwarten wir
ihren Besuch mit voller Ruhe. Legen wir uns morgen auf Kundschaft,
lauschen wir ein wenig an der Kammerthür, und ich denke, es wird sich
schon etwas finden lassen, was wir zu einer kleinen Rache an ihr benutzen
können.“

Da sich Lene mit diesem Vorschlag einverstanden erklärte, so wurde die
Arbeit ferner nicht mehr unterbrochen und das Rosabriefchen wieder dem
alten Spinoza anvertraut.

Den andern Morgen war Jacobi noch nicht aufgelegt, sein Problem
zu lösen; denn er erwartete Bettina mit Ungeduld. Während er in der
Stube auf und ab ging, lauerten die Schwestern in der Küche, vollständig
angekleidet, um nach dem Lausch=Akt an der Thür, die zum Studirzimmer
Jacobi's führte und von ihnen zugeriegelt worden war, sich zur rechten
Zeit als von einem Besuch Zurückkehrende der Bettina präsentiren zu können.
Beiden Theilen wurde die Zeit lang, ehe die Erwartete eintraf; endlich
aber rollte ein Wagen vor die Thür; die Glocke der Hausthür dröhnte;
flüchtige Schritte eilten die Treppe herauf; es klopfte an die Thür, und
auf Jacobi's freudiges: „Herein!“ sprang Bettina ins Zimmer.

„Da bin ich, da bin ich!“ jubelte sie. „Da haben Sie mich wieder,
mein allerbester, theuerster Freund! Durch Sturm und Regen, dem Wind
entgegen, bin ich glücklich angelangt mit einem ganzen Schatzkästlein voll
Reisebilder und Abenteuer, bereit, es zu öffnen, wenn Sie Zeit und Lust
haben. O wie freue ich mich, wieder hier zu sein!“

Jacobi drückte die feine, zarte Hand, die sich ihm entgegenstreckte, leb-
haft und sagte:

„Auch ich habe Sie mit Sehnsucht erwartet, liebe Bettina. Das
Schöne, das man in der Vergangenheit genossen hat, weckt eine unaufhör-
liche Sehnsucht nach Wiederholung, und wem sie geboten wird, ist ein
glücklicher Mensch. Jch bin es heut. Und nun kommen Sie und lassen
Sie sich auf dem gewohnten Platz nieder, damit ich mir einbilden kann,
es lägen keine Jahre zwischen uns und dem heutigen Tag.“

Bettina ließ sich nieder, und Jacobi bewunderte die feingegliederte Ge-
stalt, deren Bild ihm bis jetzt in treuer Erinnerung geblieben war, mit
neuem Jnteresse. Es war in der That eine liebliche Erscheinung. Das
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[172/0004] 172 Trotz Lotte und Lene. Aus dem Leben eines Philosophen. Von Theobald Buddeus. An einem sonnigen Tage in der Mitte des Juni saß der Philosoph Jacobi in München an seinem Schreibtisch und versuchte eines jener tief- sinnigen Probleme zu lösen, das seit Jahrhunderten schon Gegenstand des edelsten Geistesringens war. Sein Mühen war jedoch umsonst; die Ge- danken ließen sich nicht halten, bestanden vielmehr darauf, sich in die Er- innerung an eine Begebenheit zu vertiefen, die längst vergessen schien, und plötzlich, wie von einem Zauberwort wach gerufen, in voller Blüthe stand. Die an und für sich höchst einfache Begebenheit war folgende. An einem Abend war Bettina, die während ihrer Anwesenheit in München das Haus Jacobi's eifrig besuchte, in das Zimmer getreten und hatte sich hinter dem großen runden Tisch auf ihrem Lieblingsplatz, einem weichen Lehnstuhl, niedergelassen. Es war ein recht heimischer Sitz, der, wenn man zur Thür hereintrat, nicht gleich in die Augen fiel. Während sie sich's bequem machte, führten Lotte und Lene, Jacobi's Schwestern, den Professor Sailer ein und begannen alsbald ihre Verwunderung darüber zu äußern, daß Bettina noch nicht da sei. Schon wollte Jacobi mit einem schelmischen Blick auf den stillen Winkel, in dem die Vermißte saß, den Jrrthum aufklären, unterließ es aber auf einen heimlichen Wink der Ver- borgenen, und nun ergossen sich Lotte und Lene, von denen die Letztere eine besonders geschärfte Zunge aufweisen konnte, in laute Klagen über das unruhige, flatterhafte und witzig boshafte Geschöpf, das sich Bettina nannte, und zählten ungenirt ein ganzes Heer ihrer Fehler auf. Da plötzlich, mitten im schärfsten Redefluß, erhob sich Bettina, sprang aus dem Winkel hervor und rief: „Habt doch Geduld, ich will mich ja bessern!“ Als Lotte und Lene, schwer überrascht und mit fast komisch verlegenen Gesichtern zu Boden blickten, umfaßte die Geschmähte, zornig und demüthig zugleich, die Schwester Lene, nahm sie beim Kopf und küßte sie herzhaft auf den Mund. „Um Dir den Mund zu stopfen“, sagte sie kurz und setzte sich wieder in ihren Winkel. Jacobi konnte sich keine Rechenschaft geben, durch welche Jdeen- Association diese Geschichte in ihm erweckt worden war, genug, sie war da und beschäftigte ihn. Sie sollte ihn noch mehr beschäftigen. Der Post- bote trat ins Zimmer und überreichte ihm ein feines, rosafarbenes Briefchen. Das konnte unmöglich von einem Philosophen herrühren — diese Herren schreiben ihre Gedanken auf gediegenere Stoffe — und verwundert brach er es auf. Es standen folgende Zeilen darin: „Jch komme morgen und sicher auf Flügeln, zwar nicht auf Engelsflügeln, obschon Sie mich, theuerster Freund, gar oft den fliegenden Engel nannten; aber jedenfalls auf den alten bekannten Flügeln der Liebe. Seit Jahren habe ich mich nach dem stillen Winkel gesehnt, wo ich so manchmal saß, um Jhrer Philosophie des Herzens zu lauschen. O wie freue ich mich, Sie wieder zu sehen und alles Bekannte und Traute in Jhrem Zimmer zu grüßen. Gewiß steht Alles noch auf dem alten Fleck, ich hoffe es wenigstens. Jch habe nichts von früher her vergessen, weder den alten Plato auf dem Schrank, noch den Kanarienvogel am Fenster, sogar Lotte und Lene stehen mir lebhaft mit ihren Herrscherstäben vor Augen. Nun, die guten Schwestern werden freilich etwas ungehalten sein, wenn der flatterhafte, witzig boshafte Dämon auf einmal wieder in ihre stille Häuslichkeit einbricht, aber Jhrer Liebe und Freude gewiß, sage ich: Trotz Lotte und Lene! Mit herzlichem Grüßen Jhre Bettina. “ Jacobi saß nach dem Lesen dieser Zeilen eine Zeit lang in tiefes Sinnen versunken da. Er hatte so lange nichts von Bettina gehört; um so an- genehmer war die Ueberraschung, die ihm die Ankündigung ihres Besuches verursachte, um so lebhafter die Erinnerung an all' die unvergeßlichen Stunden, die er mit ihr in seinem Hause verlebt hatte. An dem großen runden Tisch, an dem Goethe, Seebach, Niemeier, Schweigger, Hegel und Jean Paul gesessen und ihrem Denken Luft gemacht, hatte auch Bettina oft verweilt, aller Männer Liebling, besonders Jacobi's. Der Lehnstuhl dicht am Sopha war ihr erwählter Platz gewesen; dort hatte sie die Pfeile ihres oft dämonischen Witzes auf die Mißliebigen geschleudert, dort die Leuchtkugeln ihres wunderbaren Genius aufsteigen lassen, und von dort war gar oft auch ein so lustiges, hell aufjubelndes Gelächter erschollen, daß selbst die ernsten Männer mit eingestimmt hatten. Und wie gern hörten sie ihr zu, wenn sie mit überschwänglicher Jnnerlichkeit sich in den Zauber der Sinnenwelt, in die Reize und Geheimnisse der Natur vertiefte, oder wenn sie den Charakter einer bekannten Persönlichkeit mit der ihr eigenen treffenden Richtigkeit und Feinheit des Urtheils schilderte. Daran dachte Jacobi, und er vielleicht von Allen am tiefsten und innigsten. Denn für ihn war Mittheilung der höchste Genuß, und die Erinnerung an verlebte Gesprächsstunden eine unvergängliche Lust. Er appellirte in Allem immer an seine Frühlingszeit. Und war das nicht ein schöner sonniger Frühling, den er mit Bettina verlebt? Ein Frühling, der jetzt noch in seinen alten Tagen frische Knospen nachtrieb. Es hatte sich seit jener Zeit viel ver- ändert; er war Präsident der Akademie geworden; Studien, Alter und Erfahrungen hatten seine Haare entfärbt, seine Gestalt gebeugt; doch Geist und Herz waren jung geblieben, und auf dem Grunde seiner Seele lagen die schönsten Stunden seines Lebens neben einander, wie die Saiten eines Jnstruments, immer bereit, zu Akkorden zusammen zu klingen, so oft die Erinnerung sie berührte, und ihn stets aufs Neue zu verjüngen. Daß Bettina einer der angenehmsten, in seinem Herzen wiederholt nachklingenden Akkorde war, konnte er sich nicht verhehlen, und mit einem stillen, glücklichen Lächeln, das den Eindruck, den die Erinnerung an sie auf sein Herz machte, deutlich genug erkennen ließ, schob er ihren Brief in das unsterbliche Buch Spinoza's, das neben ihm auf dem Tisch lag. Daß er ihn nicht in das gewöhnliche Brieffach legte, dazu hatte er seine guten Gründe. Lotte und Lene, die für Bettina nie große Zuneigung gezeigt hatten, durften von dem Briefe, in dem das „Trotz Lotte und Lene“ als entschiedene Kriegserklärung stand, nichts wissen. Auch war darin von „Flügeln der Liebe“ die Rede, was die Schwestern sicherlich in ihrer Weise als eine jener unausstehlichen Koketterien betrachtet haben würden, die sie immer an Bettina getadelt hatten. Jm Spinoza lag der Brief sicher, das wußte Jacobi; an seinen Büchern vergriffen sich die Schwestern nicht, und beruhigt erhob er sich, um dieselben zu erwarten, die um diese Stunde erscheinen mußten, das tägliche Geschäft seines Ankleidens zu besorgen. Sie ließen auch nicht lange auf sich warten; mit den nöthigen Kleidern ver- sehen, traten sie ein, legten sie sorgfältig über eine Stuhllehne und be- gannen alsbald, was sie seit Jahren gewohnt waren: den ihrer Herrschaft unbedingt und willenlos ergebenen Leib des Philosophen zur Akademie herauszuputzen. Er selbst durfte keine Hand rühren; von dem batistenen Hemd mit frischem Jabot und Manschetten an bis zum Pelzrock mit präch- tigem Zobel gefüttert, den er an jedem nur einigermaßen kühlen Morgen anlegen mußte, war Alles das Werk der Schwestern. Aus der Akademie zurückgekehrt, mußte er ein wenig schlafen, und am Abend, wenn er sich niederlegen wollte, zogen die ewig Herrschenden ihm sogar die Nachtmütze über die Ohren. So wurde auch heut der Bruder in gewohnter Weise bekleidet, aus- gebürstet, mit Hut und Stock versehen und mit der üblichen Ermahnung, sich nicht zu erkälten, zur Thür hinausgelassen. Alsdann begannen beide Schwestern mit wirthschaftlichem Heroismus eine vollständige Fegung des Zimmers vorzunehmen. Fenster und Thüren wurden geöffnet, die Teppiche ausgestäubt, jeder Gegenstand, selbst der alte Plato auf dem Schrank, mit Besen oder Lappen bearbeitet. Bei dieser Beschäftigung, die zuweilen etwas wild und leidenschaftlich gehandhabt wurde, geschah es durch einen jener eigenthümlichen Zufälle, die oft die sichersten Voraussetzungen und Berechnungen der Menschen zunichte machen, daß der alte Spinoza durch einen Schlag des Besens vom Tisch herabgeschleudert wurde und Bettina's Rosabriefchen herausfiel. Da die Rosafarbe unter den Papieren des Phi- losophen etwas Ungewohntes war, so griff Schwester Lene rasch darnach, und in Kurzem war der Jnhalt desselben bis zu dem energischen Schluß: „Trotz Lotte und Lene!“ kein Geheimniß mehr. Schwer gekränkt sahen sich die Schwestern an. „Der Kobold!“ rief Lotte. „Die Hexe!“ steigerte Lene. „Auf Flügeln der Liebe!“ spottete Lotte. „Als ob unser guter Bruder noch ein Jüngling wäre, dem man eine solche Ueberschwänglichkeit bieten dürfte! Dem ruhig stillen Manne mit neunundsechszig Jahren und grau gewordenem Kopf von Liebe zu sprechen — welche tolle Koketterie!“ „Und wir mit den Herrscherstäben in der Hand!“ eiferte Lene. „Uns gleichsam als Hausdespoten hinzustellen! Ganz abscheulich! Und zu guter Letzt dieser Schluß, dies impertinente: Trotz Lotte und Lene! Das können wir uns doch unmöglich gefallen lassen, Schwester!“ „Das meine ich auch“, entgegnete Lotte; „aber was wollen wir machen? Bettina und wir sind von je her Antipoden gewesen, und die längere Tren- nung von ihr hat in dieser Beziehung nichts geändert. Wir haben ihr Trotz geboten, so lange sie hier aus und einging und ihr Genie wie einen Pfauenschweif aufrollte, was können wir nun gegen dies: „Trotz Lotte und Lene“ anfangen? Sie findet in dieser Aeußerung eine Genugthuung für vergangene Niederlagen; gönnen wir ihr diesen Triumph, und erwarten wir ihren Besuch mit voller Ruhe. Legen wir uns morgen auf Kundschaft, lauschen wir ein wenig an der Kammerthür, und ich denke, es wird sich schon etwas finden lassen, was wir zu einer kleinen Rache an ihr benutzen können.“ Da sich Lene mit diesem Vorschlag einverstanden erklärte, so wurde die Arbeit ferner nicht mehr unterbrochen und das Rosabriefchen wieder dem alten Spinoza anvertraut. Den andern Morgen war Jacobi noch nicht aufgelegt, sein Problem zu lösen; denn er erwartete Bettina mit Ungeduld. Während er in der Stube auf und ab ging, lauerten die Schwestern in der Küche, vollständig angekleidet, um nach dem Lausch=Akt an der Thür, die zum Studirzimmer Jacobi's führte und von ihnen zugeriegelt worden war, sich zur rechten Zeit als von einem Besuch Zurückkehrende der Bettina präsentiren zu können. Beiden Theilen wurde die Zeit lang, ehe die Erwartete eintraf; endlich aber rollte ein Wagen vor die Thür; die Glocke der Hausthür dröhnte; flüchtige Schritte eilten die Treppe herauf; es klopfte an die Thür, und auf Jacobi's freudiges: „Herein!“ sprang Bettina ins Zimmer. „Da bin ich, da bin ich!“ jubelte sie. „Da haben Sie mich wieder, mein allerbester, theuerster Freund! Durch Sturm und Regen, dem Wind entgegen, bin ich glücklich angelangt mit einem ganzen Schatzkästlein voll Reisebilder und Abenteuer, bereit, es zu öffnen, wenn Sie Zeit und Lust haben. O wie freue ich mich, wieder hier zu sein!“ Jacobi drückte die feine, zarte Hand, die sich ihm entgegenstreckte, leb- haft und sagte: „Auch ich habe Sie mit Sehnsucht erwartet, liebe Bettina. Das Schöne, das man in der Vergangenheit genossen hat, weckt eine unaufhör- liche Sehnsucht nach Wiederholung, und wem sie geboten wird, ist ein glücklicher Mensch. Jch bin es heut. Und nun kommen Sie und lassen Sie sich auf dem gewohnten Platz nieder, damit ich mir einbilden kann, es lägen keine Jahre zwischen uns und dem heutigen Tag.“ Bettina ließ sich nieder, und Jacobi bewunderte die feingegliederte Ge- stalt, deren Bild ihm bis jetzt in treuer Erinnerung geblieben war, mit neuem Jnteresse. Es war in der That eine liebliche Erscheinung. Das

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 22. Berlin, 31. Mai 1868, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt22_1868/4>, abgerufen am 22.07.2024.