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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 8. Lieferung, Nr. 4. Berlin, 22. August 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 206
[Beginn Spaltensatz] mit Einem Wort, wenn wir mehr politische Rechte, mehr
politische Freiheit, mehr festen Rechtsboden hätten.

Wir sagen: mehr politische Rechte u. s. w. Denn
allerdings, wie wir im Eingang sagten, volle, politische
Freiheit wird dann erst dauernd und fest begründet sein,
wenn die sociale Freiheit errungen ist. Aber inzwischen darf
nie vergessen werden, daß das Streben für die volle Volks-
freiheit im letzten Grunde ein einheitliches ist und sich daher
[Spaltenumbruch] auf allen Gebieten, dem socialen und dem politischen ( auch
dem religiösen ) , kurz in einer das ganze Volksleben um-
fassenden Weise, äußern muß. Eine Errungenschaft in
einem dieser Gebiete ist eine Errungenschaft in allen.

Die Partei des Proletariats nennt sich die social-
demokratische. Seien wir stets gute Socialisten und ver-
gessen wir dabei nicht, daß wir, um unserer Aufgabe voll
zu genügen, nicht minder gute Demokraten sein müssen.

[Ende Spaltensatz]

Reise nach Jkarien
von Cabet.
( Fortsetzung. )
[Beginn Spaltensatz]

Werfen wir nunmehr einen Blick auf die

Jntellectuelle Erziehung

der Jkarier. Durch die zweckdienliche materielle Behandlung,
die dem Kinde widerfährt, ist das richtige Sichentfalten seiner
Jntelligenz sicher gestellt. Somit zeigen die Kinder bei uns,
schon ehe sie sprechen, geistige Bewegung, die mich oft erstaunt.
Jm fünften Jahre beginnt die allgemeine und gemeinsame Er-
ziehung, bis zum siebzehnten, achtzehnten Jahre dauernd. Sie
wird aber noch mit der häuslichen verbunden, denn die Kinder
gehen erst um neun Uhr zur Schule, nachdem sie zu Hause
gefrühstückt, und kommen um sechs Uhr Abends wieder; zwei
Mahlzeiten bekommen sie in der Schule. Um fünf Uhr Mor-
gens steht die Familie auf, und die Kinder desgleichen. Bis
halb neun Uhr machen sie ihren Anzug fertig und werden in
der Wirthschaft beschäftigt; die älteren Personen weisen sie an.
Abends wiederholen sie ihre Lectionen und spielen.

Das Kind, zum Lesen mit lauter Stimme angehalten, lernt
gut aussprechen, und zudem kommt ein wichtiger Unterricht in
der Deklamation, damit es nicht beim Vorlesen in ein bloßes
Ableiern verfalle, wodurch höchst unangenehme Eindrücke ent-
stehen und auch gar häufig einem bestimmten Redezwecke ge-
schadet werden würde. Die Folge von diesem ist, daß die Jkarier
und Jkarierinnen ohne Ausnahme gut lesen und sprechen; sie
finden Gefallen an ihrer Sprache und wissen sie zu gebrauchen.
Was das Schreiben betrifft, so lehrt die Mutter es ihrem Kinde,
und, wenn der kleine Zögling es inne hat, wird ihm nicht mehr
erlaubt, unleserlich zu schreiben. Daher kommt, daß wir Alle
ohne Ausnahme leserliche Schriftzüge machen; viele unter uns
sind natürliche Schönschreiber, Kopisten. Nichts verrückter in
unseren Augen ist, als wollte man den eigenen Namen z. B.
auf eine verzwickte Weise hinkritzeln, so daß andere Personen ihn
gar nicht, oder mit Mühe errathen könnten; diese Tollheit findet
sich daher bei uns nicht mehr. Unsere Landessprache ist, wie
Sie, Mylord, aus Erfahrung wissen, so regelrecht und einfach
bei aller reichen Mannigfaltigkeit, daß der Jkarier sie bald
lernt; die ikarischen Sprachlehrer haben deshalb die Gewohn-
heit, ihre Schüler und Schülerinnen, nach einiger Anleitung, die
Regeln der Sprache selbst auffinden zu lassen, wo es nur irgend
thunlich.

Es ist wiederum die Mutter, die das Kind anhält, sich im
regelrichtigen Darlegen seiner Empfindungen, Gefühle, Gedan-
ken, Urtheile, Schlüsse zu üben; es muß kleine Aufsätze, Brief-
chen, Beschreibungen, sowohl mündlich, als schriftlich, nach Vor-
bereitung und aus dem Stegreif, machen; daher die Leichtigkeit
und die Richtigkeit, mit welcher unsere Kinder sich ausdrücken.
[Spaltenumbruch] Ueberhaupt widmen wir mehr Mühe und Zeit, im Durchschnitt,
auf gründliches Studium der Nationalsprache, als der fremden
Sprachen. Die Sprachen des Alterthums und der modernen
Welt werden bei uns als Profession, genau und gründlich be-
trieben, wenn man in ihrer Kenntniß als Lehrer, Reisender,
Dolmetscher, Uebersetzer u. s. w., es zu einem möglichst nütz-
lichen Punkte bringen will; hierfür aber sorgt die specielle,
um das achtzehnte Lebensjahr anfangende Erziehung. Solcher-
weise hat die Grunderziehung nichts mit dem Erlernen fremder
Sprachen zu thun; ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß
alle bedeutenden Werke aus allen nicht ikarischen Sprachen in
die unsrige übetragen worden und werden; Jeder findet sie auf
den Nationalbibliotheken, deren es unendlich viele, im ganzen
Reiche vertheilte, giebt.

Unsere Kinder erlernen frühzeitig das Zeichnen; kein Ar-
beiter, keine Arbeiterin, die nicht auf der Stelle in Geschäfts-
sachen z. B. einer neuen Vorstellung im Kopf, auch eine Dar-
stellung auf dem Papier geben kann, und ich versichere Jhnen,
Lord, unsere Jndustrie und unsere schönen Küuste haben viel
dadurch gewonnen.

Malerei, Kupferstecherei, Bildhauerei, und soustiges dahin
Gehörige, wird später studirt.

Dagegen gewinnt das Kind, sowohl das weibliche als
männliche Kind, frühzeitigst die Grundzüge der Naturkande, in
allen ihren Zweigen ohne einen einzigen auszuschließen. Mylord
wird sich mit leichter Mühe denken können, was für ein Volk
allmählig aus einem solchen Unterricht hervorgehen müsse; ein
Volk, dem die Lehrer von Natur und Naturwalten, Naturkräften,
Naturgesetzen in frühester Jugend bereits Unterricht ertheilen,
durch Bücher und Bilder, und faßliche, sinnlich wahrnehmbare,
wirkliche Naturgegenstände, auf Spaziergängen und im Garten,
im Museum u. s. w.; ein solches Volk ist gewiß ein anderes als
dasjenige, dem allerhand Unsinn und Gefühlswulst in Kopf und
Herz geflößt wurde.

Die Grundrisse der Geometrie und Arithmetik werden des-
gleichen in der allgemeinen Erziehung begriffen, so daß es keinen
Bewohner, keine Bewohnerin dieses Landes giebt, denen es
schwer fiele, eine beliebige Ausrechnung, Ausmessung, Planzeich-
nung zu machen. Und fürchten Sie nicht, lieber Lord, unsere
Kinder würden zu verständig, auf Kosten des Herzens, erzogen,
denn Musik, sowohl Singen als Spielen, ist ein Grundgegen-
stand der ersten Erziehungsepoche. Dies ist ein großes, ein
folgenreiches Ding Mylord; eine viele Millionen Menschen zäh-
lende Nation, ganz aus musikalischen, Musik liebenden, Musik
würdigenden, Musik componirenden Personen beiderlei Geschlechts,
ohne alle Ausnahme, bestehend, ist, glaube ich, schon lediglich
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 206
[Beginn Spaltensatz] mit Einem Wort, wenn wir mehr politische Rechte, mehr
politische Freiheit, mehr festen Rechtsboden hätten.

Wir sagen: mehr politische Rechte u. s. w. Denn
allerdings, wie wir im Eingang sagten, volle, politische
Freiheit wird dann erst dauernd und fest begründet sein,
wenn die sociale Freiheit errungen ist. Aber inzwischen darf
nie vergessen werden, daß das Streben für die volle Volks-
freiheit im letzten Grunde ein einheitliches ist und sich daher
[Spaltenumbruch] auf allen Gebieten, dem socialen und dem politischen ( auch
dem religiösen ) , kurz in einer das ganze Volksleben um-
fassenden Weise, äußern muß. Eine Errungenschaft in
einem dieser Gebiete ist eine Errungenschaft in allen.

Die Partei des Proletariats nennt sich die social-
demokratische. Seien wir stets gute Socialisten und ver-
gessen wir dabei nicht, daß wir, um unserer Aufgabe voll
zu genügen, nicht minder gute Demokraten sein müssen.

[Ende Spaltensatz]

Reise nach Jkarien
von Cabet.
( Fortsetzung. )
[Beginn Spaltensatz]

Werfen wir nunmehr einen Blick auf die

Jntellectuelle Erziehung

der Jkarier. Durch die zweckdienliche materielle Behandlung,
die dem Kinde widerfährt, ist das richtige Sichentfalten seiner
Jntelligenz sicher gestellt. Somit zeigen die Kinder bei uns,
schon ehe sie sprechen, geistige Bewegung, die mich oft erstaunt.
Jm fünften Jahre beginnt die allgemeine und gemeinsame Er-
ziehung, bis zum siebzehnten, achtzehnten Jahre dauernd. Sie
wird aber noch mit der häuslichen verbunden, denn die Kinder
gehen erst um neun Uhr zur Schule, nachdem sie zu Hause
gefrühstückt, und kommen um sechs Uhr Abends wieder; zwei
Mahlzeiten bekommen sie in der Schule. Um fünf Uhr Mor-
gens steht die Familie auf, und die Kinder desgleichen. Bis
halb neun Uhr machen sie ihren Anzug fertig und werden in
der Wirthschaft beschäftigt; die älteren Personen weisen sie an.
Abends wiederholen sie ihre Lectionen und spielen.

Das Kind, zum Lesen mit lauter Stimme angehalten, lernt
gut aussprechen, und zudem kommt ein wichtiger Unterricht in
der Deklamation, damit es nicht beim Vorlesen in ein bloßes
Ableiern verfalle, wodurch höchst unangenehme Eindrücke ent-
stehen und auch gar häufig einem bestimmten Redezwecke ge-
schadet werden würde. Die Folge von diesem ist, daß die Jkarier
und Jkarierinnen ohne Ausnahme gut lesen und sprechen; sie
finden Gefallen an ihrer Sprache und wissen sie zu gebrauchen.
Was das Schreiben betrifft, so lehrt die Mutter es ihrem Kinde,
und, wenn der kleine Zögling es inne hat, wird ihm nicht mehr
erlaubt, unleserlich zu schreiben. Daher kommt, daß wir Alle
ohne Ausnahme leserliche Schriftzüge machen; viele unter uns
sind natürliche Schönschreiber, Kopisten. Nichts verrückter in
unseren Augen ist, als wollte man den eigenen Namen z. B.
auf eine verzwickte Weise hinkritzeln, so daß andere Personen ihn
gar nicht, oder mit Mühe errathen könnten; diese Tollheit findet
sich daher bei uns nicht mehr. Unsere Landessprache ist, wie
Sie, Mylord, aus Erfahrung wissen, so regelrecht und einfach
bei aller reichen Mannigfaltigkeit, daß der Jkarier sie bald
lernt; die ikarischen Sprachlehrer haben deshalb die Gewohn-
heit, ihre Schüler und Schülerinnen, nach einiger Anleitung, die
Regeln der Sprache selbst auffinden zu lassen, wo es nur irgend
thunlich.

Es ist wiederum die Mutter, die das Kind anhält, sich im
regelrichtigen Darlegen seiner Empfindungen, Gefühle, Gedan-
ken, Urtheile, Schlüsse zu üben; es muß kleine Aufsätze, Brief-
chen, Beschreibungen, sowohl mündlich, als schriftlich, nach Vor-
bereitung und aus dem Stegreif, machen; daher die Leichtigkeit
und die Richtigkeit, mit welcher unsere Kinder sich ausdrücken.
[Spaltenumbruch] Ueberhaupt widmen wir mehr Mühe und Zeit, im Durchschnitt,
auf gründliches Studium der Nationalsprache, als der fremden
Sprachen. Die Sprachen des Alterthums und der modernen
Welt werden bei uns als Profession, genau und gründlich be-
trieben, wenn man in ihrer Kenntniß als Lehrer, Reisender,
Dolmetscher, Uebersetzer u. s. w., es zu einem möglichst nütz-
lichen Punkte bringen will; hierfür aber sorgt die specielle,
um das achtzehnte Lebensjahr anfangende Erziehung. Solcher-
weise hat die Grunderziehung nichts mit dem Erlernen fremder
Sprachen zu thun; ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß
alle bedeutenden Werke aus allen nicht ikarischen Sprachen in
die unsrige übetragen worden und werden; Jeder findet sie auf
den Nationalbibliotheken, deren es unendlich viele, im ganzen
Reiche vertheilte, giebt.

Unsere Kinder erlernen frühzeitig das Zeichnen; kein Ar-
beiter, keine Arbeiterin, die nicht auf der Stelle in Geschäfts-
sachen z. B. einer neuen Vorstellung im Kopf, auch eine Dar-
stellung auf dem Papier geben kann, und ich versichere Jhnen,
Lord, unsere Jndustrie und unsere schönen Küuste haben viel
dadurch gewonnen.

Malerei, Kupferstecherei, Bildhauerei, und soustiges dahin
Gehörige, wird später studirt.

Dagegen gewinnt das Kind, sowohl das weibliche als
männliche Kind, frühzeitigst die Grundzüge der Naturkande, in
allen ihren Zweigen ohne einen einzigen auszuschließen. Mylord
wird sich mit leichter Mühe denken können, was für ein Volk
allmählig aus einem solchen Unterricht hervorgehen müsse; ein
Volk, dem die Lehrer von Natur und Naturwalten, Naturkräften,
Naturgesetzen in frühester Jugend bereits Unterricht ertheilen,
durch Bücher und Bilder, und faßliche, sinnlich wahrnehmbare,
wirkliche Naturgegenstände, auf Spaziergängen und im Garten,
im Museum u. s. w.; ein solches Volk ist gewiß ein anderes als
dasjenige, dem allerhand Unsinn und Gefühlswulst in Kopf und
Herz geflößt wurde.

Die Grundrisse der Geometrie und Arithmetik werden des-
gleichen in der allgemeinen Erziehung begriffen, so daß es keinen
Bewohner, keine Bewohnerin dieses Landes giebt, denen es
schwer fiele, eine beliebige Ausrechnung, Ausmessung, Planzeich-
nung zu machen. Und fürchten Sie nicht, lieber Lord, unsere
Kinder würden zu verständig, auf Kosten des Herzens, erzogen,
denn Musik, sowohl Singen als Spielen, ist ein Grundgegen-
stand der ersten Erziehungsepoche. Dies ist ein großes, ein
folgenreiches Ding Mylord; eine viele Millionen Menschen zäh-
lende Nation, ganz aus musikalischen, Musik liebenden, Musik
würdigenden, Musik componirenden Personen beiderlei Geschlechts,
ohne alle Ausnahme, bestehend, ist, glaube ich, schon lediglich
[Ende Spaltensatz]

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Das Kind, zum Lesen mit lauter Stimme angehalten, lernt gut aussprechen, und zudem kommt ein wichtiger Unterricht in der Deklamation, damit es nicht beim Vorlesen in ein bloßes Ableiern verfalle, wodurch höchst unangenehme Eindrücke ent- stehen und auch gar häufig einem bestimmten Redezwecke ge- schadet werden würde. Die Folge von diesem ist, daß die Jkarier und Jkarierinnen ohne Ausnahme gut lesen und sprechen; sie finden Gefallen an ihrer Sprache und wissen sie zu gebrauchen. Was das Schreiben betrifft, so lehrt die Mutter es ihrem Kinde, und, wenn der kleine Zögling es inne hat, wird ihm nicht mehr erlaubt, unleserlich zu schreiben. Daher kommt, daß wir Alle ohne Ausnahme leserliche Schriftzüge machen; viele unter uns sind natürliche Schönschreiber, Kopisten. Nichts verrückter in unseren Augen ist, als wollte man den eigenen Namen z. 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B. einer neuen Vorstellung im Kopf, auch eine Dar- stellung auf dem Papier geben kann, und ich versichere Jhnen, Lord, unsere Jndustrie und unsere schönen Küuste haben viel dadurch gewonnen. Malerei, Kupferstecherei, Bildhauerei, und soustiges dahin Gehörige, wird später studirt. Dagegen gewinnt das Kind, sowohl das weibliche als männliche Kind, frühzeitigst die Grundzüge der Naturkande, in allen ihren Zweigen ohne einen einzigen auszuschließen. Mylord wird sich mit leichter Mühe denken können, was für ein Volk allmählig aus einem solchen Unterricht hervorgehen müsse; ein Volk, dem die Lehrer von Natur und Naturwalten, Naturkräften, Naturgesetzen in frühester Jugend bereits Unterricht ertheilen, durch Bücher und Bilder, und faßliche, sinnlich wahrnehmbare, wirkliche Naturgegenstände, auf Spaziergängen und im Garten, im Museum u. s. w.; ein solches Volk ist gewiß ein anderes als dasjenige, dem allerhand Unsinn und Gefühlswulst in Kopf und Herz geflößt wurde. 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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 8. Lieferung, Nr. 4. Berlin, 22. August 1874, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social0804_1874/2>, abgerufen am 13.11.2024.