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Sonntags-Blatt. Nr. 17. Berlin, 26. April 1868.

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[Beginn Spaltensatz] beim Tode seines Weibes, die er so herzinnig geliebt, daß er ihr keine
Zweite an die Seite gestellt; dieser Schmerz aber, an dem die beiden
ihm so theuren Kinder sich wund rieben, war kein von Gott ver-
ordneter, sondern durch Menschenwahn auferlegter.

Der Vater vermochte es kaum mehr mit anzusehen an diesem
trauervollen Abend, wie seine Gertrud so still, so regungslos vor ihm
saß, und doch wieder Angst und Unruhe in ihr zu kämpfen schienen,
deren sie kaum mehr Herr werden konnte; denn sie wurde bald blaß,
bald glühend roth, und ein Zittern lief durch die ganze Gestalt.
Gottfried stand auf, den Beiden die letzten Minuten des Abschieds
nicht zu stören.

Sobald er die Stube verlassen, wollte Ewald reden, aber über
die bebenden Lippen trat nichts, als das Wort:

"Gertrud!"

Sie sprang empor, sie stürzte sich an seine Brust. Jetzt war es
vorbei mit ihrer Kraft; zum ersten Mal gab sie sich einer wilden,
schrankenlosen Verzweiflung hin.

"Ewald, ich kann, ich kann Dich nicht lassen!" und wie im Todes-
krampf klammerte sie sich fest an ihn. "Heilige Mutter Maria, Gna-
denreiche, habe Erbarmen mit mir!" flehte sie inbrünstig.

Ein solcher Jammerschrei aus tiefster Herzensnoth ist oft
hilfreich. Es war, als wenn die heißen Wellen der Verzweiflung
sich schon etwas ebneten, als ob die wilde Angst, welche vorhin Ger-
truds Herz fast zu ersticken drohte, sich legte, gesänftigt durch den
lindernden Thränenstrom, den sie an des geliebten Mannes Brust
vergoß. Ewald hielt sie still und sanft und doch so fest in seinen
Armen -- anders als damals am Weihnachtsabend! Er fühlte wohl mit
jenem echten, richtigen Empfinden, er dürfe das arme theure Mädchen
durch Zeichen seiner Liebe, seines eigenen Schmerzes nicht noch mehr
aufregen zu neuer Verzweiflung. Er, einst zu ihrem Hüter und
Schützer bestimmt, mußte jetzt Kraft für sie Beide haben.

Der Zeiger der Uhr rückte vorwärts, erbarmungslos schritten die
Minuten dahin. Ewald mußte zurück zum väterlichen Hause.

Welch' ein Muth dazu gehörte, die Geliebte von seinem Herzen
loszulassen und selbst an das Scheiden zu mahnen!

"Jch muß fort, Gertrud -- meine Gertrud!"

"Deine -- nie eines anderen Mannes; ich schwöre es Dir bei
dem Andenken an meine selige Mutter!"

Es ging wie ein Freudeschauer durch des Mannes Seele, aber
daneben erstieg eine Regung der Großmuth, die ihn sagen ließ:

"Wenn ich aber sterben sollte, Gertrud?"

"Dann bin ich Deine Wittwe."

Er strich weich und liebkosend über ihr schönes blondes Haar,
legte dann wie segnend seine Hände auf ihr Haupt; noch einmal
schlangen sich die Arme um einander, und eine Welt von Schmerz
und Liebe klopfte und lebte in den beiden jungen Herzen.

Der Oheim trat ein, Ewald zu mahnen, daß es Zeit sei.

"Lebe wohl, mein Herzensjunge, und Gott geleite Dich!"

Dem Alten rieselten die Thränen über die gefurchten Wangen;
mit einem kräftigen Händedruck schieden sie.



"Laßt uns noch heut Abschied nehmen", sagte Ewald zum Vater,
"in dem letzten Moment des Scheidens ist Alles stets so unwirsch."
Er verschwieg, daß er sich mit Christian an einer Stelle im Walde
treffen und in der Stille der Nacht von dannen ziehen wollte, um
dem lärmenden Geleit zu entgehen, welches die jungen Burschen ihnen
am nächsten Morgen zu geben beabsichtigten. Alles Gepäck war schon
nach der Stadt vorausgeschickt, so könnten sie den kurzen Weg wohl
zu Fuß zurücklegen.

"Mir ist es recht", brummte der alte Ulmenhofer.

"So lebt denn wohl, Vater! Gott erhalte Euch und die Mutter
gesund und schütze Haus und Hof!"

"Will schon sorgen, daß Du Alles gut in Stande findest, wenn
Du heimkehrst von Deiner Jrrfahrt."

"Das kümmert mich wenig; darum sagt' ich es nicht."

"Meinst? Wirst vielleicht bald aus einem andern Ton reden."

Vor den Worten, dem Wesen des Vaters wollte alle Weichheit
aus Ewalds Herzen schwinden und der alte bittere Groll wieder empor-
steigen.

"Schlimm genug, daß Du gehst"! begann der Alte von Neuem.

"Meine Schuld ist es nicht."

"Du hast es doch angestiftet; schick' ich Dich etwa nach Amerika?"

Eine heftige Antwort schien nahe daran, über Ewalds Lippen
zu treten, doch es war ihm, als höre er Gertruds weiche Stimme
flüstern:

"Ewald, es ist Dein greiser Vater! Wer weiß, ob Du ihn jemals
wieder siehst? Gehe nicht im Groll von ihm!"

"Laßt uns nicht in Unfrieden von einander scheiden, Vater", sagte
[Spaltenumbruch] der junge Mann weicher. "Und wenn mir etwas Menschliches passiren
sollte und die Mutter sich sehr abhärmte, seid nicht hart gegen sie; es
würde ihr nahe gehen, denn sie hat mich sehr lieb gehabt."

Es war, als wenn es wie mit einem furchtbaren Ruck durch das
Herz des alten Bauers fuhr. Wie nahe es ihm gehen würde, wie
sehr gut er ihm selbst war, davon schien also der Sohn keine Ahnung
zu haben oder es ganz zu bezweifeln? Er wandte den Kopf, er strich
sich mit der flachen Hand über die Augen. Dabei hatte er ein Ge-
fühl, als reiße und zerre Etwas an seinem Herzen.

Wenn er nachgäbe -- wenn er plötzlich sagte: Junge, Ewald,
bleibe hier, nimm Deine Gertrud zum Weibe! Aber -- und wieder
erstiegen all' die schweren Einwände gegen eine solche Verbindung, die
der alte Kilian theils sich selbst in den Kopf gesetzt und die ihm über-
dies noch eingeredet worden waren. Nein -- nein -- es ging nicht,
auch war es außerdem unmöglich! Der Sohn mußte nachgeben; er,
der Vater, konnte es nicht. Die furchtbare Blamage vor dem ganzen
Dorf, wenn es plötzlich hieße: Der Kilian Michael Lembrecht vom
Ulmenhof hat sein Wort gebrochen, ist seinem Schwur untreu ge-
worden! Mit Fingern würde man fortan auf ihn weisen; um all'
sein Ansehn, seine Würde wär' es auf ewig geschehen. Konnte man
ihn jetzt auch einen Starrkopf heißen, so doch nimmer einen Schwächling;
und das war die Hauptsache. Die weicheren, edleren Gefühle, welche
die Seele des Greises momentan berührt, als wollten sie eine Wieder-
geburt an ihr erwecken, entflohen eben so schnell vor dem Klügeln des
Verstandes, des sündigen Hochmuths.

"Nun so geh denn mit Gott, Ewald; Deines Vaters Segen folgt
Dir! Du bist mir stets ein guter Sohn gewesen, bis auf Eins; ich
denk', da kommt auch noch die Einsicht. Lebe wohl!"

Er küßte den Sohn auf Mund und Wangen; dann wandte er
sich rasch um und ging in die Kammer. Bald darauf lag er in seinem
Bett, doch so schnell wie sonst wollte der Schlaf nicht kommen.

Auch der Abschied von Mutter Beate war glücklich überstanden,
und nun weilte Ewald noch in seiner Stube, die er bewohnt von
seinem zwölften Jahr an, in der er so viele frohe Stunden erlebt,
zuletzt so viele heißen Kämpfe durchstritten. Er wandte den Blick nach
Gertruds Zimmer, es war dunkel dort; aber aus der Wohnstube im
Rosenbusch fiel ein Lichtstreif schräg in den Garten. Was sollte es
bedeuten, daß sie dort noch zu so später Stunde auf waren? Wußte
Gertrud, er ziehe schon in der Nacht fort, und kam sie vielleicht noch
einmal vor die Thür?

So war es. Gertrud hatte durch Christian von der Absicht der
Beiden erfahren.

"Vater, ich habe eine recht große Bitte an Dich", sagte sie, mit
den stillen, verweinten Augen flehend empor blickend in des alten
Mannes Antlitz.

"Sprich, mein Goldkind; Dein alter Vater freut sich, Dir Etwas
zu Liebe zu thun!"

"Ewald geht schon diese Nacht fort; darf ich noch einmal vor die
Pforte treten, ihm die Hand zu bieten, daß ich die Letzte sei aus dem
Heimathsdorf, die ihm den Segensspruch mit auf den Weg giebt?"

"Willst Du mir versprechen, Dir und ihm nicht von Neuem
das Herz noch schwerer zu machen; willst Du mein braves, muthiges
Mädchen sein, das sich schon manchmal bewährt als solches?"

"Gewiß, lieber Vater, das will ich. Es soll ja mir und Ewald
eine letzte Freude, ein Glück sein, uns noch einmal zu sehen; das
werd' ich uns nicht durch Jammer und Wehklagen trüben. Nun ist
das Schwerste auch vorüber. Vorhin da hatt' ich ein Gefühl, als
müßt' das heiße Weh mir schier den Sinn verwirren, daß ich auf-
schrie in meiner Todesangst; aber das hat geholfen."

Als Ewald, nachdem er ganz sacht das Vaterhaus verlassen, sich
dem Rosenbusch näherte, sah er den Oheim und Gertrud vor die
Thür treten. Ein leiser Jubelruf drang aus seiner Brust.

"Sie will die Letzte sein, Dir Lebewohl zu sagen im Dorf. So
gieb ihm das Geleit bis zum Saum des Waldes", sprach der alte
Gottfried gütig.

Sie gingen dahin, Hand in Hand. Es war eine stille, warme
Nacht, schon mit dem Wehen und Duften des nahenden Frühlings
ringsumher. Am Himmel zogen die Sterne dahin, ab und zu durch
eine leichte Wolke verhüllt.

Eine ganze Strecke wandelten die Beiden wortlos dahin, nur die
Hände ruhten fest in einander.

"Daß Du so mit mir gehen könntest!" sagte Ewald endlich mit
einem schweren Seufzer.

"Bis ans Ende der Welt -- es wäre schön!" erwiderte Gertrud
leise. "Aber Ewald, wir werden uns ja doch haben, trotz der weiten
Entfernung. Jch muß heut immer an einen Ausspruch denken, den
ich einst in einem Buch oben auf dem Schloß las. Fräulein Lydia
mochte die schmachtenden Lieder so gern und schrieb sich schon als
ganz junges Mädchen eine Menge ab, und da fand ich denn unter
manchen, die mir damals in meiner muntern, übermüthigen Laune
gar zu thränenreich erschienen, eins, das mir sehr gefiel, vor Allem
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] beim Tode seines Weibes, die er so herzinnig geliebt, daß er ihr keine
Zweite an die Seite gestellt; dieser Schmerz aber, an dem die beiden
ihm so theuren Kinder sich wund rieben, war kein von Gott ver-
ordneter, sondern durch Menschenwahn auferlegter.

Der Vater vermochte es kaum mehr mit anzusehen an diesem
trauervollen Abend, wie seine Gertrud so still, so regungslos vor ihm
saß, und doch wieder Angst und Unruhe in ihr zu kämpfen schienen,
deren sie kaum mehr Herr werden konnte; denn sie wurde bald blaß,
bald glühend roth, und ein Zittern lief durch die ganze Gestalt.
Gottfried stand auf, den Beiden die letzten Minuten des Abschieds
nicht zu stören.

Sobald er die Stube verlassen, wollte Ewald reden, aber über
die bebenden Lippen trat nichts, als das Wort:

„Gertrud!“

Sie sprang empor, sie stürzte sich an seine Brust. Jetzt war es
vorbei mit ihrer Kraft; zum ersten Mal gab sie sich einer wilden,
schrankenlosen Verzweiflung hin.

„Ewald, ich kann, ich kann Dich nicht lassen!“ und wie im Todes-
krampf klammerte sie sich fest an ihn. „Heilige Mutter Maria, Gna-
denreiche, habe Erbarmen mit mir!“ flehte sie inbrünstig.

Ein solcher Jammerschrei aus tiefster Herzensnoth ist oft
hilfreich. Es war, als wenn die heißen Wellen der Verzweiflung
sich schon etwas ebneten, als ob die wilde Angst, welche vorhin Ger-
truds Herz fast zu ersticken drohte, sich legte, gesänftigt durch den
lindernden Thränenstrom, den sie an des geliebten Mannes Brust
vergoß. Ewald hielt sie still und sanft und doch so fest in seinen
Armen — anders als damals am Weihnachtsabend! Er fühlte wohl mit
jenem echten, richtigen Empfinden, er dürfe das arme theure Mädchen
durch Zeichen seiner Liebe, seines eigenen Schmerzes nicht noch mehr
aufregen zu neuer Verzweiflung. Er, einst zu ihrem Hüter und
Schützer bestimmt, mußte jetzt Kraft für sie Beide haben.

Der Zeiger der Uhr rückte vorwärts, erbarmungslos schritten die
Minuten dahin. Ewald mußte zurück zum väterlichen Hause.

Welch' ein Muth dazu gehörte, die Geliebte von seinem Herzen
loszulassen und selbst an das Scheiden zu mahnen!

„Jch muß fort, Gertrud — meine Gertrud!“

„Deine — nie eines anderen Mannes; ich schwöre es Dir bei
dem Andenken an meine selige Mutter!“

Es ging wie ein Freudeschauer durch des Mannes Seele, aber
daneben erstieg eine Regung der Großmuth, die ihn sagen ließ:

„Wenn ich aber sterben sollte, Gertrud?“

„Dann bin ich Deine Wittwe.“

Er strich weich und liebkosend über ihr schönes blondes Haar,
legte dann wie segnend seine Hände auf ihr Haupt; noch einmal
schlangen sich die Arme um einander, und eine Welt von Schmerz
und Liebe klopfte und lebte in den beiden jungen Herzen.

Der Oheim trat ein, Ewald zu mahnen, daß es Zeit sei.

„Lebe wohl, mein Herzensjunge, und Gott geleite Dich!“

Dem Alten rieselten die Thränen über die gefurchten Wangen;
mit einem kräftigen Händedruck schieden sie.



„Laßt uns noch heut Abschied nehmen“, sagte Ewald zum Vater,
„in dem letzten Moment des Scheidens ist Alles stets so unwirsch.“
Er verschwieg, daß er sich mit Christian an einer Stelle im Walde
treffen und in der Stille der Nacht von dannen ziehen wollte, um
dem lärmenden Geleit zu entgehen, welches die jungen Burschen ihnen
am nächsten Morgen zu geben beabsichtigten. Alles Gepäck war schon
nach der Stadt vorausgeschickt, so könnten sie den kurzen Weg wohl
zu Fuß zurücklegen.

„Mir ist es recht“, brummte der alte Ulmenhofer.

„So lebt denn wohl, Vater! Gott erhalte Euch und die Mutter
gesund und schütze Haus und Hof!“

„Will schon sorgen, daß Du Alles gut in Stande findest, wenn
Du heimkehrst von Deiner Jrrfahrt.“

„Das kümmert mich wenig; darum sagt' ich es nicht.“

„Meinst? Wirst vielleicht bald aus einem andern Ton reden.“

Vor den Worten, dem Wesen des Vaters wollte alle Weichheit
aus Ewalds Herzen schwinden und der alte bittere Groll wieder empor-
steigen.

„Schlimm genug, daß Du gehst“! begann der Alte von Neuem.

„Meine Schuld ist es nicht.“

„Du hast es doch angestiftet; schick' ich Dich etwa nach Amerika?“

Eine heftige Antwort schien nahe daran, über Ewalds Lippen
zu treten, doch es war ihm, als höre er Gertruds weiche Stimme
flüstern:

„Ewald, es ist Dein greiser Vater! Wer weiß, ob Du ihn jemals
wieder siehst? Gehe nicht im Groll von ihm!“

„Laßt uns nicht in Unfrieden von einander scheiden, Vater“, sagte
[Spaltenumbruch] der junge Mann weicher. „Und wenn mir etwas Menschliches passiren
sollte und die Mutter sich sehr abhärmte, seid nicht hart gegen sie; es
würde ihr nahe gehen, denn sie hat mich sehr lieb gehabt.“

Es war, als wenn es wie mit einem furchtbaren Ruck durch das
Herz des alten Bauers fuhr. Wie nahe es ihm gehen würde, wie
sehr gut er ihm selbst war, davon schien also der Sohn keine Ahnung
zu haben oder es ganz zu bezweifeln? Er wandte den Kopf, er strich
sich mit der flachen Hand über die Augen. Dabei hatte er ein Ge-
fühl, als reiße und zerre Etwas an seinem Herzen.

Wenn er nachgäbe — wenn er plötzlich sagte: Junge, Ewald,
bleibe hier, nimm Deine Gertrud zum Weibe! Aber — und wieder
erstiegen all' die schweren Einwände gegen eine solche Verbindung, die
der alte Kilian theils sich selbst in den Kopf gesetzt und die ihm über-
dies noch eingeredet worden waren. Nein — nein — es ging nicht,
auch war es außerdem unmöglich! Der Sohn mußte nachgeben; er,
der Vater, konnte es nicht. Die furchtbare Blamage vor dem ganzen
Dorf, wenn es plötzlich hieße: Der Kilian Michael Lembrecht vom
Ulmenhof hat sein Wort gebrochen, ist seinem Schwur untreu ge-
worden! Mit Fingern würde man fortan auf ihn weisen; um all'
sein Ansehn, seine Würde wär' es auf ewig geschehen. Konnte man
ihn jetzt auch einen Starrkopf heißen, so doch nimmer einen Schwächling;
und das war die Hauptsache. Die weicheren, edleren Gefühle, welche
die Seele des Greises momentan berührt, als wollten sie eine Wieder-
geburt an ihr erwecken, entflohen eben so schnell vor dem Klügeln des
Verstandes, des sündigen Hochmuths.

„Nun so geh denn mit Gott, Ewald; Deines Vaters Segen folgt
Dir! Du bist mir stets ein guter Sohn gewesen, bis auf Eins; ich
denk', da kommt auch noch die Einsicht. Lebe wohl!“

Er küßte den Sohn auf Mund und Wangen; dann wandte er
sich rasch um und ging in die Kammer. Bald darauf lag er in seinem
Bett, doch so schnell wie sonst wollte der Schlaf nicht kommen.

Auch der Abschied von Mutter Beate war glücklich überstanden,
und nun weilte Ewald noch in seiner Stube, die er bewohnt von
seinem zwölften Jahr an, in der er so viele frohe Stunden erlebt,
zuletzt so viele heißen Kämpfe durchstritten. Er wandte den Blick nach
Gertruds Zimmer, es war dunkel dort; aber aus der Wohnstube im
Rosenbusch fiel ein Lichtstreif schräg in den Garten. Was sollte es
bedeuten, daß sie dort noch zu so später Stunde auf waren? Wußte
Gertrud, er ziehe schon in der Nacht fort, und kam sie vielleicht noch
einmal vor die Thür?

So war es. Gertrud hatte durch Christian von der Absicht der
Beiden erfahren.

„Vater, ich habe eine recht große Bitte an Dich“, sagte sie, mit
den stillen, verweinten Augen flehend empor blickend in des alten
Mannes Antlitz.

„Sprich, mein Goldkind; Dein alter Vater freut sich, Dir Etwas
zu Liebe zu thun!“

„Ewald geht schon diese Nacht fort; darf ich noch einmal vor die
Pforte treten, ihm die Hand zu bieten, daß ich die Letzte sei aus dem
Heimathsdorf, die ihm den Segensspruch mit auf den Weg giebt?“

„Willst Du mir versprechen, Dir und ihm nicht von Neuem
das Herz noch schwerer zu machen; willst Du mein braves, muthiges
Mädchen sein, das sich schon manchmal bewährt als solches?“

„Gewiß, lieber Vater, das will ich. Es soll ja mir und Ewald
eine letzte Freude, ein Glück sein, uns noch einmal zu sehen; das
werd' ich uns nicht durch Jammer und Wehklagen trüben. Nun ist
das Schwerste auch vorüber. Vorhin da hatt' ich ein Gefühl, als
müßt' das heiße Weh mir schier den Sinn verwirren, daß ich auf-
schrie in meiner Todesangst; aber das hat geholfen.“

Als Ewald, nachdem er ganz sacht das Vaterhaus verlassen, sich
dem Rosenbusch näherte, sah er den Oheim und Gertrud vor die
Thür treten. Ein leiser Jubelruf drang aus seiner Brust.

„Sie will die Letzte sein, Dir Lebewohl zu sagen im Dorf. So
gieb ihm das Geleit bis zum Saum des Waldes“, sprach der alte
Gottfried gütig.

Sie gingen dahin, Hand in Hand. Es war eine stille, warme
Nacht, schon mit dem Wehen und Duften des nahenden Frühlings
ringsumher. Am Himmel zogen die Sterne dahin, ab und zu durch
eine leichte Wolke verhüllt.

Eine ganze Strecke wandelten die Beiden wortlos dahin, nur die
Hände ruhten fest in einander.

„Daß Du so mit mir gehen könntest!“ sagte Ewald endlich mit
einem schweren Seufzer.

„Bis ans Ende der Welt — es wäre schön!“ erwiderte Gertrud
leise. „Aber Ewald, wir werden uns ja doch haben, trotz der weiten
Entfernung. Jch muß heut immer an einen Ausspruch denken, den
ich einst in einem Buch oben auf dem Schloß las. Fräulein Lydia
mochte die schmachtenden Lieder so gern und schrieb sich schon als
ganz junges Mädchen eine Menge ab, und da fand ich denn unter
manchen, die mir damals in meiner muntern, übermüthigen Laune
gar zu thränenreich erschienen, eins, das mir sehr gefiel, vor Allem
[Ende Spaltensatz]

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          <p>Er küßte den Sohn auf Mund und Wangen; dann wandte er<lb/>
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          <p>Auch der Abschied von Mutter Beate war glücklich überstanden,<lb/>
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Gertruds Zimmer, es war dunkel dort; aber aus der Wohnstube im<lb/>
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Thür treten. Ein leiser Jubelruf drang aus seiner Brust.</p><lb/>
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[131/0003] 131 beim Tode seines Weibes, die er so herzinnig geliebt, daß er ihr keine Zweite an die Seite gestellt; dieser Schmerz aber, an dem die beiden ihm so theuren Kinder sich wund rieben, war kein von Gott ver- ordneter, sondern durch Menschenwahn auferlegter. Der Vater vermochte es kaum mehr mit anzusehen an diesem trauervollen Abend, wie seine Gertrud so still, so regungslos vor ihm saß, und doch wieder Angst und Unruhe in ihr zu kämpfen schienen, deren sie kaum mehr Herr werden konnte; denn sie wurde bald blaß, bald glühend roth, und ein Zittern lief durch die ganze Gestalt. Gottfried stand auf, den Beiden die letzten Minuten des Abschieds nicht zu stören. Sobald er die Stube verlassen, wollte Ewald reden, aber über die bebenden Lippen trat nichts, als das Wort: „Gertrud!“ Sie sprang empor, sie stürzte sich an seine Brust. Jetzt war es vorbei mit ihrer Kraft; zum ersten Mal gab sie sich einer wilden, schrankenlosen Verzweiflung hin. „Ewald, ich kann, ich kann Dich nicht lassen!“ und wie im Todes- krampf klammerte sie sich fest an ihn. „Heilige Mutter Maria, Gna- denreiche, habe Erbarmen mit mir!“ flehte sie inbrünstig. Ein solcher Jammerschrei aus tiefster Herzensnoth ist oft hilfreich. Es war, als wenn die heißen Wellen der Verzweiflung sich schon etwas ebneten, als ob die wilde Angst, welche vorhin Ger- truds Herz fast zu ersticken drohte, sich legte, gesänftigt durch den lindernden Thränenstrom, den sie an des geliebten Mannes Brust vergoß. Ewald hielt sie still und sanft und doch so fest in seinen Armen — anders als damals am Weihnachtsabend! Er fühlte wohl mit jenem echten, richtigen Empfinden, er dürfe das arme theure Mädchen durch Zeichen seiner Liebe, seines eigenen Schmerzes nicht noch mehr aufregen zu neuer Verzweiflung. Er, einst zu ihrem Hüter und Schützer bestimmt, mußte jetzt Kraft für sie Beide haben. Der Zeiger der Uhr rückte vorwärts, erbarmungslos schritten die Minuten dahin. Ewald mußte zurück zum väterlichen Hause. Welch' ein Muth dazu gehörte, die Geliebte von seinem Herzen loszulassen und selbst an das Scheiden zu mahnen! „Jch muß fort, Gertrud — meine Gertrud!“ „Deine — nie eines anderen Mannes; ich schwöre es Dir bei dem Andenken an meine selige Mutter!“ Es ging wie ein Freudeschauer durch des Mannes Seele, aber daneben erstieg eine Regung der Großmuth, die ihn sagen ließ: „Wenn ich aber sterben sollte, Gertrud?“ „Dann bin ich Deine Wittwe.“ Er strich weich und liebkosend über ihr schönes blondes Haar, legte dann wie segnend seine Hände auf ihr Haupt; noch einmal schlangen sich die Arme um einander, und eine Welt von Schmerz und Liebe klopfte und lebte in den beiden jungen Herzen. Der Oheim trat ein, Ewald zu mahnen, daß es Zeit sei. „Lebe wohl, mein Herzensjunge, und Gott geleite Dich!“ Dem Alten rieselten die Thränen über die gefurchten Wangen; mit einem kräftigen Händedruck schieden sie. „Laßt uns noch heut Abschied nehmen“, sagte Ewald zum Vater, „in dem letzten Moment des Scheidens ist Alles stets so unwirsch.“ Er verschwieg, daß er sich mit Christian an einer Stelle im Walde treffen und in der Stille der Nacht von dannen ziehen wollte, um dem lärmenden Geleit zu entgehen, welches die jungen Burschen ihnen am nächsten Morgen zu geben beabsichtigten. Alles Gepäck war schon nach der Stadt vorausgeschickt, so könnten sie den kurzen Weg wohl zu Fuß zurücklegen. „Mir ist es recht“, brummte der alte Ulmenhofer. „So lebt denn wohl, Vater! Gott erhalte Euch und die Mutter gesund und schütze Haus und Hof!“ „Will schon sorgen, daß Du Alles gut in Stande findest, wenn Du heimkehrst von Deiner Jrrfahrt.“ „Das kümmert mich wenig; darum sagt' ich es nicht.“ „Meinst? Wirst vielleicht bald aus einem andern Ton reden.“ Vor den Worten, dem Wesen des Vaters wollte alle Weichheit aus Ewalds Herzen schwinden und der alte bittere Groll wieder empor- steigen. „Schlimm genug, daß Du gehst“! begann der Alte von Neuem. „Meine Schuld ist es nicht.“ „Du hast es doch angestiftet; schick' ich Dich etwa nach Amerika?“ Eine heftige Antwort schien nahe daran, über Ewalds Lippen zu treten, doch es war ihm, als höre er Gertruds weiche Stimme flüstern: „Ewald, es ist Dein greiser Vater! Wer weiß, ob Du ihn jemals wieder siehst? Gehe nicht im Groll von ihm!“ „Laßt uns nicht in Unfrieden von einander scheiden, Vater“, sagte der junge Mann weicher. „Und wenn mir etwas Menschliches passiren sollte und die Mutter sich sehr abhärmte, seid nicht hart gegen sie; es würde ihr nahe gehen, denn sie hat mich sehr lieb gehabt.“ Es war, als wenn es wie mit einem furchtbaren Ruck durch das Herz des alten Bauers fuhr. Wie nahe es ihm gehen würde, wie sehr gut er ihm selbst war, davon schien also der Sohn keine Ahnung zu haben oder es ganz zu bezweifeln? Er wandte den Kopf, er strich sich mit der flachen Hand über die Augen. Dabei hatte er ein Ge- fühl, als reiße und zerre Etwas an seinem Herzen. Wenn er nachgäbe — wenn er plötzlich sagte: Junge, Ewald, bleibe hier, nimm Deine Gertrud zum Weibe! Aber — und wieder erstiegen all' die schweren Einwände gegen eine solche Verbindung, die der alte Kilian theils sich selbst in den Kopf gesetzt und die ihm über- dies noch eingeredet worden waren. Nein — nein — es ging nicht, auch war es außerdem unmöglich! Der Sohn mußte nachgeben; er, der Vater, konnte es nicht. Die furchtbare Blamage vor dem ganzen Dorf, wenn es plötzlich hieße: Der Kilian Michael Lembrecht vom Ulmenhof hat sein Wort gebrochen, ist seinem Schwur untreu ge- worden! Mit Fingern würde man fortan auf ihn weisen; um all' sein Ansehn, seine Würde wär' es auf ewig geschehen. Konnte man ihn jetzt auch einen Starrkopf heißen, so doch nimmer einen Schwächling; und das war die Hauptsache. Die weicheren, edleren Gefühle, welche die Seele des Greises momentan berührt, als wollten sie eine Wieder- geburt an ihr erwecken, entflohen eben so schnell vor dem Klügeln des Verstandes, des sündigen Hochmuths. „Nun so geh denn mit Gott, Ewald; Deines Vaters Segen folgt Dir! Du bist mir stets ein guter Sohn gewesen, bis auf Eins; ich denk', da kommt auch noch die Einsicht. Lebe wohl!“ Er küßte den Sohn auf Mund und Wangen; dann wandte er sich rasch um und ging in die Kammer. Bald darauf lag er in seinem Bett, doch so schnell wie sonst wollte der Schlaf nicht kommen. Auch der Abschied von Mutter Beate war glücklich überstanden, und nun weilte Ewald noch in seiner Stube, die er bewohnt von seinem zwölften Jahr an, in der er so viele frohe Stunden erlebt, zuletzt so viele heißen Kämpfe durchstritten. Er wandte den Blick nach Gertruds Zimmer, es war dunkel dort; aber aus der Wohnstube im Rosenbusch fiel ein Lichtstreif schräg in den Garten. Was sollte es bedeuten, daß sie dort noch zu so später Stunde auf waren? Wußte Gertrud, er ziehe schon in der Nacht fort, und kam sie vielleicht noch einmal vor die Thür? So war es. Gertrud hatte durch Christian von der Absicht der Beiden erfahren. „Vater, ich habe eine recht große Bitte an Dich“, sagte sie, mit den stillen, verweinten Augen flehend empor blickend in des alten Mannes Antlitz. „Sprich, mein Goldkind; Dein alter Vater freut sich, Dir Etwas zu Liebe zu thun!“ „Ewald geht schon diese Nacht fort; darf ich noch einmal vor die Pforte treten, ihm die Hand zu bieten, daß ich die Letzte sei aus dem Heimathsdorf, die ihm den Segensspruch mit auf den Weg giebt?“ „Willst Du mir versprechen, Dir und ihm nicht von Neuem das Herz noch schwerer zu machen; willst Du mein braves, muthiges Mädchen sein, das sich schon manchmal bewährt als solches?“ „Gewiß, lieber Vater, das will ich. Es soll ja mir und Ewald eine letzte Freude, ein Glück sein, uns noch einmal zu sehen; das werd' ich uns nicht durch Jammer und Wehklagen trüben. Nun ist das Schwerste auch vorüber. Vorhin da hatt' ich ein Gefühl, als müßt' das heiße Weh mir schier den Sinn verwirren, daß ich auf- schrie in meiner Todesangst; aber das hat geholfen.“ Als Ewald, nachdem er ganz sacht das Vaterhaus verlassen, sich dem Rosenbusch näherte, sah er den Oheim und Gertrud vor die Thür treten. Ein leiser Jubelruf drang aus seiner Brust. „Sie will die Letzte sein, Dir Lebewohl zu sagen im Dorf. So gieb ihm das Geleit bis zum Saum des Waldes“, sprach der alte Gottfried gütig. Sie gingen dahin, Hand in Hand. Es war eine stille, warme Nacht, schon mit dem Wehen und Duften des nahenden Frühlings ringsumher. Am Himmel zogen die Sterne dahin, ab und zu durch eine leichte Wolke verhüllt. Eine ganze Strecke wandelten die Beiden wortlos dahin, nur die Hände ruhten fest in einander. „Daß Du so mit mir gehen könntest!“ sagte Ewald endlich mit einem schweren Seufzer. „Bis ans Ende der Welt — es wäre schön!“ erwiderte Gertrud leise. „Aber Ewald, wir werden uns ja doch haben, trotz der weiten Entfernung. Jch muß heut immer an einen Ausspruch denken, den ich einst in einem Buch oben auf dem Schloß las. Fräulein Lydia mochte die schmachtenden Lieder so gern und schrieb sich schon als ganz junges Mädchen eine Menge ab, und da fand ich denn unter manchen, die mir damals in meiner muntern, übermüthigen Laune gar zu thränenreich erschienen, eins, das mir sehr gefiel, vor Allem

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 17. Berlin, 26. April 1868, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt17_1868/3>, abgerufen am 16.07.2024.