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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 9. Lieferung, Nr. 1. Berlin, 5. September 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 225
[Beginn Spaltensatz] sie ihn; aber das ist nun vorbei. Walmor war auch schüchtern
und wollte zu keiner Seele von seiner Leidenschaft sprechen. --
William, Sie sind bald auf unserer Hochzeit, und ich erküre Sie
hiermit feierlich zu meinem dienenden Ritter für den Hochzeits-
tag; da haben Sie den Ritterschlag! setzte das liebliche Mädchen
schalkhaft lächelnd hinzu, indem sie mir mit dem Handschuh auf
den Arm schlug.

Jch wußte nicht recht, was ich antworten sollte. Jch frug,
ob sie mir nichts mehr anzuzeigen habe?

-- Nein, nichts, rein gar nichts. -- So? -- Nein, sage
ich; was wollen Sie denn noch wissen?

-- Korilla, Sie schweigen von ihrer eigenen Hochzeit. --

-- Wie so? die Mutter hat Jhnen gesagt, daß --

-- Nicht doch, nichts hat sie gesagt.

-- Gehen Sie!

-- Jch sage, sie hat nichts gesagt. --

-- O diese Heirath wird mich glücklich machen; er ist ein
edler, herrlicher Mensch; in zwei Monaten ist er hier; er wird
Jhnen gefallen. Er schrieb meinem Vater heute früh, er sei
schon Jhr Freund, so sehr entzückte ihn unsere Beschreibung. Er
wird ein liebender Gatte, ich ein glückliches Weib.

-- Korilla, was würde ich werden, wenn ich Sie liebte?

-- Sie? mich? lachte sie aus vollem Halse; oh das wäre
rührend, bester William; was möchte Jhre arme, liebenswürdige
Miß Henriette sagen! der haben Sie ja in zehn Monaten die
Ehe gelobt. Und sie lachte wieder.

Dieser Frohsinn befremdete mich, und ich sagte leise und
düster: "Sie scheinen zu scherzen, Korilla; aber ich frage wie-
der, wie", "wenn ich Sie ernstlich liebte?"

Jetzt ward sie ihrerseits ernst, und mit bittendem Tone rief
sie: Nun, was ist denn das? Oh, Mylord, William, was ist
das? was wollen Sie damit sagen -- erklären Sie sich! --

-- Nun freilich, ich liebe Sie wie eine Schwester.

-- Ach, so ist's recht; böser Mensch, was haben Sie mich
gequält! Nun, das soll mir eine Lehre sein. Jetzt, auf und
davon, William, mein Freund; ich eile zur Mutter. --

Jch will hier das Schreiben Eugen's an seinen Bruder mit-
theilen; ich halte es für durchaus gelungen, und will nichts, oder
höchst wenig hinzufügen. --

Lieber Kamill, Du Freund der Menschheit, wie schade, daß
Du nicht bei mir bist; Du würdest mit mir Dich entzückt fühlen
und jauchzen über die Erhabenheiten dieses Reiches, und mit mir
trauern und knirschen über das Elend unserer Heimath. Höre,
was ich in dem Hospital, welches einer der Oberärzte mir zu
zeigen die Güte hatte, gesehen habe.

Es ist ein Prachtgebäude im edelsten Baustyl, auf einem
kleinen Hügel, inmitten großer Gartenanlagen, die ein geschwätzi-
ger Bach durchschlängelt. Diese Republik trachtet nach dem Nütz-
lichen, Bequemen und Angenehmen in allen ihren Denkmälern
und Werken; das ist ihr oberster Grundsatz, ohne welchen sie
nichts ausführen kann. Aber eben durch ihn ist sie groß und
unvergänglich und schön. So ist auch das Krankenhaus, ich will
lieber sagen der Krankenpalast, von einer Hoheit, einer Grazie,
einer soliden, berechneten Zweckmäßigkeit, die ich noch nie ange-
[Spaltenumbruch] troffen. Die kranken Bürger unseres Staates, sagte der Arzt,
müssen nach Vernunftgesetz, noch besser logirt werden, deucht mir,
als die Nichtkranken.

Jnmitten des Grünen glänzten die vergoldeten Bildsäulen
mancher um die Wissenschaft der Heilkunst verdienter Männer
aus verschiedenen Nationen und Zeitaltern. Vortrefflich waren
die Vorkehrungen gegen Stöße und Fallen, gegen Geräusch, böse
Gerüche und drückende Luft. Auch vernahm man hier und da
liebliche Musik, von einer unsichtbaren Mechanik gespielt; und ich
glaubte gern, als man mir versicherte, durch diese Melodien, die
sogar nach dem Wunsch der Patienten, noch öfter aber nach dem
Gutachten des Arztes abgewechselt werden, überraschende Erfolge
zu haben. Hier und da athmete die Nase angenehme, stärkende
Düfte, und erquickte sich das Auge an heiteren Farben, an ma-
lerischen Gegenständen. Die Säle nach den verständigsten An-
ordnungen; die Betten zweckmäßiger, wie ich sie je in Europa
gesehen; die Operationswerkzeuge von richtigster Einfachheit und
zugleich sinnigster Gestalt.

Nur in einem Staat, der keine Ausgaben scheuen darf, und
dem ein zahlreiches, mit Leib und Seele der Heilkunde ergebenes,
durch keinerlei sonstige Nebenansichten und Rücksichten auf kin-
disch=spießbürgerliches Geldscharren abgezogenes, Medieinalper-
sonal zu Gebot steht, ist solches Hospital möglich. Eine ausge-
suchte Bibliothek, ein Turnhof, ein Fechtboden, eine Schwimm-
anstalt mangelten nicht. Jn nöthigen Fällen erhält der Kranke
ein besonderes Zimmer. Die Angehörigen bekommen so oft als
möglich Zutritt, und auf Wunsch verwandelt sich der nächste
Raum um das Bett des im allgemeinen Saal Liegenden, in
einen geschlossenen Raum, um die Unterhaltung mit den Seini-
gen ungestört vor sich gehen zu lassen. Die Besorguiß, daß der
Patient hierbei ihm schädliche Nahrungsmittel und Leckerbissen,
wider den Befehl der Aerzte, zugesteckt erhalte, ist in Jkarien
unerhört; die Jkarier haben ihre und der Jhrigen Gesundheit
zu lieb, und die Behandlung im Spital ist zu vernünftig, als
daß man Skandale erleben sollte, wie wir Europäer sie uns zu
Schulden kommen zu lassen pflegen. Wem dies übertrieben
deucht, bedenke, daß jeder Jkarier und jede Jkarierin, auf den
verschiedenen Schulstufen, die sie ohne Unterschied bis zu einer
gewissen Epoche zu durchlaufen haben, hinreichenden Unterricht
über Gesundheit und Krankheit in sich aufnimmt, um vor dem
trübseligen Ungehorsam, gegen die Vorschriften der Heilkünstler
gesichert zu sein; ein Ungehorsam, der in Europa bekanntlich ein
Viertel ( vielleicht ein Drittel ) aller Todesfälle verursacht. --
Das gesammte dienstthuende Personal ( Aerzte der innern und
äußern Krankheiten, Pharmaceuten und Wärter ) wohnt hart am
Hospital; ihre Anzahl ist groß genug, um jeden nur sechs bis
sieben Stunden lang zu beschäftigen. Sie beklagen sich daher
auch nicht über Ermüdung. Die Oberärzte machen viermal die
Runde, und die jungen Unterärzte ( so genannt, weil sie zeit-
weilig noch nicht ganz selbstständig sind ) wachen unausgesetzt in
den Sälen. Jede Visite geschieht von drei Aerzten. Jede Ope-
ration im Beisein von zweien, ungerechnet die Gehülfen. Jn
schwierigen Vorkommenheiten versammelt sich der höhere Rath,
d. h. sämmtliche Ober= wie Unterärzte des Hauses.

[Ende Spaltensatz]

( Fortsetzung folgt ) .



[Beginn Spaltensatz]
Aus der Londoner Verbrecherwelt.

Verschiedentlich haben wir schon über das Treiben der Ver-
brecherklasse London's Mittheilungen gebracht, welches als Resultat
der heutigen Productionsweise geeignet ist, dieselbe in ihrer ganzen
[Spaltenumbruch] Lügenhaftigkeit darzustellen. Nachstehend geben wir eine Schilde-
rung eines Londoner Geistlichen, welche das Treiben jener Ver-
brecherklasse in einem neuen Lichte erscheinen läßt. Jener Mann
fühlt offenbar instinktiv, daß alle jene angeblich humanen Be-
strebungen, mit Palliativmitteln ( "innere Missionen", "Verbrecher-
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 225
[Beginn Spaltensatz] sie ihn; aber das ist nun vorbei. Walmor war auch schüchtern
und wollte zu keiner Seele von seiner Leidenschaft sprechen. —
William, Sie sind bald auf unserer Hochzeit, und ich erküre Sie
hiermit feierlich zu meinem dienenden Ritter für den Hochzeits-
tag; da haben Sie den Ritterschlag! setzte das liebliche Mädchen
schalkhaft lächelnd hinzu, indem sie mir mit dem Handschuh auf
den Arm schlug.

Jch wußte nicht recht, was ich antworten sollte. Jch frug,
ob sie mir nichts mehr anzuzeigen habe?

— Nein, nichts, rein gar nichts. — So? — Nein, sage
ich; was wollen Sie denn noch wissen?

— Korilla, Sie schweigen von ihrer eigenen Hochzeit. —

— Wie so? die Mutter hat Jhnen gesagt, daß —

— Nicht doch, nichts hat sie gesagt.

— Gehen Sie!

— Jch sage, sie hat nichts gesagt. —

— O diese Heirath wird mich glücklich machen; er ist ein
edler, herrlicher Mensch; in zwei Monaten ist er hier; er wird
Jhnen gefallen. Er schrieb meinem Vater heute früh, er sei
schon Jhr Freund, so sehr entzückte ihn unsere Beschreibung. Er
wird ein liebender Gatte, ich ein glückliches Weib.

— Korilla, was würde ich werden, wenn ich Sie liebte?

— Sie? mich? lachte sie aus vollem Halse; oh das wäre
rührend, bester William; was möchte Jhre arme, liebenswürdige
Miß Henriette sagen! der haben Sie ja in zehn Monaten die
Ehe gelobt. Und sie lachte wieder.

Dieser Frohsinn befremdete mich, und ich sagte leise und
düster: „Sie scheinen zu scherzen, Korilla; aber ich frage wie-
der, wie“, „wenn ich Sie ernstlich liebte?“

Jetzt ward sie ihrerseits ernst, und mit bittendem Tone rief
sie: Nun, was ist denn das? Oh, Mylord, William, was ist
das? was wollen Sie damit sagen — erklären Sie sich! —

— Nun freilich, ich liebe Sie wie eine Schwester.

— Ach, so ist's recht; böser Mensch, was haben Sie mich
gequält! Nun, das soll mir eine Lehre sein. Jetzt, auf und
davon, William, mein Freund; ich eile zur Mutter. —

Jch will hier das Schreiben Eugen's an seinen Bruder mit-
theilen; ich halte es für durchaus gelungen, und will nichts, oder
höchst wenig hinzufügen. —

Lieber Kamill, Du Freund der Menschheit, wie schade, daß
Du nicht bei mir bist; Du würdest mit mir Dich entzückt fühlen
und jauchzen über die Erhabenheiten dieses Reiches, und mit mir
trauern und knirschen über das Elend unserer Heimath. Höre,
was ich in dem Hospital, welches einer der Oberärzte mir zu
zeigen die Güte hatte, gesehen habe.

Es ist ein Prachtgebäude im edelsten Baustyl, auf einem
kleinen Hügel, inmitten großer Gartenanlagen, die ein geschwätzi-
ger Bach durchschlängelt. Diese Republik trachtet nach dem Nütz-
lichen, Bequemen und Angenehmen in allen ihren Denkmälern
und Werken; das ist ihr oberster Grundsatz, ohne welchen sie
nichts ausführen kann. Aber eben durch ihn ist sie groß und
unvergänglich und schön. So ist auch das Krankenhaus, ich will
lieber sagen der Krankenpalast, von einer Hoheit, einer Grazie,
einer soliden, berechneten Zweckmäßigkeit, die ich noch nie ange-
[Spaltenumbruch] troffen. Die kranken Bürger unseres Staates, sagte der Arzt,
müssen nach Vernunftgesetz, noch besser logirt werden, deucht mir,
als die Nichtkranken.

Jnmitten des Grünen glänzten die vergoldeten Bildsäulen
mancher um die Wissenschaft der Heilkunst verdienter Männer
aus verschiedenen Nationen und Zeitaltern. Vortrefflich waren
die Vorkehrungen gegen Stöße und Fallen, gegen Geräusch, böse
Gerüche und drückende Luft. Auch vernahm man hier und da
liebliche Musik, von einer unsichtbaren Mechanik gespielt; und ich
glaubte gern, als man mir versicherte, durch diese Melodien, die
sogar nach dem Wunsch der Patienten, noch öfter aber nach dem
Gutachten des Arztes abgewechselt werden, überraschende Erfolge
zu haben. Hier und da athmete die Nase angenehme, stärkende
Düfte, und erquickte sich das Auge an heiteren Farben, an ma-
lerischen Gegenständen. Die Säle nach den verständigsten An-
ordnungen; die Betten zweckmäßiger, wie ich sie je in Europa
gesehen; die Operationswerkzeuge von richtigster Einfachheit und
zugleich sinnigster Gestalt.

Nur in einem Staat, der keine Ausgaben scheuen darf, und
dem ein zahlreiches, mit Leib und Seele der Heilkunde ergebenes,
durch keinerlei sonstige Nebenansichten und Rücksichten auf kin-
disch=spießbürgerliches Geldscharren abgezogenes, Medieinalper-
sonal zu Gebot steht, ist solches Hospital möglich. Eine ausge-
suchte Bibliothek, ein Turnhof, ein Fechtboden, eine Schwimm-
anstalt mangelten nicht. Jn nöthigen Fällen erhält der Kranke
ein besonderes Zimmer. Die Angehörigen bekommen so oft als
möglich Zutritt, und auf Wunsch verwandelt sich der nächste
Raum um das Bett des im allgemeinen Saal Liegenden, in
einen geschlossenen Raum, um die Unterhaltung mit den Seini-
gen ungestört vor sich gehen zu lassen. Die Besorguiß, daß der
Patient hierbei ihm schädliche Nahrungsmittel und Leckerbissen,
wider den Befehl der Aerzte, zugesteckt erhalte, ist in Jkarien
unerhört; die Jkarier haben ihre und der Jhrigen Gesundheit
zu lieb, und die Behandlung im Spital ist zu vernünftig, als
daß man Skandale erleben sollte, wie wir Europäer sie uns zu
Schulden kommen zu lassen pflegen. Wem dies übertrieben
deucht, bedenke, daß jeder Jkarier und jede Jkarierin, auf den
verschiedenen Schulstufen, die sie ohne Unterschied bis zu einer
gewissen Epoche zu durchlaufen haben, hinreichenden Unterricht
über Gesundheit und Krankheit in sich aufnimmt, um vor dem
trübseligen Ungehorsam, gegen die Vorschriften der Heilkünstler
gesichert zu sein; ein Ungehorsam, der in Europa bekanntlich ein
Viertel ( vielleicht ein Drittel ) aller Todesfälle verursacht. —
Das gesammte dienstthuende Personal ( Aerzte der innern und
äußern Krankheiten, Pharmaceuten und Wärter ) wohnt hart am
Hospital; ihre Anzahl ist groß genug, um jeden nur sechs bis
sieben Stunden lang zu beschäftigen. Sie beklagen sich daher
auch nicht über Ermüdung. Die Oberärzte machen viermal die
Runde, und die jungen Unterärzte ( so genannt, weil sie zeit-
weilig noch nicht ganz selbstständig sind ) wachen unausgesetzt in
den Sälen. Jede Visite geschieht von drei Aerzten. Jede Ope-
ration im Beisein von zweien, ungerechnet die Gehülfen. Jn
schwierigen Vorkommenheiten versammelt sich der höhere Rath,
d. h. sämmtliche Ober= wie Unterärzte des Hauses.

[Ende Spaltensatz]

( Fortsetzung folgt ) .



[Beginn Spaltensatz]
Aus der Londoner Verbrecherwelt.

Verschiedentlich haben wir schon über das Treiben der Ver-
brecherklasse London's Mittheilungen gebracht, welches als Resultat
der heutigen Productionsweise geeignet ist, dieselbe in ihrer ganzen
[Spaltenumbruch] Lügenhaftigkeit darzustellen. Nachstehend geben wir eine Schilde-
rung eines Londoner Geistlichen, welche das Treiben jener Ver-
brecherklasse in einem neuen Lichte erscheinen läßt. Jener Mann
fühlt offenbar instinktiv, daß alle jene angeblich humanen Be-
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[Ende Spaltensatz]

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[225/0005] Zur Unterhaltung und Belehrung. 225 sie ihn; aber das ist nun vorbei. Walmor war auch schüchtern und wollte zu keiner Seele von seiner Leidenschaft sprechen. — William, Sie sind bald auf unserer Hochzeit, und ich erküre Sie hiermit feierlich zu meinem dienenden Ritter für den Hochzeits- tag; da haben Sie den Ritterschlag! setzte das liebliche Mädchen schalkhaft lächelnd hinzu, indem sie mir mit dem Handschuh auf den Arm schlug. Jch wußte nicht recht, was ich antworten sollte. Jch frug, ob sie mir nichts mehr anzuzeigen habe? — Nein, nichts, rein gar nichts. — So? — Nein, sage ich; was wollen Sie denn noch wissen? — Korilla, Sie schweigen von ihrer eigenen Hochzeit. — — Wie so? die Mutter hat Jhnen gesagt, daß — — Nicht doch, nichts hat sie gesagt. — Gehen Sie! — Jch sage, sie hat nichts gesagt. — — O diese Heirath wird mich glücklich machen; er ist ein edler, herrlicher Mensch; in zwei Monaten ist er hier; er wird Jhnen gefallen. 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Jetzt, auf und davon, William, mein Freund; ich eile zur Mutter. — Jch will hier das Schreiben Eugen's an seinen Bruder mit- theilen; ich halte es für durchaus gelungen, und will nichts, oder höchst wenig hinzufügen. — Lieber Kamill, Du Freund der Menschheit, wie schade, daß Du nicht bei mir bist; Du würdest mit mir Dich entzückt fühlen und jauchzen über die Erhabenheiten dieses Reiches, und mit mir trauern und knirschen über das Elend unserer Heimath. Höre, was ich in dem Hospital, welches einer der Oberärzte mir zu zeigen die Güte hatte, gesehen habe. Es ist ein Prachtgebäude im edelsten Baustyl, auf einem kleinen Hügel, inmitten großer Gartenanlagen, die ein geschwätzi- ger Bach durchschlängelt. Diese Republik trachtet nach dem Nütz- lichen, Bequemen und Angenehmen in allen ihren Denkmälern und Werken; das ist ihr oberster Grundsatz, ohne welchen sie nichts ausführen kann. Aber eben durch ihn ist sie groß und unvergänglich und schön. So ist auch das Krankenhaus, ich will lieber sagen der Krankenpalast, von einer Hoheit, einer Grazie, einer soliden, berechneten Zweckmäßigkeit, die ich noch nie ange- troffen. Die kranken Bürger unseres Staates, sagte der Arzt, müssen nach Vernunftgesetz, noch besser logirt werden, deucht mir, als die Nichtkranken. Jnmitten des Grünen glänzten die vergoldeten Bildsäulen mancher um die Wissenschaft der Heilkunst verdienter Männer aus verschiedenen Nationen und Zeitaltern. Vortrefflich waren die Vorkehrungen gegen Stöße und Fallen, gegen Geräusch, böse Gerüche und drückende Luft. Auch vernahm man hier und da liebliche Musik, von einer unsichtbaren Mechanik gespielt; und ich glaubte gern, als man mir versicherte, durch diese Melodien, die sogar nach dem Wunsch der Patienten, noch öfter aber nach dem Gutachten des Arztes abgewechselt werden, überraschende Erfolge zu haben. Hier und da athmete die Nase angenehme, stärkende Düfte, und erquickte sich das Auge an heiteren Farben, an ma- lerischen Gegenständen. Die Säle nach den verständigsten An- ordnungen; die Betten zweckmäßiger, wie ich sie je in Europa gesehen; die Operationswerkzeuge von richtigster Einfachheit und zugleich sinnigster Gestalt. Nur in einem Staat, der keine Ausgaben scheuen darf, und dem ein zahlreiches, mit Leib und Seele der Heilkunde ergebenes, durch keinerlei sonstige Nebenansichten und Rücksichten auf kin- disch=spießbürgerliches Geldscharren abgezogenes, Medieinalper- sonal zu Gebot steht, ist solches Hospital möglich. Eine ausge- suchte Bibliothek, ein Turnhof, ein Fechtboden, eine Schwimm- anstalt mangelten nicht. Jn nöthigen Fällen erhält der Kranke ein besonderes Zimmer. Die Angehörigen bekommen so oft als möglich Zutritt, und auf Wunsch verwandelt sich der nächste Raum um das Bett des im allgemeinen Saal Liegenden, in einen geschlossenen Raum, um die Unterhaltung mit den Seini- gen ungestört vor sich gehen zu lassen. Die Besorguiß, daß der Patient hierbei ihm schädliche Nahrungsmittel und Leckerbissen, wider den Befehl der Aerzte, zugesteckt erhalte, ist in Jkarien unerhört; die Jkarier haben ihre und der Jhrigen Gesundheit zu lieb, und die Behandlung im Spital ist zu vernünftig, als daß man Skandale erleben sollte, wie wir Europäer sie uns zu Schulden kommen zu lassen pflegen. Wem dies übertrieben deucht, bedenke, daß jeder Jkarier und jede Jkarierin, auf den verschiedenen Schulstufen, die sie ohne Unterschied bis zu einer gewissen Epoche zu durchlaufen haben, hinreichenden Unterricht über Gesundheit und Krankheit in sich aufnimmt, um vor dem trübseligen Ungehorsam, gegen die Vorschriften der Heilkünstler gesichert zu sein; ein Ungehorsam, der in Europa bekanntlich ein Viertel ( vielleicht ein Drittel ) aller Todesfälle verursacht. — Das gesammte dienstthuende Personal ( Aerzte der innern und äußern Krankheiten, Pharmaceuten und Wärter ) wohnt hart am Hospital; ihre Anzahl ist groß genug, um jeden nur sechs bis sieben Stunden lang zu beschäftigen. Sie beklagen sich daher auch nicht über Ermüdung. Die Oberärzte machen viermal die Runde, und die jungen Unterärzte ( so genannt, weil sie zeit- weilig noch nicht ganz selbstständig sind ) wachen unausgesetzt in den Sälen. Jede Visite geschieht von drei Aerzten. Jede Ope- ration im Beisein von zweien, ungerechnet die Gehülfen. Jn schwierigen Vorkommenheiten versammelt sich der höhere Rath, d. h. sämmtliche Ober= wie Unterärzte des Hauses. ( Fortsetzung folgt ) . Aus der Londoner Verbrecherwelt. Verschiedentlich haben wir schon über das Treiben der Ver- brecherklasse London's Mittheilungen gebracht, welches als Resultat der heutigen Productionsweise geeignet ist, dieselbe in ihrer ganzen Lügenhaftigkeit darzustellen. Nachstehend geben wir eine Schilde- rung eines Londoner Geistlichen, welche das Treiben jener Ver- brecherklasse in einem neuen Lichte erscheinen läßt. Jener Mann fühlt offenbar instinktiv, daß alle jene angeblich humanen Be- strebungen, mit Palliativmitteln ( „innere Missionen“, „Verbrecher-

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 9. Lieferung, Nr. 1. Berlin, 5. September 1874, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social0901_1874/5>, abgerufen am 21.11.2024.