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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 11. Lieferung, Nr. 1. Berlin, 7. November 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 298
[Beginn Spaltensatz] jedes Privathaus. Man begeht jährlich seinen Geburtstag.
Früher hatte man die beiden Revolutionstage durch zwei Feste
gefeiert, das eine für die Märlyrer der Freiheit und das andere
dem Andenken des Sieges geweiht; jetzt dekretirte die Volks-
versammlung, es solle fortan ein drittes Fest zu Ehren der Dicta-
tur, dem sich Jkar aus Bescheidenheit stets widersetzt hatte, hin-
zugefügt werden. Ferner ward beschlossen, die Nation werde
den alten Namen verlassen und sich nunmehr die ikarische nennen.

[Spaltenumbruch]

Es darf gerade nicht wundern, daß nicht Wenige nach sei-
nem Tode behaupteten, er wäre ein zweiter Christus und im
vollsten Ernste ihn als einen Gott zu verehren vorschlugen.
Glücklick erweise war dies nicht die Meinung der Mehrheit des
Volkes, und man begnügte sich, Jkar als einen hohen Genius,
der unendlich die Menschheit in ihrem Fortschritt gefördert, anzu-
erkennen.

[Ende Spaltensatz]

( Fortsetzung folgt ) .



[Beginn Spaltensatz]
Das Schulwesen im Mittelalter.

Unsere heidnischen Vorfahren kannten noch keine Schulen,
sie konnten daher weder lesen noch schreiben. Erst mit dem
Christenthum wurde diese Kunst in Deutschland eingeführt, doch
beschränkte sie sich noch Jahrhunderte hindurch lediglich auf die
Klöster, weshalb man sie ars clericalis nannte. Ausnahms-
weise waren auch einzelne Fürsten dieser Kunst mächtig. So
wissen wir z. B. von Karl dem Großen, daß er noch in seinen
späteren Lebensjahren sich abmühte, lesen und schreiben zu
lernen.

Zunächst waren es seit dem Anfange des 13. Jahrhunderts
die Bettelmönche und später die Benedictiner, welche sich mit
dem Unterrichtswesen beschäftigten und durch Aufnahme von
Söhnen adeliger Familien, die sich gleichfalls dem geistlichen
Stande widmen wollten, das Schulwesen anbahnten. Das in
den Klöstern angezündete kleine Licht verbreitete sich aber immer
weiter und warf seine wohlthuenden Strahlen namentlich auf
die durch Gewerbefleiß immer wohlhabender werdenden Städte,
wo das Bedürfniß nach geistiger Ausbildung, wenigstens die
Schreib = und Lesekunst zu erlernen, am frühesten gesühlt und
immer größer wurde.

Aus diesem Bedürfniß entsprangen außer den Lehranstalten
der Benedictiner hie und da auch andere Privatschulen, die wir
am passendsten mit dem Ausdrucke "fliegende oder ambulante
Schulen" bezeichnen können, weil die Unternehmer derselben von
einer Stadt zur andern wanderten. Es waren dies die " Brü-
der vom gemeinsamen Leben," auch Hieronymianer genannt.
Obgleich nun diese "fliegenden Schulen" später einen etwas
festeren Halt gewannen, so war ihnen doch ihr ursprünglicher
Charakter geblieben, nur mit dem Unterschiede, daß nicht mehr
die Lehrer, sondern die Schüler von einer Stadt und Schule
zur andern wanderten.

Dieser Umstand war aber nicht durch die Nothwendigkeit
geboten, sondern hatte seinen Grund lediglich in der Abenteuer-
sucht jener Zeit und in der bekannten Wanderlust des deutschen
Volkes, welches in den damaligen unzähligen Landstreichern,
armen fahrenden Rittern, Bettlern, Handwerksgesellen, Studen-
ten und Schülern. die schaarenweise das Land von einem bis
zum andern Ende durchschwärmten, seine Sturmvögel ausgesendet
zu haben schien, welche das im Anzuge befindliche Wetter der
Reformation instinctiv ahnten und nach dem Ausbruche desselben
die an der Schloßkirche zu Wittenberg vernommenen Donner-
schläge aller Welt in Worten und Liedern verkündeten.

Jn dem Reize, den dieses Wanderleben hatte, ist auch wohl
großentheils der Grund für die Thatsache zu suchen, daß die
Schüler, wenigstens diejenigen, welche sich ausschließlich dem
Studium widmen wollten, in der Regel über dreißig Jahre alt
wurden, bevor sie die Universität bezogen.

Hatte sich im Anfange des Mittelalters nur der Adel und
das Patriciat des Schreibens und Lesens befleißigt, so waren es
am Ausgange jenes Zeitraums fost nur die ärmeren Knaben,
die eine Schule besuchten, Waisenknaben, für welche sonst Nie-
mand sorgte. Die Schulen waren verachtet, und um so mehr,
je tiefer der geistliche Stand, aus dem sie hervorgegangen, ge-
sunken war. Nur wer nichts Besseres werden zu können glaubte,
oder schon in früher Jugend, weil er sich dem Dienste der Kirche
widmen wollte, genöthigt war, in die Schule zu gehen, mußte
sich dazu bequemen. Wie hätte das auch anders sein können?
Der Scholastikus, der eigentliche Vorsteher der Schule, war
[Spaltenumbruch] meistens irgend ein angesehener Geistlicher, der allein die Ein-
künfte derselben bezog. Gewöhnlich hielt er sich einen Vicarius,
den er besoldete und welcher Rector scholae ( Schulmeister )
genannt wurde. Dieser wiederum hielt sich Schulgesellen,
( locati, weil sie gedungen waren ) , welche theils von den Frei-
tischen, bei den Bürgern, theils von ihrem Nebenamte als Platz-
meister und Vorschneider auf Hochzeiten und Kindtaufen, theils
von dem lebten, was sie sich mit den Schülern auf den Straßen
und in den Kirchen ersangen, wobei natürlich das Schulhalten
die Nebensache blieb. Ein Theil der Schüler hatte ebenfalls
Freitische; da die Schulgesellen ihnen aber die besten vorweg
nahmen, blieb für sie nicht viel übrig. Deswegen hielt sich jeder
der älteren Schüler, welche Bacchanten ( vacantini, Müssig-
gänger ) genannt wurden, einige jüngere Schüler, deren Aufgabe
es war, sie zu ernähren. Dies geschah durch Singen, Betteln
und Stehlen. Aber Alles, was die Mildthätigkeit ihnen gereicht,
oder ihre diebische Hand genommen hatte, mußten sie ihren
Bacchanten sorgfältig einhändigen, denn es erging ihnen traurig,
wenn sie sich erlaubten, von denen ihnen gereichten Lebensmitteln
auch nur zu kosten; denn wenn sich fand, daß die Schützen ( so
hießen die jüngeren Schüler, von dem Ausdrucke "schießen" für
"stehlen" ) auch nur genascht hatten, so gab es unmenschliche Prü-
gel. Ein weggejagter Schütze wurde von keinem Bacchanten wie-
der angenommen, ein entlaufener wieder zurückgeliefert, denn
durch das ewige Hin= und Herwandern standen sie, wie die
Handwerksburschen, mit einander in steter Verbindung; ein ent-
laufener Schütze konnte daher leicht wieder erkannt und aufge-
funden werden. Solche Schützen, welche das Betteln ganz vor-
züglich verstanden, brachten ihrem Bacchanten so viel ein, daß er
bequem leben konnte, und sie wurden nicht selten gegen die Zu-
sicherung bedeutender Vortheile vertauscht.

Zogen die Bacchanten von einer Schule ab, so mußten die
Schützen mit ihnen ziehen und unterwegs für sie betteln, singen
und stehlen. Wurde dann, wie das sehr häufig geschah, einer
Gänseheerde der Krieg erklärt, so halfen die Bacchanten mit,
oder lieferten den nachsetzenden Bauern Gefechte. Unter dem
Volke waren sie als "fahrende Schüler" bekannt, die, wenn sie
vereinzelt reisten oder sich auf den Dörfern zerstreuten, unter den
Landleuten allerlei muthwillige Künste trieben und ihnen das
Geld ablockten durch Schatzgräbereien, Wahrsagungen, durch den
Verkauf von Amuleten, durch Mummenschanz und Hanswurstia-
den. Deswegen wurden sie auch mit dem Namen histriones
( Schauspieler ) bezeichnet, denn wie in Frankreich die Jongleurs,
so bildeten in Deutschland die Bacchanten die ersten Schauspie-
lerbanden. Sie machten die Straßen und Dörfer nicht minder
unsicher, als die ( zuerst 1415 ) auftauchenden Zigeunerbanden,
zumal es ihnen als angehenden Studenten erlaubt war, einen
Degen zu tragen.

Der Gegendienst, welchen die Bacchanten den Schützen für
ihre Bemühungen leisteten, bestand darin, daß sie dieselben alle
Tage eine halbe Stunde im Lesen und Schreiben unterrichteten.
Die Schützen selbst, meistens Knaben von 10 bis 18 Jahren,
besuchten die Schule noch gar nicht. Dies geschah erst dann,
wenn sie selbst zu Bacchanten erklärt waren. Jm Winter schlie-
fen sie auf den Böden des Schulhanses auf Stroh, im Sommer,
weil sie es daselbst vor Ungeziefer nicht aushalten konnten, auf
den Kirchhöfen, welche sich damals bekanntlich mitten in den
Städten, neben den Kirchen befanden. Die Bacchanten wohnten
theils auf kleinen Kammern des Schulhauses, theils in kleinen
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 298
[Beginn Spaltensatz] jedes Privathaus. Man begeht jährlich seinen Geburtstag.
Früher hatte man die beiden Revolutionstage durch zwei Feste
gefeiert, das eine für die Märlyrer der Freiheit und das andere
dem Andenken des Sieges geweiht; jetzt dekretirte die Volks-
versammlung, es solle fortan ein drittes Fest zu Ehren der Dicta-
tur, dem sich Jkar aus Bescheidenheit stets widersetzt hatte, hin-
zugefügt werden. Ferner ward beschlossen, die Nation werde
den alten Namen verlassen und sich nunmehr die ikarische nennen.

[Spaltenumbruch]

Es darf gerade nicht wundern, daß nicht Wenige nach sei-
nem Tode behaupteten, er wäre ein zweiter Christus und im
vollsten Ernste ihn als einen Gott zu verehren vorschlugen.
Glücklick erweise war dies nicht die Meinung der Mehrheit des
Volkes, und man begnügte sich, Jkar als einen hohen Genius,
der unendlich die Menschheit in ihrem Fortschritt gefördert, anzu-
erkennen.

[Ende Spaltensatz]

( Fortsetzung folgt ) .



[Beginn Spaltensatz]
Das Schulwesen im Mittelalter.

Unsere heidnischen Vorfahren kannten noch keine Schulen,
sie konnten daher weder lesen noch schreiben. Erst mit dem
Christenthum wurde diese Kunst in Deutschland eingeführt, doch
beschränkte sie sich noch Jahrhunderte hindurch lediglich auf die
Klöster, weshalb man sie ars clericalis nannte. Ausnahms-
weise waren auch einzelne Fürsten dieser Kunst mächtig. So
wissen wir z. B. von Karl dem Großen, daß er noch in seinen
späteren Lebensjahren sich abmühte, lesen und schreiben zu
lernen.

Zunächst waren es seit dem Anfange des 13. Jahrhunderts
die Bettelmönche und später die Benedictiner, welche sich mit
dem Unterrichtswesen beschäftigten und durch Aufnahme von
Söhnen adeliger Familien, die sich gleichfalls dem geistlichen
Stande widmen wollten, das Schulwesen anbahnten. Das in
den Klöstern angezündete kleine Licht verbreitete sich aber immer
weiter und warf seine wohlthuenden Strahlen namentlich auf
die durch Gewerbefleiß immer wohlhabender werdenden Städte,
wo das Bedürfniß nach geistiger Ausbildung, wenigstens die
Schreib = und Lesekunst zu erlernen, am frühesten gesühlt und
immer größer wurde.

Aus diesem Bedürfniß entsprangen außer den Lehranstalten
der Benedictiner hie und da auch andere Privatschulen, die wir
am passendsten mit dem Ausdrucke „fliegende oder ambulante
Schulen“ bezeichnen können, weil die Unternehmer derselben von
einer Stadt zur andern wanderten. Es waren dies die „ Brü-
der vom gemeinsamen Leben,“ auch Hieronymianer genannt.
Obgleich nun diese „fliegenden Schulen“ später einen etwas
festeren Halt gewannen, so war ihnen doch ihr ursprünglicher
Charakter geblieben, nur mit dem Unterschiede, daß nicht mehr
die Lehrer, sondern die Schüler von einer Stadt und Schule
zur andern wanderten.

Dieser Umstand war aber nicht durch die Nothwendigkeit
geboten, sondern hatte seinen Grund lediglich in der Abenteuer-
sucht jener Zeit und in der bekannten Wanderlust des deutschen
Volkes, welches in den damaligen unzähligen Landstreichern,
armen fahrenden Rittern, Bettlern, Handwerksgesellen, Studen-
ten und Schülern. die schaarenweise das Land von einem bis
zum andern Ende durchschwärmten, seine Sturmvögel ausgesendet
zu haben schien, welche das im Anzuge befindliche Wetter der
Reformation instinctiv ahnten und nach dem Ausbruche desselben
die an der Schloßkirche zu Wittenberg vernommenen Donner-
schläge aller Welt in Worten und Liedern verkündeten.

Jn dem Reize, den dieses Wanderleben hatte, ist auch wohl
großentheils der Grund für die Thatsache zu suchen, daß die
Schüler, wenigstens diejenigen, welche sich ausschließlich dem
Studium widmen wollten, in der Regel über dreißig Jahre alt
wurden, bevor sie die Universität bezogen.

Hatte sich im Anfange des Mittelalters nur der Adel und
das Patriciat des Schreibens und Lesens befleißigt, so waren es
am Ausgange jenes Zeitraums fost nur die ärmeren Knaben,
die eine Schule besuchten, Waisenknaben, für welche sonst Nie-
mand sorgte. Die Schulen waren verachtet, und um so mehr,
je tiefer der geistliche Stand, aus dem sie hervorgegangen, ge-
sunken war. Nur wer nichts Besseres werden zu können glaubte,
oder schon in früher Jugend, weil er sich dem Dienste der Kirche
widmen wollte, genöthigt war, in die Schule zu gehen, mußte
sich dazu bequemen. Wie hätte das auch anders sein können?
Der Scholastikus, der eigentliche Vorsteher der Schule, war
[Spaltenumbruch] meistens irgend ein angesehener Geistlicher, der allein die Ein-
künfte derselben bezog. Gewöhnlich hielt er sich einen Vicarius,
den er besoldete und welcher Rector scholae ( Schulmeister )
genannt wurde. Dieser wiederum hielt sich Schulgesellen,
( locati, weil sie gedungen waren ) , welche theils von den Frei-
tischen, bei den Bürgern, theils von ihrem Nebenamte als Platz-
meister und Vorschneider auf Hochzeiten und Kindtaufen, theils
von dem lebten, was sie sich mit den Schülern auf den Straßen
und in den Kirchen ersangen, wobei natürlich das Schulhalten
die Nebensache blieb. Ein Theil der Schüler hatte ebenfalls
Freitische; da die Schulgesellen ihnen aber die besten vorweg
nahmen, blieb für sie nicht viel übrig. Deswegen hielt sich jeder
der älteren Schüler, welche Bacchanten ( vacantini, Müssig-
gänger ) genannt wurden, einige jüngere Schüler, deren Aufgabe
es war, sie zu ernähren. Dies geschah durch Singen, Betteln
und Stehlen. Aber Alles, was die Mildthätigkeit ihnen gereicht,
oder ihre diebische Hand genommen hatte, mußten sie ihren
Bacchanten sorgfältig einhändigen, denn es erging ihnen traurig,
wenn sie sich erlaubten, von denen ihnen gereichten Lebensmitteln
auch nur zu kosten; denn wenn sich fand, daß die Schützen ( so
hießen die jüngeren Schüler, von dem Ausdrucke „schießen“ für
„stehlen“ ) auch nur genascht hatten, so gab es unmenschliche Prü-
gel. Ein weggejagter Schütze wurde von keinem Bacchanten wie-
der angenommen, ein entlaufener wieder zurückgeliefert, denn
durch das ewige Hin= und Herwandern standen sie, wie die
Handwerksburschen, mit einander in steter Verbindung; ein ent-
laufener Schütze konnte daher leicht wieder erkannt und aufge-
funden werden. Solche Schützen, welche das Betteln ganz vor-
züglich verstanden, brachten ihrem Bacchanten so viel ein, daß er
bequem leben konnte, und sie wurden nicht selten gegen die Zu-
sicherung bedeutender Vortheile vertauscht.

Zogen die Bacchanten von einer Schule ab, so mußten die
Schützen mit ihnen ziehen und unterwegs für sie betteln, singen
und stehlen. Wurde dann, wie das sehr häufig geschah, einer
Gänseheerde der Krieg erklärt, so halfen die Bacchanten mit,
oder lieferten den nachsetzenden Bauern Gefechte. Unter dem
Volke waren sie als „fahrende Schüler“ bekannt, die, wenn sie
vereinzelt reisten oder sich auf den Dörfern zerstreuten, unter den
Landleuten allerlei muthwillige Künste trieben und ihnen das
Geld ablockten durch Schatzgräbereien, Wahrsagungen, durch den
Verkauf von Amuleten, durch Mummenschanz und Hanswurstia-
den. Deswegen wurden sie auch mit dem Namen histriones
( Schauspieler ) bezeichnet, denn wie in Frankreich die Jongleurs,
so bildeten in Deutschland die Bacchanten die ersten Schauspie-
lerbanden. Sie machten die Straßen und Dörfer nicht minder
unsicher, als die ( zuerst 1415 ) auftauchenden Zigeunerbanden,
zumal es ihnen als angehenden Studenten erlaubt war, einen
Degen zu tragen.

Der Gegendienst, welchen die Bacchanten den Schützen für
ihre Bemühungen leisteten, bestand darin, daß sie dieselben alle
Tage eine halbe Stunde im Lesen und Schreiben unterrichteten.
Die Schützen selbst, meistens Knaben von 10 bis 18 Jahren,
besuchten die Schule noch gar nicht. Dies geschah erst dann,
wenn sie selbst zu Bacchanten erklärt waren. Jm Winter schlie-
fen sie auf den Böden des Schulhanses auf Stroh, im Sommer,
weil sie es daselbst vor Ungeziefer nicht aushalten konnten, auf
den Kirchhöfen, welche sich damals bekanntlich mitten in den
Städten, neben den Kirchen befanden. Die Bacchanten wohnten
theils auf kleinen Kammern des Schulhauses, theils in kleinen
[Ende Spaltensatz]

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Unsere heidnischen Vorfahren kannten noch keine Schulen, sie konnten daher weder lesen noch schreiben. Erst mit dem Christenthum wurde diese Kunst in Deutschland eingeführt, doch beschränkte sie sich noch Jahrhunderte hindurch lediglich auf die Klöster, weshalb man sie ars clericalis nannte. Ausnahms- weise waren auch einzelne Fürsten dieser Kunst mächtig. So wissen wir z. B. von Karl dem Großen, daß er noch in seinen späteren Lebensjahren sich abmühte, lesen und schreiben zu lernen. Zunächst waren es seit dem Anfange des 13. Jahrhunderts die Bettelmönche und später die Benedictiner, welche sich mit dem Unterrichtswesen beschäftigten und durch Aufnahme von Söhnen adeliger Familien, die sich gleichfalls dem geistlichen Stande widmen wollten, das Schulwesen anbahnten. Das in den Klöstern angezündete kleine Licht verbreitete sich aber immer weiter und warf seine wohlthuenden Strahlen namentlich auf die durch Gewerbefleiß immer wohlhabender werdenden Städte, wo das Bedürfniß nach geistiger Ausbildung, wenigstens die Schreib = und Lesekunst zu erlernen, am frühesten gesühlt und immer größer wurde. Aus diesem Bedürfniß entsprangen außer den Lehranstalten der Benedictiner hie und da auch andere Privatschulen, die wir am passendsten mit dem Ausdrucke „fliegende oder ambulante Schulen“ bezeichnen können, weil die Unternehmer derselben von einer Stadt zur andern wanderten. Es waren dies die „ Brü- der vom gemeinsamen Leben,“ auch Hieronymianer genannt. Obgleich nun diese „fliegenden Schulen“ später einen etwas festeren Halt gewannen, so war ihnen doch ihr ursprünglicher Charakter geblieben, nur mit dem Unterschiede, daß nicht mehr die Lehrer, sondern die Schüler von einer Stadt und Schule zur andern wanderten. Dieser Umstand war aber nicht durch die Nothwendigkeit geboten, sondern hatte seinen Grund lediglich in der Abenteuer- sucht jener Zeit und in der bekannten Wanderlust des deutschen Volkes, welches in den damaligen unzähligen Landstreichern, armen fahrenden Rittern, Bettlern, Handwerksgesellen, Studen- ten und Schülern. die schaarenweise das Land von einem bis zum andern Ende durchschwärmten, seine Sturmvögel ausgesendet zu haben schien, welche das im Anzuge befindliche Wetter der Reformation instinctiv ahnten und nach dem Ausbruche desselben die an der Schloßkirche zu Wittenberg vernommenen Donner- schläge aller Welt in Worten und Liedern verkündeten. Jn dem Reize, den dieses Wanderleben hatte, ist auch wohl großentheils der Grund für die Thatsache zu suchen, daß die Schüler, wenigstens diejenigen, welche sich ausschließlich dem Studium widmen wollten, in der Regel über dreißig Jahre alt wurden, bevor sie die Universität bezogen. Hatte sich im Anfange des Mittelalters nur der Adel und das Patriciat des Schreibens und Lesens befleißigt, so waren es am Ausgange jenes Zeitraums fost nur die ärmeren Knaben, die eine Schule besuchten, Waisenknaben, für welche sonst Nie- mand sorgte. Die Schulen waren verachtet, und um so mehr, je tiefer der geistliche Stand, aus dem sie hervorgegangen, ge- sunken war. Nur wer nichts Besseres werden zu können glaubte, oder schon in früher Jugend, weil er sich dem Dienste der Kirche widmen wollte, genöthigt war, in die Schule zu gehen, mußte sich dazu bequemen. Wie hätte das auch anders sein können? Der Scholastikus, der eigentliche Vorsteher der Schule, war meistens irgend ein angesehener Geistlicher, der allein die Ein- künfte derselben bezog. Gewöhnlich hielt er sich einen Vicarius, den er besoldete und welcher Rector scholae ( Schulmeister ) genannt wurde. Dieser wiederum hielt sich Schulgesellen, ( locati, weil sie gedungen waren ) , welche theils von den Frei- tischen, bei den Bürgern, theils von ihrem Nebenamte als Platz- meister und Vorschneider auf Hochzeiten und Kindtaufen, theils von dem lebten, was sie sich mit den Schülern auf den Straßen und in den Kirchen ersangen, wobei natürlich das Schulhalten die Nebensache blieb. Ein Theil der Schüler hatte ebenfalls Freitische; da die Schulgesellen ihnen aber die besten vorweg nahmen, blieb für sie nicht viel übrig. Deswegen hielt sich jeder der älteren Schüler, welche Bacchanten ( vacantini, Müssig- gänger ) genannt wurden, einige jüngere Schüler, deren Aufgabe es war, sie zu ernähren. Dies geschah durch Singen, Betteln und Stehlen. Aber Alles, was die Mildthätigkeit ihnen gereicht, oder ihre diebische Hand genommen hatte, mußten sie ihren Bacchanten sorgfältig einhändigen, denn es erging ihnen traurig, wenn sie sich erlaubten, von denen ihnen gereichten Lebensmitteln auch nur zu kosten; denn wenn sich fand, daß die Schützen ( so hießen die jüngeren Schüler, von dem Ausdrucke „schießen“ für „stehlen“ ) auch nur genascht hatten, so gab es unmenschliche Prü- gel. Ein weggejagter Schütze wurde von keinem Bacchanten wie- der angenommen, ein entlaufener wieder zurückgeliefert, denn durch das ewige Hin= und Herwandern standen sie, wie die Handwerksburschen, mit einander in steter Verbindung; ein ent- laufener Schütze konnte daher leicht wieder erkannt und aufge- funden werden. Solche Schützen, welche das Betteln ganz vor- züglich verstanden, brachten ihrem Bacchanten so viel ein, daß er bequem leben konnte, und sie wurden nicht selten gegen die Zu- sicherung bedeutender Vortheile vertauscht. Zogen die Bacchanten von einer Schule ab, so mußten die Schützen mit ihnen ziehen und unterwegs für sie betteln, singen und stehlen. Wurde dann, wie das sehr häufig geschah, einer Gänseheerde der Krieg erklärt, so halfen die Bacchanten mit, oder lieferten den nachsetzenden Bauern Gefechte. Unter dem Volke waren sie als „fahrende Schüler“ bekannt, die, wenn sie vereinzelt reisten oder sich auf den Dörfern zerstreuten, unter den Landleuten allerlei muthwillige Künste trieben und ihnen das Geld ablockten durch Schatzgräbereien, Wahrsagungen, durch den Verkauf von Amuleten, durch Mummenschanz und Hanswurstia- den. Deswegen wurden sie auch mit dem Namen histriones ( Schauspieler ) bezeichnet, denn wie in Frankreich die Jongleurs, so bildeten in Deutschland die Bacchanten die ersten Schauspie- lerbanden. Sie machten die Straßen und Dörfer nicht minder unsicher, als die ( zuerst 1415 ) auftauchenden Zigeunerbanden, zumal es ihnen als angehenden Studenten erlaubt war, einen Degen zu tragen. Der Gegendienst, welchen die Bacchanten den Schützen für ihre Bemühungen leisteten, bestand darin, daß sie dieselben alle Tage eine halbe Stunde im Lesen und Schreiben unterrichteten. Die Schützen selbst, meistens Knaben von 10 bis 18 Jahren, besuchten die Schule noch gar nicht. Dies geschah erst dann, wenn sie selbst zu Bacchanten erklärt waren. Jm Winter schlie- fen sie auf den Böden des Schulhanses auf Stroh, im Sommer, weil sie es daselbst vor Ungeziefer nicht aushalten konnten, auf den Kirchhöfen, welche sich damals bekanntlich mitten in den Städten, neben den Kirchen befanden. Die Bacchanten wohnten theils auf kleinen Kammern des Schulhauses, theils in kleinen

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 11. Lieferung, Nr. 1. Berlin, 7. November 1874, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social1101_1874/6>, abgerufen am 27.11.2024.