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Sonntags-Blatt. Nr. 9. Berlin, 1. März 1868.

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[Beginn Spaltensatz] länglich auch auf anderen Gebieten, wie schwer es hält und wie un-
dankbar es ist, das Publikum von vorgefaßten Meinungen ab-
zubringen. Jn der Regel nimmt es noch Partei für den verfolgten
Geheimmittelkrämer und für Quacksalber, die es verstehen, sich als
Märtyrer ihrer angeblichen Ueberzeugung zu geriren, ihre Mittel
marktschreierisch auszuposaunen und durch ihre Handlanger die Zei-
tungen mit Kurerfolgen zu überfluten, die größtentheils den Stempel
der Unwahrheit an der Stirn tragen und unter dem Secirmesser der
wissenschaftlichen Kritik als Lügengewebe und Hirngespinnste in ihr ver-
dientes Nichts zerfallen.

( Fortsetzung folgt. )



Thomas Paine,
der Verfasser der Schrift "Gesunder Menschenverstand".
Von
Rudolph Doehn.

Während der siebenjährige Krieg Deutschland durchtobte, war
auch in Nordamerika die Kriegsfurie entfesselt worden. Auf
der einen Seite standen hier die Engländer und ihre Kolonien,
auf der andern die Franzosen im Bunde mit den Jndianern.
Das Ende des grausamen Krieges war bekanntlich der Sieg der
Engländer; sie entrissen durch den zu Paris geschlossenen Frieden den
Franzosen ganz Kanada. Der Länderbesitz und die Seemacht Englands
war stark vergrößert worden, aber seine Schuldenlast hatte auch eine
bedenkliche Höhe erreicht.

Kaum war aber der Friede zu Paris geschlossen, so begannen die
Streitigkeiten zwischen England und seinen nordamerikanischen Ko-
lonien. Letztere hatten in dem siegreich beendigten Kriege ihre Kraft
kennen gelernt und beschlossen, ihre verbrieften Freiheiten dem tyran-
nischen Mutterlande gegenüber unter allen Umständen aufrecht zu
erhalten. " No taxation without representation ", d. h. keine
Steuern, die nicht von den eigenen, frei gewählten Volksvertretern
bewilligt sind -- dieser Satz wurde in allen Kolonien mit Begeisterung
und Festigkeit in allen Volksschichten als ein unumstößlicher politischer
Grundsatz vertheidigt und anerkannt. So erklärte z. B. Virginien in
seiner Provinzialversammlung vom Jahre 1769 durch den Mund von
George Mason, dem Freunde Washingtons, feierlichst: "Das Volk
von Virginien kann durch keine Gesetze regiert werden, denen es nicht
durch frei gewählte Stellvertreter seine Sanktion gegeben hat. Be-
steuerung und Stellvertretung sind ihrer Natur nach nicht zu trennen.
Das Recht, sein eigenes Geld zu bewilligen oder nicht zu bewilligen,
ist die einzige wirksame Sicherstellung für ein freies Volk gegen die
Ein= und Uebergriffe einer tyrannischen Regierung". Englands
Schuldenlast drückte indessen schwer, und es verlangte Geld und wiederum
Geld von seinen nordamerikanischen Kolonien, ohne daß es denselben
eine Vertretung im Parlament gönnen wollte. So nahm denn der
Konflikt zwischen dem Mutterlande und den Kolonien einen immer
ernsteren Charakter an. Zwar gab es in den dreizehn Kolonien, die
sich im Laufe der Zeit durch verschiedene Provinzial=Kongresse
immer enger an einander angeschlossen hatten, noch Viele, welche mit
inniger Liebe an England hingen, und das Wort des Dichters
Cowper " England with all thy faults, I love thee still " fand
in manchen Herzen jenseits des atlantischen Oceans noch den lebhaf-
testen Widerhall. Allein die Zeit des Unabhängigkeitskampfes rückte
näher und näher heran, und das stolze Albion, dessen erster Minister
damals der gewandte, aber nicht tief blickende Lord North war, that
nichts, um die jugendlich kräftigen Kolonien zu versöhnen. Virginien
und Massachusetts waren zu jener Zeit die mächtigsten unter den drei-
zehn Kolonien, sie zählten unter ihren Söhnen Männer, die für immer
zu den ersten Rednern, Kriegern und Staatsmännern der Welt zu
rechnen sind. Wir nennen hier nur Patrick Henry, Thomas Jefferson,
James Madison und George Washington von Virginien, und Jakob
Otis, John Hancock, Josiah Quincy *) und John Adams von
Massachusetts.

Das Jahr 1775 war herangekommen, und das Blut der bei
Lexington und Bunkersill gefallenen Freiheitskämpfer war noch nicht
getrocknet, da saßen in Carpenters Hall zu Philadelphia, der Stadt
der Bruderliebe, vier Männer, die von den Engländern bereits als
Rebellen angesehen wurden, obschon die Unabhängigkeitserklärung
[Spaltenumbruch] noch nicht stattgefunden hatte. Das Zimmer, in welchem sie sich
befanden, war bequem, aber schmucklos eingerichtet. Auf einem ein-
fachen Tische stand eine einsame Lampe und erhellte mit ihrem matten
Licht den engen Raum. Diese vier Männer waren ein Advokat aus
Boston in Massachusetts, ein Buchdrucker aus Philadelphia, ein Arzt
aus derselben Stadt und ein Pflanzer aus Virginien. Jener Mann
mit den kühnen Augenbrauen und dem entschlossenen Blick ist John
Adams aus Boston; ihm zur Seite sitzt Benjamin Rush, der ebenso
besonnene wie thatkräftige Arzt und Patriot; ihm gegenüber hat
Benjamin Franklin Platz genommen, den d'Alembert in der französi-
schen Akademie zu Paris mit den berühmt gewordenen Worten be-
grüßte: " Eripuit coelo fulmen scemptrumque tyrannis " ( dem
Himmel entriß er den Blitz, den Tyrannen das Scepter ) ; vor Allem
aber lenkt der Vierte unsern Blick auf sich durch seine hohe, würde-
volle Gestalt, sein edles Wesen und sein ausdrucksvolles Gesicht.
Dieser Mann ist Washington, George Washington von Mount
Vernon in Virginien. Sie alle Vier waren Mitglieder des damals
zu Philadelphia tagenden allgemeinen Kongresses. Jhre Unterhaltung
war ernst und vorsichtig; Jeder schien Scheu zu haben, seine innersten
Gedanken laut werden zu lassen. Die Konfiskation, der Galgen oder
das Beil -- das war bisher das Schicksal aller derer gewesen, die
in kühnem Freiheitsdrang offenen Widerstand gegen die Majestät
des Königs Georg III. von England gepredigt hatten. Sie sprachen
von Bunkerhill, von Lexington, von dem tyrannischen britischen Ministe-
rium und dem schwachen und herzlosen König. Da sagte Franklin: " Wo-
hin wird dieser Krieg uns noch führen? Streben wir nur nach einem
Wechsel des Ministeriums? Oder -- oder ringen wir nach vollstän-
diger Freiheit und Unabhängigkeit?"

Tiefe Stille folgte diesen Worten. Durch die Bande des Blutes,
der Religion und der Sprache mit England verbunden, schien der
Gedanke einer völligen Trennung vom Mutterlande noch immer
fast ein Verorechen zu sein. Ja, während ihre Städte von einer
beutegierigen Soldateska in Brand gesteckt, ihre Mitbürger von feilen
Söldlingen dahingemordet wurden, während hier der Pulverdampf
noch über dem Schlachtfelde von Bunkerhill hing und dort das Blut
der Jhrigen die Fluren von Lexington roth färbte, liebten diese Ko-
lonisten noch immer den Namen von England, hatten sie noch immer
eine heilige Scheu vor dem Worte " Independence " -- " Un-
abhängigkeit
".

Da ward Besuch bei ihnen angemeldet, und herein trat ein Mann
von mittlerer Größe, in einem einfachen braunen Oberrock. Er schien
am meisten mit Franklin bekannt zu sein. Er setzte sich an den Tisch,
an dem die Andern saßen, und nahm Theil an dem Gespräch. Seine
Brauen zogen sich zusammen und seine Augen flammten, als er in
Worten der feurigsten Begeisterung und tief innersten Ueberzeugung
die Gedanken seiner Seele aussprach. Washington, Rush, Adams
und Franklin, sie Alle schwiegen und hörten staunend und bewundernd
zu, wie der Fremde in ernster und überzeugender Weise von der Un-
abhängigkeit Amerika's redete, wie er die große Zukunft der dreizehn
Kolonien schilderte und die mächtige Republik des westlichen Con-
tinents vorahnend in glühenden Farben ausmalte. Doch bald erhoben
sie sich von ihren Sitzen; Washington und Rush ergriffen beide
Hände des Redners und baten ihn mit vor Bewegung zitternder
Stimme, die eben gehörten Jdeen in einem Buche niederzuschreiben, das,
wie sie meinten, in allen Familien Amerika's gelesen werden und von
allen Kanzeln widerhallen müßte. Und dieses Buch wurde geschrieben.
Der einfache Mann aber in dem braunen Rock war -- Thomas
Paine,
der Verfasser des " Common Sense ", des "Gesunden
Menschenverstandes". Dies Buch erschien am 1. Januar 1776 und
schlug zündend wie ein Blitz in die ohnehin schon überall aufgeregten
Gemüther der Kolonisten. Das Wort "Unabhängigkeit" hatte von
nun an keine Schrecken mehr. Thomas Paine's " Common Sense "
war der nothwendige Vorläufer von Thomas Jeffersons " Declara-
tion of Independence
", es enthielt zuerst die geschichtlichen Worte:
" The Free and Independent States of America ".

Die nordamerikanischen Historiker Ramsay, Gordon und Lippard
und viele Andere sind darüber einig, daß Thomas Paine durch die
Publikation seines " Common Sense " am meisten zu der schnell
folgenden Trennung der englischen Kolonien vom Mutterlande bei-
getragen habe; den Werken dieser Schriftsteller ist auch großentheils
die Schilderung der vorstehenden Scene in Carpenters Hall ent-
nommen. Lassen wir jetzt noch eine kurze, quellenmäßige Lebens-
beschreibung von Thomas Paine folgen.

Thomas Paine wurde am 29. Januar 1737 zu Thetford in
der Grafschaft Norfolk in England geboren. Sein Vater, Joseph
Paine, war ein Schnürbrustmacher und Mitglied der Quäkersekte.
Die Vermögensverhältnisse von Paine's Eltern waren nicht bedeutend,
weßhalb er auch nur einen gewöhnlichen englischen Schulunterricht
erhalten konnte. Jn seinem dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahre
verließ er die Schule und lernte bei seinem Vater das Corsetmachen.
Als er das sechszehnte Jahr vollendet hatte, ging er nach London,
[Ende Spaltensatz]

*) Josiah Quincy zählt zu den reinsten Patrioten und edelsten Geistern
des nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges. Sein Testament enthielt
folgende denkwürdige Worte: "Meinem Sohne vermache ich, sobald er
fünfzehn Jahre alt ist, die Werke von Algernon Sidney, John Locke und
Lord Bacon, Gordons Tacitus und Cato's Briefe. Möge der Geist der
Freiheit auf ihm ruhen!" Vergl. K. F. Neumann "Geschichte der Ver-
einigten Staaten". Bd. I. S. 168 ff.

[Beginn Spaltensatz] länglich auch auf anderen Gebieten, wie schwer es hält und wie un-
dankbar es ist, das Publikum von vorgefaßten Meinungen ab-
zubringen. Jn der Regel nimmt es noch Partei für den verfolgten
Geheimmittelkrämer und für Quacksalber, die es verstehen, sich als
Märtyrer ihrer angeblichen Ueberzeugung zu geriren, ihre Mittel
marktschreierisch auszuposaunen und durch ihre Handlanger die Zei-
tungen mit Kurerfolgen zu überfluten, die größtentheils den Stempel
der Unwahrheit an der Stirn tragen und unter dem Secirmesser der
wissenschaftlichen Kritik als Lügengewebe und Hirngespinnste in ihr ver-
dientes Nichts zerfallen.

( Fortsetzung folgt. )



Thomas Paine,
der Verfasser der Schrift „Gesunder Menschenverstand“.
Von
Rudolph Doehn.

Während der siebenjährige Krieg Deutschland durchtobte, war
auch in Nordamerika die Kriegsfurie entfesselt worden. Auf
der einen Seite standen hier die Engländer und ihre Kolonien,
auf der andern die Franzosen im Bunde mit den Jndianern.
Das Ende des grausamen Krieges war bekanntlich der Sieg der
Engländer; sie entrissen durch den zu Paris geschlossenen Frieden den
Franzosen ganz Kanada. Der Länderbesitz und die Seemacht Englands
war stark vergrößert worden, aber seine Schuldenlast hatte auch eine
bedenkliche Höhe erreicht.

Kaum war aber der Friede zu Paris geschlossen, so begannen die
Streitigkeiten zwischen England und seinen nordamerikanischen Ko-
lonien. Letztere hatten in dem siegreich beendigten Kriege ihre Kraft
kennen gelernt und beschlossen, ihre verbrieften Freiheiten dem tyran-
nischen Mutterlande gegenüber unter allen Umständen aufrecht zu
erhalten. „ No taxation without representation “, d. h. keine
Steuern, die nicht von den eigenen, frei gewählten Volksvertretern
bewilligt sind — dieser Satz wurde in allen Kolonien mit Begeisterung
und Festigkeit in allen Volksschichten als ein unumstößlicher politischer
Grundsatz vertheidigt und anerkannt. So erklärte z. B. Virginien in
seiner Provinzialversammlung vom Jahre 1769 durch den Mund von
George Mason, dem Freunde Washingtons, feierlichst: „Das Volk
von Virginien kann durch keine Gesetze regiert werden, denen es nicht
durch frei gewählte Stellvertreter seine Sanktion gegeben hat. Be-
steuerung und Stellvertretung sind ihrer Natur nach nicht zu trennen.
Das Recht, sein eigenes Geld zu bewilligen oder nicht zu bewilligen,
ist die einzige wirksame Sicherstellung für ein freies Volk gegen die
Ein= und Uebergriffe einer tyrannischen Regierung“. Englands
Schuldenlast drückte indessen schwer, und es verlangte Geld und wiederum
Geld von seinen nordamerikanischen Kolonien, ohne daß es denselben
eine Vertretung im Parlament gönnen wollte. So nahm denn der
Konflikt zwischen dem Mutterlande und den Kolonien einen immer
ernsteren Charakter an. Zwar gab es in den dreizehn Kolonien, die
sich im Laufe der Zeit durch verschiedene Provinzial=Kongresse
immer enger an einander angeschlossen hatten, noch Viele, welche mit
inniger Liebe an England hingen, und das Wort des Dichters
Cowper „ England with all thy faults, I love thee still “ fand
in manchen Herzen jenseits des atlantischen Oceans noch den lebhaf-
testen Widerhall. Allein die Zeit des Unabhängigkeitskampfes rückte
näher und näher heran, und das stolze Albion, dessen erster Minister
damals der gewandte, aber nicht tief blickende Lord North war, that
nichts, um die jugendlich kräftigen Kolonien zu versöhnen. Virginien
und Massachusetts waren zu jener Zeit die mächtigsten unter den drei-
zehn Kolonien, sie zählten unter ihren Söhnen Männer, die für immer
zu den ersten Rednern, Kriegern und Staatsmännern der Welt zu
rechnen sind. Wir nennen hier nur Patrick Henry, Thomas Jefferson,
James Madison und George Washington von Virginien, und Jakob
Otis, John Hancock, Josiah Quincy *) und John Adams von
Massachusetts.

Das Jahr 1775 war herangekommen, und das Blut der bei
Lexington und Bunkersill gefallenen Freiheitskämpfer war noch nicht
getrocknet, da saßen in Carpenters Hall zu Philadelphia, der Stadt
der Bruderliebe, vier Männer, die von den Engländern bereits als
Rebellen angesehen wurden, obschon die Unabhängigkeitserklärung
[Spaltenumbruch] noch nicht stattgefunden hatte. Das Zimmer, in welchem sie sich
befanden, war bequem, aber schmucklos eingerichtet. Auf einem ein-
fachen Tische stand eine einsame Lampe und erhellte mit ihrem matten
Licht den engen Raum. Diese vier Männer waren ein Advokat aus
Boston in Massachusetts, ein Buchdrucker aus Philadelphia, ein Arzt
aus derselben Stadt und ein Pflanzer aus Virginien. Jener Mann
mit den kühnen Augenbrauen und dem entschlossenen Blick ist John
Adams aus Boston; ihm zur Seite sitzt Benjamin Rush, der ebenso
besonnene wie thatkräftige Arzt und Patriot; ihm gegenüber hat
Benjamin Franklin Platz genommen, den d'Alembert in der französi-
schen Akademie zu Paris mit den berühmt gewordenen Worten be-
grüßte: „ Eripuit coelo fulmen scemptrumque tyrannis “ ( dem
Himmel entriß er den Blitz, den Tyrannen das Scepter ) ; vor Allem
aber lenkt der Vierte unsern Blick auf sich durch seine hohe, würde-
volle Gestalt, sein edles Wesen und sein ausdrucksvolles Gesicht.
Dieser Mann ist Washington, George Washington von Mount
Vernon in Virginien. Sie alle Vier waren Mitglieder des damals
zu Philadelphia tagenden allgemeinen Kongresses. Jhre Unterhaltung
war ernst und vorsichtig; Jeder schien Scheu zu haben, seine innersten
Gedanken laut werden zu lassen. Die Konfiskation, der Galgen oder
das Beil — das war bisher das Schicksal aller derer gewesen, die
in kühnem Freiheitsdrang offenen Widerstand gegen die Majestät
des Königs Georg III. von England gepredigt hatten. Sie sprachen
von Bunkerhill, von Lexington, von dem tyrannischen britischen Ministe-
rium und dem schwachen und herzlosen König. Da sagte Franklin: „ Wo-
hin wird dieser Krieg uns noch führen? Streben wir nur nach einem
Wechsel des Ministeriums? Oder — oder ringen wir nach vollstän-
diger Freiheit und Unabhängigkeit?“

Tiefe Stille folgte diesen Worten. Durch die Bande des Blutes,
der Religion und der Sprache mit England verbunden, schien der
Gedanke einer völligen Trennung vom Mutterlande noch immer
fast ein Verorechen zu sein. Ja, während ihre Städte von einer
beutegierigen Soldateska in Brand gesteckt, ihre Mitbürger von feilen
Söldlingen dahingemordet wurden, während hier der Pulverdampf
noch über dem Schlachtfelde von Bunkerhill hing und dort das Blut
der Jhrigen die Fluren von Lexington roth färbte, liebten diese Ko-
lonisten noch immer den Namen von England, hatten sie noch immer
eine heilige Scheu vor dem Worte „ Independence “ — „ Un-
abhängigkeit
“.

Da ward Besuch bei ihnen angemeldet, und herein trat ein Mann
von mittlerer Größe, in einem einfachen braunen Oberrock. Er schien
am meisten mit Franklin bekannt zu sein. Er setzte sich an den Tisch,
an dem die Andern saßen, und nahm Theil an dem Gespräch. Seine
Brauen zogen sich zusammen und seine Augen flammten, als er in
Worten der feurigsten Begeisterung und tief innersten Ueberzeugung
die Gedanken seiner Seele aussprach. Washington, Rush, Adams
und Franklin, sie Alle schwiegen und hörten staunend und bewundernd
zu, wie der Fremde in ernster und überzeugender Weise von der Un-
abhängigkeit Amerika's redete, wie er die große Zukunft der dreizehn
Kolonien schilderte und die mächtige Republik des westlichen Con-
tinents vorahnend in glühenden Farben ausmalte. Doch bald erhoben
sie sich von ihren Sitzen; Washington und Rush ergriffen beide
Hände des Redners und baten ihn mit vor Bewegung zitternder
Stimme, die eben gehörten Jdeen in einem Buche niederzuschreiben, das,
wie sie meinten, in allen Familien Amerika's gelesen werden und von
allen Kanzeln widerhallen müßte. Und dieses Buch wurde geschrieben.
Der einfache Mann aber in dem braunen Rock war — Thomas
Paine,
der Verfasser des „ Common Sense “, des „Gesunden
Menschenverstandes“. Dies Buch erschien am 1. Januar 1776 und
schlug zündend wie ein Blitz in die ohnehin schon überall aufgeregten
Gemüther der Kolonisten. Das Wort „Unabhängigkeit“ hatte von
nun an keine Schrecken mehr. Thomas Paine's „ Common Sense
war der nothwendige Vorläufer von Thomas Jeffersons „ Declara-
tion of Independence
“, es enthielt zuerst die geschichtlichen Worte:
The Free and Independent States of America “.

Die nordamerikanischen Historiker Ramsay, Gordon und Lippard
und viele Andere sind darüber einig, daß Thomas Paine durch die
Publikation seines „ Common Sense “ am meisten zu der schnell
folgenden Trennung der englischen Kolonien vom Mutterlande bei-
getragen habe; den Werken dieser Schriftsteller ist auch großentheils
die Schilderung der vorstehenden Scene in Carpenters Hall ent-
nommen. Lassen wir jetzt noch eine kurze, quellenmäßige Lebens-
beschreibung von Thomas Paine folgen.

Thomas Paine wurde am 29. Januar 1737 zu Thetford in
der Grafschaft Norfolk in England geboren. Sein Vater, Joseph
Paine, war ein Schnürbrustmacher und Mitglied der Quäkersekte.
Die Vermögensverhältnisse von Paine's Eltern waren nicht bedeutend,
weßhalb er auch nur einen gewöhnlichen englischen Schulunterricht
erhalten konnte. Jn seinem dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahre
verließ er die Schule und lernte bei seinem Vater das Corsetmachen.
Als er das sechszehnte Jahr vollendet hatte, ging er nach London,
[Ende Spaltensatz]

*) Josiah Quincy zählt zu den reinsten Patrioten und edelsten Geistern
des nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges. Sein Testament enthielt
folgende denkwürdige Worte: „Meinem Sohne vermache ich, sobald er
fünfzehn Jahre alt ist, die Werke von Algernon Sidney, John Locke und
Lord Bacon, Gordons Tacitus und Cato's Briefe. Möge der Geist der
Freiheit auf ihm ruhen!“ Vergl. K. F. Neumann „Geschichte der Ver-
einigten Staaten“. Bd. I. S. 168 ff.
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[71/0007] 71 länglich auch auf anderen Gebieten, wie schwer es hält und wie un- dankbar es ist, das Publikum von vorgefaßten Meinungen ab- zubringen. Jn der Regel nimmt es noch Partei für den verfolgten Geheimmittelkrämer und für Quacksalber, die es verstehen, sich als Märtyrer ihrer angeblichen Ueberzeugung zu geriren, ihre Mittel marktschreierisch auszuposaunen und durch ihre Handlanger die Zei- tungen mit Kurerfolgen zu überfluten, die größtentheils den Stempel der Unwahrheit an der Stirn tragen und unter dem Secirmesser der wissenschaftlichen Kritik als Lügengewebe und Hirngespinnste in ihr ver- dientes Nichts zerfallen. ( Fortsetzung folgt. ) Thomas Paine, der Verfasser der Schrift „Gesunder Menschenverstand“. Von Rudolph Doehn. Während der siebenjährige Krieg Deutschland durchtobte, war auch in Nordamerika die Kriegsfurie entfesselt worden. Auf der einen Seite standen hier die Engländer und ihre Kolonien, auf der andern die Franzosen im Bunde mit den Jndianern. Das Ende des grausamen Krieges war bekanntlich der Sieg der Engländer; sie entrissen durch den zu Paris geschlossenen Frieden den Franzosen ganz Kanada. Der Länderbesitz und die Seemacht Englands war stark vergrößert worden, aber seine Schuldenlast hatte auch eine bedenkliche Höhe erreicht. Kaum war aber der Friede zu Paris geschlossen, so begannen die Streitigkeiten zwischen England und seinen nordamerikanischen Ko- lonien. Letztere hatten in dem siegreich beendigten Kriege ihre Kraft kennen gelernt und beschlossen, ihre verbrieften Freiheiten dem tyran- nischen Mutterlande gegenüber unter allen Umständen aufrecht zu erhalten. „ No taxation without representation “, d. h. keine Steuern, die nicht von den eigenen, frei gewählten Volksvertretern bewilligt sind — dieser Satz wurde in allen Kolonien mit Begeisterung und Festigkeit in allen Volksschichten als ein unumstößlicher politischer Grundsatz vertheidigt und anerkannt. So erklärte z. B. Virginien in seiner Provinzialversammlung vom Jahre 1769 durch den Mund von George Mason, dem Freunde Washingtons, feierlichst: „Das Volk von Virginien kann durch keine Gesetze regiert werden, denen es nicht durch frei gewählte Stellvertreter seine Sanktion gegeben hat. Be- steuerung und Stellvertretung sind ihrer Natur nach nicht zu trennen. Das Recht, sein eigenes Geld zu bewilligen oder nicht zu bewilligen, ist die einzige wirksame Sicherstellung für ein freies Volk gegen die Ein= und Uebergriffe einer tyrannischen Regierung“. Englands Schuldenlast drückte indessen schwer, und es verlangte Geld und wiederum Geld von seinen nordamerikanischen Kolonien, ohne daß es denselben eine Vertretung im Parlament gönnen wollte. So nahm denn der Konflikt zwischen dem Mutterlande und den Kolonien einen immer ernsteren Charakter an. Zwar gab es in den dreizehn Kolonien, die sich im Laufe der Zeit durch verschiedene Provinzial=Kongresse immer enger an einander angeschlossen hatten, noch Viele, welche mit inniger Liebe an England hingen, und das Wort des Dichters Cowper „ England with all thy faults, I love thee still “ fand in manchen Herzen jenseits des atlantischen Oceans noch den lebhaf- testen Widerhall. Allein die Zeit des Unabhängigkeitskampfes rückte näher und näher heran, und das stolze Albion, dessen erster Minister damals der gewandte, aber nicht tief blickende Lord North war, that nichts, um die jugendlich kräftigen Kolonien zu versöhnen. Virginien und Massachusetts waren zu jener Zeit die mächtigsten unter den drei- zehn Kolonien, sie zählten unter ihren Söhnen Männer, die für immer zu den ersten Rednern, Kriegern und Staatsmännern der Welt zu rechnen sind. Wir nennen hier nur Patrick Henry, Thomas Jefferson, James Madison und George Washington von Virginien, und Jakob Otis, John Hancock, Josiah Quincy *) und John Adams von Massachusetts. Das Jahr 1775 war herangekommen, und das Blut der bei Lexington und Bunkersill gefallenen Freiheitskämpfer war noch nicht getrocknet, da saßen in Carpenters Hall zu Philadelphia, der Stadt der Bruderliebe, vier Männer, die von den Engländern bereits als Rebellen angesehen wurden, obschon die Unabhängigkeitserklärung noch nicht stattgefunden hatte. Das Zimmer, in welchem sie sich befanden, war bequem, aber schmucklos eingerichtet. Auf einem ein- fachen Tische stand eine einsame Lampe und erhellte mit ihrem matten Licht den engen Raum. Diese vier Männer waren ein Advokat aus Boston in Massachusetts, ein Buchdrucker aus Philadelphia, ein Arzt aus derselben Stadt und ein Pflanzer aus Virginien. Jener Mann mit den kühnen Augenbrauen und dem entschlossenen Blick ist John Adams aus Boston; ihm zur Seite sitzt Benjamin Rush, der ebenso besonnene wie thatkräftige Arzt und Patriot; ihm gegenüber hat Benjamin Franklin Platz genommen, den d'Alembert in der französi- schen Akademie zu Paris mit den berühmt gewordenen Worten be- grüßte: „ Eripuit coelo fulmen scemptrumque tyrannis “ ( dem Himmel entriß er den Blitz, den Tyrannen das Scepter ) ; vor Allem aber lenkt der Vierte unsern Blick auf sich durch seine hohe, würde- volle Gestalt, sein edles Wesen und sein ausdrucksvolles Gesicht. Dieser Mann ist Washington, George Washington von Mount Vernon in Virginien. Sie alle Vier waren Mitglieder des damals zu Philadelphia tagenden allgemeinen Kongresses. Jhre Unterhaltung war ernst und vorsichtig; Jeder schien Scheu zu haben, seine innersten Gedanken laut werden zu lassen. Die Konfiskation, der Galgen oder das Beil — das war bisher das Schicksal aller derer gewesen, die in kühnem Freiheitsdrang offenen Widerstand gegen die Majestät des Königs Georg III. von England gepredigt hatten. Sie sprachen von Bunkerhill, von Lexington, von dem tyrannischen britischen Ministe- rium und dem schwachen und herzlosen König. Da sagte Franklin: „ Wo- hin wird dieser Krieg uns noch führen? Streben wir nur nach einem Wechsel des Ministeriums? Oder — oder ringen wir nach vollstän- diger Freiheit und Unabhängigkeit?“ Tiefe Stille folgte diesen Worten. Durch die Bande des Blutes, der Religion und der Sprache mit England verbunden, schien der Gedanke einer völligen Trennung vom Mutterlande noch immer fast ein Verorechen zu sein. Ja, während ihre Städte von einer beutegierigen Soldateska in Brand gesteckt, ihre Mitbürger von feilen Söldlingen dahingemordet wurden, während hier der Pulverdampf noch über dem Schlachtfelde von Bunkerhill hing und dort das Blut der Jhrigen die Fluren von Lexington roth färbte, liebten diese Ko- lonisten noch immer den Namen von England, hatten sie noch immer eine heilige Scheu vor dem Worte „ Independence “ — „ Un- abhängigkeit “. Da ward Besuch bei ihnen angemeldet, und herein trat ein Mann von mittlerer Größe, in einem einfachen braunen Oberrock. Er schien am meisten mit Franklin bekannt zu sein. Er setzte sich an den Tisch, an dem die Andern saßen, und nahm Theil an dem Gespräch. Seine Brauen zogen sich zusammen und seine Augen flammten, als er in Worten der feurigsten Begeisterung und tief innersten Ueberzeugung die Gedanken seiner Seele aussprach. Washington, Rush, Adams und Franklin, sie Alle schwiegen und hörten staunend und bewundernd zu, wie der Fremde in ernster und überzeugender Weise von der Un- abhängigkeit Amerika's redete, wie er die große Zukunft der dreizehn Kolonien schilderte und die mächtige Republik des westlichen Con- tinents vorahnend in glühenden Farben ausmalte. Doch bald erhoben sie sich von ihren Sitzen; Washington und Rush ergriffen beide Hände des Redners und baten ihn mit vor Bewegung zitternder Stimme, die eben gehörten Jdeen in einem Buche niederzuschreiben, das, wie sie meinten, in allen Familien Amerika's gelesen werden und von allen Kanzeln widerhallen müßte. Und dieses Buch wurde geschrieben. Der einfache Mann aber in dem braunen Rock war — Thomas Paine, der Verfasser des „ Common Sense “, des „Gesunden Menschenverstandes“. Dies Buch erschien am 1. Januar 1776 und schlug zündend wie ein Blitz in die ohnehin schon überall aufgeregten Gemüther der Kolonisten. Das Wort „Unabhängigkeit“ hatte von nun an keine Schrecken mehr. Thomas Paine's „ Common Sense “ war der nothwendige Vorläufer von Thomas Jeffersons „ Declara- tion of Independence “, es enthielt zuerst die geschichtlichen Worte: „ The Free and Independent States of America “. Die nordamerikanischen Historiker Ramsay, Gordon und Lippard und viele Andere sind darüber einig, daß Thomas Paine durch die Publikation seines „ Common Sense “ am meisten zu der schnell folgenden Trennung der englischen Kolonien vom Mutterlande bei- getragen habe; den Werken dieser Schriftsteller ist auch großentheils die Schilderung der vorstehenden Scene in Carpenters Hall ent- nommen. Lassen wir jetzt noch eine kurze, quellenmäßige Lebens- beschreibung von Thomas Paine folgen. Thomas Paine wurde am 29. Januar 1737 zu Thetford in der Grafschaft Norfolk in England geboren. Sein Vater, Joseph Paine, war ein Schnürbrustmacher und Mitglied der Quäkersekte. Die Vermögensverhältnisse von Paine's Eltern waren nicht bedeutend, weßhalb er auch nur einen gewöhnlichen englischen Schulunterricht erhalten konnte. Jn seinem dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahre verließ er die Schule und lernte bei seinem Vater das Corsetmachen. Als er das sechszehnte Jahr vollendet hatte, ging er nach London, *) Josiah Quincy zählt zu den reinsten Patrioten und edelsten Geistern des nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges. Sein Testament enthielt folgende denkwürdige Worte: „Meinem Sohne vermache ich, sobald er fünfzehn Jahre alt ist, die Werke von Algernon Sidney, John Locke und Lord Bacon, Gordons Tacitus und Cato's Briefe. Möge der Geist der Freiheit auf ihm ruhen!“ Vergl. K. F. Neumann „Geschichte der Ver- einigten Staaten“. Bd. I. S. 168 ff.

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 9. Berlin, 1. März 1868, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt09_1868/7>, abgerufen am 23.07.2024.