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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 12. Lieferung, Nr. 4. Berlin, 26. Dezember 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 351
Reise nach Jkarien
von Cabet.
( Fortsetzung. ) [Beginn Spaltensatz]
Sechsunddreizigstes Kapitel.

Religion. *) ( Fortsetzung. )

Jch hatte Walmor schor öfter dringend ersucht mir Auf-
schlüsse über den religiösen Glauben in Jkarien zu geben. Er
hatte dies jedoch, ich weiß nicht wie es kam, immer ausgesetzt.
Eines Abends aber sand ich nebst Eugen Gelegenheit den jungen
Jkarier in den Gegenstand zu bringen; die Ueberredung wurde
äußerst interessant, wir sprachen zugleich über England und
Frankreich. Eugen hat übrigens das Gespräch in seinem Tage-
buche niedergeschrieben, da er ohnehin mehr als ich mitredete.
Jch kopire seinen Bericht.

Auszug aus Eugen's Tagebuch.
Jkarische Religionszustände.

Auf unsere Aufforderung sagte Walmor: Jch habe dir schon
erzählt, William, daß zwei Jahre nach der ikarischen Revo-
lution, in welcher Zeit sie natürlich bereits viel Gutes gewirkt
hatte, Jkar der Dictator durch die Volksvertreterschaft den Be-
schluß fassen ließ: es solle nunmehr ein großes Konzil sich ver-
sammeln, bestehend aus Priestern, welche von der übrigen
Priesterschaft, aus Professoren, welche von der übrigen Profes-
sorenschaft gewählt; aus Philosophen, Morallehrern, Schrift-
stellern und sonstigen Wissenschaftsmännern zusammen kommen,
auf dem somit die ausgezeichnetsten Talente und Kenntnisse sich
begegneten. Diese hohe Versammlung sollte über Religion die
allseitigen Ueberzeugungen austauschen. Die übrigen Bürger
fanden durch dieses sich in sofern mit vorgestellt, als es ihnen
frei stand, ihm einzelne Mittheilungen zu machen. Vier Jahre
lang wurde diskutirt und disputirt; alle Fragen wurden mit
starker Stimmenmehrheit, ja oft mit Einheit entschieden.

Jetzt versetzt euch in der Phantasie auf jenes gelehrte
Konzil; ihr könnt Alles sehen und hören, doch ohne dreinzu-
sprechen. Bemerkungen könnt ihr nachher machen. Man be-
ginnt wie folgt:

" Giebt es einen Gott, das heißt eine erste Ursache aus
der alles Daseiende als Wirkung herfließt?"

Man wird durch Aufstehen und Sitzenbleiben unterscheiden
lassen welcher Ansicht die Majorität huldige. Und siehe: Alle
stehen auf, d. h. Alle sind vom Dasein einer solchen ersten
Ursache überzeugt. Man macht die Gegenprobe mit Sitzen-
bleiben: und Keiner steht auf.

" Jst dieser Gott bekannt?" -- Einstimmig: Nein.

" Jst seine Form bekannt?" -- Einstimmig: Nein; denn
tausende von Völkern geben ihm tausend verschiedene Formen.

" Jst der Mensch nach seinem Ebenbilde erschaffen?" -- Wir
möchten es gern glauben, doch wissen wir nichts darüber.

" Glaubt das Konzil an die Offenbarung die Moses von
diesem Gotte in Menschengestalt empfangen zu haben sagt? --
Einstimmig: Nein.

[Spaltenumbruch]

Hier unterbrach der Engländer; doch bedeutete ihm der
junge Jkarier, das ganze glaube dies nicht und er könne später
die Gründe lesen.

" Glaubt man die Bibel sei Menschenwerk?" -- Einstim-
mig: Ja.

Hier fuhr William wieder auf, doch beschwichtigte ihn aber-
mals Walmor und verwies ihn auf die Gründe, die das Konzil
dafür gegeben und die er nachlesen möge.

" Glaubt das Konzil an das was die Bibel sagt?" -- Nein;
und es giebt keine Zaubergeschichten, keine Berichte von Ge-
spenstern, Feen, Hexen, Dämonen, die nicht beinahe eben so
glaublich sind.

" Glaubt das Konzil daß Christus Gott sei?" -- Antwort;
Die vielen tausend Religionen welche die Erde zählte und zählt,
sind allesammt menschliche Einrichtungen, gemacht um die
Völker zu beherrschen und zu lenken. Alle die Stifter der
Hauptreligionen: Confucius in China, Buddha in Japan und
Jndien, die Brahmanen in Jndien, Zoroaster in Persien,
Osires und Jsis in Aepyten, Jupiter und sein Hofstaat in Grie-
chenland, Minos in Kreta, Moses im jüdischen Lande, Pytha-
goras in Süditalien, Numa in Alt=Rom, Odin in Skandinavien,
Muhamed in Arabien, Manko Kapak in Alt=Peru, und noch
manche andre in andern Ländern und Epochen: sie alle waren
geniale Menschen, aber immer nur Menschen, Gesetzgeber, Civi-
lisatoren und Führer ihrer Nationen. Jesus Christus, verkannt
und verurtheilt von seinen Landsleuten; drei Jahrhunderte lang
von den Philosophen verschmäht, das will heißen von der
wissenschaftlichen, aufgeklärten damaligen Welt, ist gleichfalls
nichts weiter als ein Mensch, aber ein Mensch der wohl einen
hohen Rang in der Menschheit durch seine Hingebung für das
Glück des Menschengeschlechts, und durch seine Verkündigung
des Grundsatzes der Gleichheit, Brüderlichkeit und Gütergemein-
schaft verdient.

" Wie ist das Weltall, wie der Mensch entstanden?" -- Wir
wissen's nicht.

" Weßhalb ist der Mensch den geistigen und leiblichen Qualen
unterworfen?" -- Wir wissen's nicht.

" Soll man die Bibel als das Buch der Bücher anneh-
men?" -- Nein; in den Zeiten der Unwissenheit, des Bar-
barenthums konnte sie nützen, weil die übrigen Bücher noch
schlechter waren. Heute, im Gegentheil, enthält sie nur einige
gute Sittlichkeitsregeln, die man herausziehen mag; der Rest ist
völlig irrthümlich geworden, völlig abgeschmackt, sogar unziem-
lich und unanständig, unsittlich, folglich schädlich. Z. B. lehrt
sie, die Sonne drehe sich um den Erdball, und doch ist seitdem
klärlichst entdeckt und erwiesen, daß die Erde sich drehe. Gewiß
hatten einst, zu ihrer Zeit, Moses und Christus Recht; aber sie
behaupteten selber nicht, ihr Werk sei für alle Zukunft. Jetzt
daraus eine Regel für alle Völker und Epochen, für alle Bil-
dungszustände der Menschheit machen, ist ein empörender
Widerspruch, ist die greuelhafteste Verkehrtheit. *)

[Ende Spaltensatz]
*) Wir haben schon in einer der vorigen Nummern Gelegenheit
genommen, an Cabet's religiös=philosophische Ansicht die Kritik zu
legen. Wir bemerken nun heute noch einmal. daß jene von uns damals
gebrachte Kritik auch auf das nachstehende Capitel Anwendung findet,
worin Cabet in mehr als einer Beziehung ebenfalls nicht auf der Höhe
der Wissenschaft steht.
*) Dies dürste insofern nicht richtig sein, als Moses und Christus
und die übrigen Religionsgründer doch wohl für alle Ewigkeit zu bauen
meinten. Man lasse sich ja nicht durch einzelne Aussprüche derselben
binters Licht führen. Es scheint uns vielmehr wesentlich die Haupt-
eigenthümlichkeit jeder Religion zu sein, daß sie sich für die beste, einzig
wahre, folglich ewige ansieht.
Zur Unterhaltung und Belehrung. 351
Reise nach Jkarien
von Cabet.
( Fortsetzung. ) [Beginn Spaltensatz]
Sechsunddreizigstes Kapitel.

Religion. *) ( Fortsetzung. )

Jch hatte Walmor schor öfter dringend ersucht mir Auf-
schlüsse über den religiösen Glauben in Jkarien zu geben. Er
hatte dies jedoch, ich weiß nicht wie es kam, immer ausgesetzt.
Eines Abends aber sand ich nebst Eugen Gelegenheit den jungen
Jkarier in den Gegenstand zu bringen; die Ueberredung wurde
äußerst interessant, wir sprachen zugleich über England und
Frankreich. Eugen hat übrigens das Gespräch in seinem Tage-
buche niedergeschrieben, da er ohnehin mehr als ich mitredete.
Jch kopire seinen Bericht.

Auszug aus Eugen's Tagebuch.
Jkarische Religionszustände.

Auf unsere Aufforderung sagte Walmor: Jch habe dir schon
erzählt, William, daß zwei Jahre nach der ikarischen Revo-
lution, in welcher Zeit sie natürlich bereits viel Gutes gewirkt
hatte, Jkar der Dictator durch die Volksvertreterschaft den Be-
schluß fassen ließ: es solle nunmehr ein großes Konzil sich ver-
sammeln, bestehend aus Priestern, welche von der übrigen
Priesterschaft, aus Professoren, welche von der übrigen Profes-
sorenschaft gewählt; aus Philosophen, Morallehrern, Schrift-
stellern und sonstigen Wissenschaftsmännern zusammen kommen,
auf dem somit die ausgezeichnetsten Talente und Kenntnisse sich
begegneten. Diese hohe Versammlung sollte über Religion die
allseitigen Ueberzeugungen austauschen. Die übrigen Bürger
fanden durch dieses sich in sofern mit vorgestellt, als es ihnen
frei stand, ihm einzelne Mittheilungen zu machen. Vier Jahre
lang wurde diskutirt und disputirt; alle Fragen wurden mit
starker Stimmenmehrheit, ja oft mit Einheit entschieden.

Jetzt versetzt euch in der Phantasie auf jenes gelehrte
Konzil; ihr könnt Alles sehen und hören, doch ohne dreinzu-
sprechen. Bemerkungen könnt ihr nachher machen. Man be-
ginnt wie folgt:

„ Giebt es einen Gott, das heißt eine erste Ursache aus
der alles Daseiende als Wirkung herfließt?“

Man wird durch Aufstehen und Sitzenbleiben unterscheiden
lassen welcher Ansicht die Majorität huldige. Und siehe: Alle
stehen auf, d. h. Alle sind vom Dasein einer solchen ersten
Ursache überzeugt. Man macht die Gegenprobe mit Sitzen-
bleiben: und Keiner steht auf.

„ Jst dieser Gott bekannt?“ — Einstimmig: Nein.

„ Jst seine Form bekannt?“ — Einstimmig: Nein; denn
tausende von Völkern geben ihm tausend verschiedene Formen.

„ Jst der Mensch nach seinem Ebenbilde erschaffen?“ — Wir
möchten es gern glauben, doch wissen wir nichts darüber.

„ Glaubt das Konzil an die Offenbarung die Moses von
diesem Gotte in Menschengestalt empfangen zu haben sagt? —
Einstimmig: Nein.

[Spaltenumbruch]

Hier unterbrach der Engländer; doch bedeutete ihm der
junge Jkarier, das ganze glaube dies nicht und er könne später
die Gründe lesen.

„ Glaubt man die Bibel sei Menschenwerk?“ — Einstim-
mig: Ja.

Hier fuhr William wieder auf, doch beschwichtigte ihn aber-
mals Walmor und verwies ihn auf die Gründe, die das Konzil
dafür gegeben und die er nachlesen möge.

„ Glaubt das Konzil an das was die Bibel sagt?“ — Nein;
und es giebt keine Zaubergeschichten, keine Berichte von Ge-
spenstern, Feen, Hexen, Dämonen, die nicht beinahe eben so
glaublich sind.

„ Glaubt das Konzil daß Christus Gott sei?“ — Antwort;
Die vielen tausend Religionen welche die Erde zählte und zählt,
sind allesammt menschliche Einrichtungen, gemacht um die
Völker zu beherrschen und zu lenken. Alle die Stifter der
Hauptreligionen: Confucius in China, Buddha in Japan und
Jndien, die Brahmanen in Jndien, Zoroaster in Persien,
Osires und Jsis in Aepyten, Jupiter und sein Hofstaat in Grie-
chenland, Minos in Kreta, Moses im jüdischen Lande, Pytha-
goras in Süditalien, Numa in Alt=Rom, Odin in Skandinavien,
Muhamed in Arabien, Manko Kapak in Alt=Peru, und noch
manche andre in andern Ländern und Epochen: sie alle waren
geniale Menschen, aber immer nur Menschen, Gesetzgeber, Civi-
lisatoren und Führer ihrer Nationen. Jesus Christus, verkannt
und verurtheilt von seinen Landsleuten; drei Jahrhunderte lang
von den Philosophen verschmäht, das will heißen von der
wissenschaftlichen, aufgeklärten damaligen Welt, ist gleichfalls
nichts weiter als ein Mensch, aber ein Mensch der wohl einen
hohen Rang in der Menschheit durch seine Hingebung für das
Glück des Menschengeschlechts, und durch seine Verkündigung
des Grundsatzes der Gleichheit, Brüderlichkeit und Gütergemein-
schaft verdient.

„ Wie ist das Weltall, wie der Mensch entstanden?“ — Wir
wissen's nicht.

„ Weßhalb ist der Mensch den geistigen und leiblichen Qualen
unterworfen?“ — Wir wissen's nicht.

„ Soll man die Bibel als das Buch der Bücher anneh-
men?“ — Nein; in den Zeiten der Unwissenheit, des Bar-
barenthums konnte sie nützen, weil die übrigen Bücher noch
schlechter waren. Heute, im Gegentheil, enthält sie nur einige
gute Sittlichkeitsregeln, die man herausziehen mag; der Rest ist
völlig irrthümlich geworden, völlig abgeschmackt, sogar unziem-
lich und unanständig, unsittlich, folglich schädlich. Z. B. lehrt
sie, die Sonne drehe sich um den Erdball, und doch ist seitdem
klärlichst entdeckt und erwiesen, daß die Erde sich drehe. Gewiß
hatten einst, zu ihrer Zeit, Moses und Christus Recht; aber sie
behaupteten selber nicht, ihr Werk sei für alle Zukunft. Jetzt
daraus eine Regel für alle Völker und Epochen, für alle Bil-
dungszustände der Menschheit machen, ist ein empörender
Widerspruch, ist die greuelhafteste Verkehrtheit. *)

[Ende Spaltensatz]
*) Wir haben schon in einer der vorigen Nummern Gelegenheit
genommen, an Cabet's religiös=philosophische Ansicht die Kritik zu
legen. Wir bemerken nun heute noch einmal. daß jene von uns damals
gebrachte Kritik auch auf das nachstehende Capitel Anwendung findet,
worin Cabet in mehr als einer Beziehung ebenfalls nicht auf der Höhe
der Wissenschaft steht.
*) Dies dürste insofern nicht richtig sein, als Moses und Christus
und die übrigen Religionsgründer doch wohl für alle Ewigkeit zu bauen
meinten. Man lasse sich ja nicht durch einzelne Aussprüche derselben
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eigenthümlichkeit jeder Religion zu sein, daß sie sich für die beste, einzig
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( Fortsetzung. )<note type="editorial">Die Ausgabe, die die unmittelbar vorhergehende Fortsetzung enthält, fehlt. Ein früherer Fortsetzungsteil ist in <ref target="nn_social1201_1874#Reise13">Ausgabe 1 der 12. Lieferung</ref> enthalten.</note></head>
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Heute, im Gegentheil, enthält sie nur einige gute Sittlichkeitsregeln, die man herausziehen mag; der Rest ist völlig irrthümlich geworden, völlig abgeschmackt, sogar unziem- lich und unanständig, unsittlich, folglich schädlich. Z. B. lehrt sie, die Sonne drehe sich um den Erdball, und doch ist seitdem klärlichst entdeckt und erwiesen, daß die Erde sich drehe. Gewiß hatten einst, zu ihrer Zeit, Moses und Christus Recht; aber sie behaupteten selber nicht, ihr Werk sei für alle Zukunft. Jetzt daraus eine Regel für alle Völker und Epochen, für alle Bil- dungszustände der Menschheit machen, ist ein empörender Widerspruch, ist die greuelhafteste Verkehrtheit. *) *) Wir haben schon in einer der vorigen Nummern Gelegenheit genommen, an Cabet's religiös=philosophische Ansicht die Kritik zu legen. 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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 12. Lieferung, Nr. 4. Berlin, 26. Dezember 1874, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social1204_1874/3>, abgerufen am 21.11.2024.