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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 8. Lieferung, Nr. 3. Berlin, 15. August 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 203
[Beginn Spaltensatz] Familien= und Dienstpapiere des Emigranten als spanischer
Offizier in Südamerika.... Am andern Tage sind Graf und
Gräfin Pontis de St. H e l e ne auf dem Wege nach Estramadura.
Wie vorzüglich sie ihre Grafenrolle in Spanien und in Frank-
reich spielen, wissen wir bereits. Aber wir erfahren erst durch
die Gerichtsverhandlungen, daß der glänzende Oberstlieutenant
Graf Pontis, der Günstling des Hofes und der Liebling der
vornehmen Pariser Gesellschaft, zugleich das Haupt einer Räuber-
bande war, um den maßlosen Luxus und Glanz entfalten zu
können. Er hatte die Genossenschaft mit seinem alten Ketten-
bruder aus dem Bagno, Lexcellent, erneuert und benutzte seine
Stellung in der Gesellschaft dazu, günstige Diebesgelegenheiten
auszuspioniren, Schlüssel und Schlösser in Wachs abzudrücken
und die Opfer durch Einladungen oder Besuche während des
Einbruchs seiner Bande zu beschäftigen. Sogar eines Mordver-
suches ward Coignard überführt.

Um so unbegreiflicher ist sein unkluges Benehmen gegen
seinen Bagno=Genossen Darius. Aus seinem Hotel entflieht
er, während Maria Rosa den Ordonanzofficier durch Liebens-
würdigkeiten bestrickt, in der Livree seines Bruders Alexander,
der bei dem Herrn Grafen als Diener figurirt, nebenbei aber
ein gefährliches Mitglied der Diebesbande ist. Zunächst verbirgt
er sich bei Lexcellent, macht dann mit diesem und zwei italieni-
schen Diebesgenossen einen vierzehntägigen Raubzug nach Ton-
louse -- und ist keck genug nach Paris zurückzukehren und jenen
frechen Raub bei dem Geldwechsler auszuführen....

Sein Maaß ist voll! Peter Coignard wird zum Pranger
und zu lebenslänglichem Bagno verurtheilt; sein Bruder
Alexander, Lexcellent und die beiden Jtaliener zu fünf Jahren,
Maria Rosa wird mit echt französischer Galanterie freige-
sprochen. --

Noch viele Jahre sah man durch die Straßen von Toulon
und am Hafen einen hochgewachsenen Galeeren=Sträfling in
grüner Mütze seine besonders schweren Ketten schleppen. Alle
Welt kannte ihn unter dem Namen: " Monsieur le comte ".
Und fast immer begegnete ihm eine Frau, die ihm zärtlich zu-
nickte und dem Aufseher für 973 eine Erquickung zusteckte. Man
nannte sie nur " Madame la comtesse "....

Endlich sind beide gestorben.... Ja, solche und noch viel
schaurigere und traurigere Geschichten weiß das jetzt so öde
Bagno zu Toulon zu erzählen!



Gekrönte Meuchelmörder.

Jm Jahre 1838 erinnerten sich noch die älteren Einwohner
Versailles eines armen leidenden Wesens, welches sie in ihrer
Jugend auf einem Stocke gestützt vor dem Schlosse sich hin-
schleppen sahen. Dieser Mann, obgleich er alle Anzeichen einer
großen Altersschwäche an sich trug, war mit kahlem Haupte,
bleichen, eingefallenen Wangen und trübem Auge erst acht und
fünfzig Jahre alt. Es war Gamain, der Schlossermeister Lud-
wig des sechszehnten. Jeder, der es hören wollte, konnte folgende
Geschichte von ihm erfahren:

Schon seit Oktober 1791 hatte Gamain seinen allerhöchsten
Lehrling nicht mehr gesehen. Am 22. Mai 1792 hielt ein Mann
zu Pferd, den er sogleich als den Schlossergehülfen Sr. Majestät
erkannte, vor seiner Werkstätte an und forderte ihn im Namen
des Königs auf, sich zu demselben nach Paris in die Tuilerien zu
begeben: "Tretet durch die Küchen in die königlichen Gemächer
ein," sagte Durey zu ihm, "um kein Aufsehen zu erregen." --
Gamain, der ohnehin schon durch seine Beziehungen zum König
comvromittirt war, entschuldigte sich und schlug das Anerbieten
aus. Drei Stunden nachher kam Durey eiligst zurück, um ihn
noch einmal zu überreden; aber erst den folgenden Tag wurden
Gamain's Bedenken überwunden durch ein eigenhändiges Schrei-
ben des Königs, der ihn inständig bat, ihm, seinem ehemaligen
Lehrling, hülfreiche Hand zu leisten, um eine schwierige Arbeit
vollenden zu helfen. Durey führte Gamain in die königliche
Werkstätte. "Mein armer Gamain," sagte Ludwig XVI. zu
ihm, indem er ihm auf die Schulter klopfte, "es ist schon lange
her, daß wir uns nicht mehr sahn. Die Zeiten sind schlecht,
und ich weiß nicht, wie alles das enden soll." Dann zeigte er
ihm seine Schlosserarbeiten: "Was sagst Du zu meinem Talente?
Jch allein habe diese Arbeiten vollendet. Jch bin Dein Lehr-
[Spaltenumbruch] ling Gamain. Jch habe mein Vertrauen zu Dir gehabt," fügte
er hinzu, "und stehe nicht an, das Schicksal meiner Person und
meiner Familie in Deine Hände zu legen.

Er führte sodann Gamain in einen dunklen Gang der mit
dem Zimmer des Dauphins in Verbindung stand. Durey folgte
mit einem Wachslicht. Auf Befehl des Königs hob er einen
Korb von der Wand weg; ein Loch von zwei Fuß Durchmesser
ungefähr kam zum Vorschein.

Dieses Versteck wäre, sagte Ludwig XVI., ist dazu bestimmt,
Geld zu bergen. Er selbst habe mit Durey in der Nacht daran
gearbeitet. Er wisse aber nicht, wie die eiserne Thüre am Ein-
gang der Oeffaung anzupassen sei, und das sei eben der Dienst,
den er von dem Meister verlange.

Gamain begab sich sogleich ans Werk, wobei er vom König
fleißig unterstützt wurde, der bei jedem Hammerschlag, den Ga-
main auf's Eisen that, denselben bat, so leise wie möglich zu
schlagen, und sich zu eilen.

Nach acht Stunden angestrengtester Arbeit war das Werk
vollbracht. Gamain sank ermüdet auf einen ihm vom König
dargebotenen Sessel. Er mußte noch mit Sr. Majestät zwei
Millionen Franken in Doppel=Louisd'or zählen und in lederne
Säcke packen. Während dieser Arbeit, die dazu bestimmt war,
seine Aufmerksamkeit abzulenken, sah Gamain, wie Durey Papier-
packete in das Versteck schleppte. Als Alles beendigt und das
Geld eingeschlossen war, bot der König ihm an, vor seiner Ab-
reise mit ihm zu Abend zu essen. Da es aber schon spät war,
so wünschte Gamain, der seit Morgens frühe vom Hause weg
war, zu seiner Familie zurückzukehren. Auch schlug er's aus,
von Durey begleitet zu werden, da ihm dessen Miene ein geheimes,
unerklärliches Mißtrauen einflößte.

Jm Augenblicke, als er Abschied nehmen wollte, öffnete sich
eine verborgene Thür zu Füßen des königlichen Bettes, und her-
ein trat mit einem Glase Wein und einem kleinen Kuchen in der
Hand, die Königin Maria Antoinette.

" Mein liebster Gamain," sagte sie im zärtlichsten Tone,
"Sie haben sich so ermüdet! Trinken Sie, und essen Sie, bevor
Sie abreisen, dieses Glas Wein und diesen kleinen Kuchen. Das
wird Sie wieder ein wenig stärken."

Ganz verblüfft, nahm der Schlossermeister dankend das
Glas Wein aus ihrer zarten Hand und trank es auf ihre Ge-
sundheit aus. Den Kuchen steckte er in die Tasche für seine
Kinder.

Es schlug acht Uhr Abend als der Schlosser von Versailles
die Tuilerien verließ.

Jn den Champs=Elysees angelangt, wo er die am Seine-
Ufer hinlaufende Chaussee verfolgte, fühlte sich Gamain von einem
heftigen Schmerze überfallen. Er bekam Uebelkeiten, Leibschnei-
den, Schwindel, wurde ohnmächtig und sank zu Boden. Er
fühlte nur noch einen heißen Durst, als ob ein Feuer in seinem
Jnnern wüthete. Jndem er alle seine Kräfte zusammenfaßte,
konnte er sich noch auf Händen und Füßen kriechend, nach dem
Flusse hin schleppen. Dann verlor er alles Bewußtsein. Nach
einer Weile kam ein Wagen daher gefahren. Der Herr, welcher
darin saß, ein englischer Arzt, bemerkte den am Wege liegenden
menschlichen Körper, ließ still halten, sprang aus dem Wagen
und untersuchte den Zustand dieses Körpers, dessen Brust von
Zeit zu Zeit Klagetöne hervor stöhnten, dessen Gesicht bleich,
dessen Haut brennend heiß war. Er nahm ihn zu sich in den
Wagen und befahl dem Kutscher, im Galopp bis zur nächsten
Apotheke zu fahren. Es war in der Rue de Bac, in
der Nähe der Tuilerien, wo Gamain, nachdem man ihm ein
stark wirkendes Brechmittel eingegeben hatte, wieder zur Be-
sinnung kam. Der großmüthige Fremde brachte ihn in seinem
Wagen selbst nach Versailles. Drei Tage schwebte er zwischen
Tod und Leben. Dank der Pflege des englischen Arztes, eines
Versailler Chirurgen, Namens Voisin, und des Doktors Lamoiran,
ebenfalls aus Versailles, wurde er vom Tode gerettel.

Noch wagte es Gamain nicht, seinen allerhöchsten Lehrling,
den so wohlwollenden König und dessen so anmuthige Gemahlin
eines Verbrechens anzuklagen, dessen Opfer er hätte werden
sollen. Durch einen Zufall wurde ihm jedoch jeder Zweifel be-
nommen.

Die Magd, welche einige Tage später den Rock ausbürstete,
welchen Gamain am 22. Mai getragen hatte, fand in einer
Tasche den Kuchen, der inzwischen trocken und hart geworden
war. Nachdem sie einmal darein gebissen hatte, fand sie ihn
unschmackhaft und warf ihn dem auf dem Hofe befindlichen Hof-
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 203
[Beginn Spaltensatz] Familien= und Dienstpapiere des Emigranten als spanischer
Offizier in Südamerika.... Am andern Tage sind Graf und
Gräfin Pontis de St. H é l è ne auf dem Wege nach Estramadura.
Wie vorzüglich sie ihre Grafenrolle in Spanien und in Frank-
reich spielen, wissen wir bereits. Aber wir erfahren erst durch
die Gerichtsverhandlungen, daß der glänzende Oberstlieutenant
Graf Pontis, der Günstling des Hofes und der Liebling der
vornehmen Pariser Gesellschaft, zugleich das Haupt einer Räuber-
bande war, um den maßlosen Luxus und Glanz entfalten zu
können. Er hatte die Genossenschaft mit seinem alten Ketten-
bruder aus dem Bagno, Lexcellent, erneuert und benutzte seine
Stellung in der Gesellschaft dazu, günstige Diebesgelegenheiten
auszuspioniren, Schlüssel und Schlösser in Wachs abzudrücken
und die Opfer durch Einladungen oder Besuche während des
Einbruchs seiner Bande zu beschäftigen. Sogar eines Mordver-
suches ward Coignard überführt.

Um so unbegreiflicher ist sein unkluges Benehmen gegen
seinen Bagno=Genossen Darius. Aus seinem Hotel entflieht
er, während Maria Rosa den Ordonanzofficier durch Liebens-
würdigkeiten bestrickt, in der Livree seines Bruders Alexander,
der bei dem Herrn Grafen als Diener figurirt, nebenbei aber
ein gefährliches Mitglied der Diebesbande ist. Zunächst verbirgt
er sich bei Lexcellent, macht dann mit diesem und zwei italieni-
schen Diebesgenossen einen vierzehntägigen Raubzug nach Ton-
louse — und ist keck genug nach Paris zurückzukehren und jenen
frechen Raub bei dem Geldwechsler auszuführen....

Sein Maaß ist voll! Peter Coignard wird zum Pranger
und zu lebenslänglichem Bagno verurtheilt; sein Bruder
Alexander, Lexcellent und die beiden Jtaliener zu fünf Jahren,
Maria Rosa wird mit echt französischer Galanterie freige-
sprochen. —

Noch viele Jahre sah man durch die Straßen von Toulon
und am Hafen einen hochgewachsenen Galeeren=Sträfling in
grüner Mütze seine besonders schweren Ketten schleppen. Alle
Welt kannte ihn unter dem Namen: „ Monsieur le comte “.
Und fast immer begegnete ihm eine Frau, die ihm zärtlich zu-
nickte und dem Aufseher für 973 eine Erquickung zusteckte. Man
nannte sie nur „ Madame la comtesse “....

Endlich sind beide gestorben.... Ja, solche und noch viel
schaurigere und traurigere Geschichten weiß das jetzt so öde
Bagno zu Toulon zu erzählen!



Gekrönte Meuchelmörder.

Jm Jahre 1838 erinnerten sich noch die älteren Einwohner
Versailles eines armen leidenden Wesens, welches sie in ihrer
Jugend auf einem Stocke gestützt vor dem Schlosse sich hin-
schleppen sahen. Dieser Mann, obgleich er alle Anzeichen einer
großen Altersschwäche an sich trug, war mit kahlem Haupte,
bleichen, eingefallenen Wangen und trübem Auge erst acht und
fünfzig Jahre alt. Es war Gamain, der Schlossermeister Lud-
wig des sechszehnten. Jeder, der es hören wollte, konnte folgende
Geschichte von ihm erfahren:

Schon seit Oktober 1791 hatte Gamain seinen allerhöchsten
Lehrling nicht mehr gesehen. Am 22. Mai 1792 hielt ein Mann
zu Pferd, den er sogleich als den Schlossergehülfen Sr. Majestät
erkannte, vor seiner Werkstätte an und forderte ihn im Namen
des Königs auf, sich zu demselben nach Paris in die Tuilerien zu
begeben: „Tretet durch die Küchen in die königlichen Gemächer
ein,“ sagte Durey zu ihm, „um kein Aufsehen zu erregen.“ —
Gamain, der ohnehin schon durch seine Beziehungen zum König
comvromittirt war, entschuldigte sich und schlug das Anerbieten
aus. Drei Stunden nachher kam Durey eiligst zurück, um ihn
noch einmal zu überreden; aber erst den folgenden Tag wurden
Gamain's Bedenken überwunden durch ein eigenhändiges Schrei-
ben des Königs, der ihn inständig bat, ihm, seinem ehemaligen
Lehrling, hülfreiche Hand zu leisten, um eine schwierige Arbeit
vollenden zu helfen. Durey führte Gamain in die königliche
Werkstätte. „Mein armer Gamain,“ sagte Ludwig XVI. zu
ihm, indem er ihm auf die Schulter klopfte, „es ist schon lange
her, daß wir uns nicht mehr sahn. Die Zeiten sind schlecht,
und ich weiß nicht, wie alles das enden soll.“ Dann zeigte er
ihm seine Schlosserarbeiten: „Was sagst Du zu meinem Talente?
Jch allein habe diese Arbeiten vollendet. Jch bin Dein Lehr-
[Spaltenumbruch] ling Gamain. Jch habe mein Vertrauen zu Dir gehabt,“ fügte
er hinzu, „und stehe nicht an, das Schicksal meiner Person und
meiner Familie in Deine Hände zu legen.

Er führte sodann Gamain in einen dunklen Gang der mit
dem Zimmer des Dauphins in Verbindung stand. Durey folgte
mit einem Wachslicht. Auf Befehl des Königs hob er einen
Korb von der Wand weg; ein Loch von zwei Fuß Durchmesser
ungefähr kam zum Vorschein.

Dieses Versteck wäre, sagte Ludwig XVI., ist dazu bestimmt,
Geld zu bergen. Er selbst habe mit Durey in der Nacht daran
gearbeitet. Er wisse aber nicht, wie die eiserne Thüre am Ein-
gang der Oeffaung anzupassen sei, und das sei eben der Dienst,
den er von dem Meister verlange.

Gamain begab sich sogleich ans Werk, wobei er vom König
fleißig unterstützt wurde, der bei jedem Hammerschlag, den Ga-
main auf's Eisen that, denselben bat, so leise wie möglich zu
schlagen, und sich zu eilen.

Nach acht Stunden angestrengtester Arbeit war das Werk
vollbracht. Gamain sank ermüdet auf einen ihm vom König
dargebotenen Sessel. Er mußte noch mit Sr. Majestät zwei
Millionen Franken in Doppel=Louisd'or zählen und in lederne
Säcke packen. Während dieser Arbeit, die dazu bestimmt war,
seine Aufmerksamkeit abzulenken, sah Gamain, wie Durey Papier-
packete in das Versteck schleppte. Als Alles beendigt und das
Geld eingeschlossen war, bot der König ihm an, vor seiner Ab-
reise mit ihm zu Abend zu essen. Da es aber schon spät war,
so wünschte Gamain, der seit Morgens frühe vom Hause weg
war, zu seiner Familie zurückzukehren. Auch schlug er's aus,
von Durey begleitet zu werden, da ihm dessen Miene ein geheimes,
unerklärliches Mißtrauen einflößte.

Jm Augenblicke, als er Abschied nehmen wollte, öffnete sich
eine verborgene Thür zu Füßen des königlichen Bettes, und her-
ein trat mit einem Glase Wein und einem kleinen Kuchen in der
Hand, die Königin Maria Antoinette.

„ Mein liebster Gamain,“ sagte sie im zärtlichsten Tone,
„Sie haben sich so ermüdet! Trinken Sie, und essen Sie, bevor
Sie abreisen, dieses Glas Wein und diesen kleinen Kuchen. Das
wird Sie wieder ein wenig stärken.“

Ganz verblüfft, nahm der Schlossermeister dankend das
Glas Wein aus ihrer zarten Hand und trank es auf ihre Ge-
sundheit aus. Den Kuchen steckte er in die Tasche für seine
Kinder.

Es schlug acht Uhr Abend als der Schlosser von Versailles
die Tuilerien verließ.

Jn den Champs=Elysees angelangt, wo er die am Seine-
Ufer hinlaufende Chaussee verfolgte, fühlte sich Gamain von einem
heftigen Schmerze überfallen. Er bekam Uebelkeiten, Leibschnei-
den, Schwindel, wurde ohnmächtig und sank zu Boden. Er
fühlte nur noch einen heißen Durst, als ob ein Feuer in seinem
Jnnern wüthete. Jndem er alle seine Kräfte zusammenfaßte,
konnte er sich noch auf Händen und Füßen kriechend, nach dem
Flusse hin schleppen. Dann verlor er alles Bewußtsein. Nach
einer Weile kam ein Wagen daher gefahren. Der Herr, welcher
darin saß, ein englischer Arzt, bemerkte den am Wege liegenden
menschlichen Körper, ließ still halten, sprang aus dem Wagen
und untersuchte den Zustand dieses Körpers, dessen Brust von
Zeit zu Zeit Klagetöne hervor stöhnten, dessen Gesicht bleich,
dessen Haut brennend heiß war. Er nahm ihn zu sich in den
Wagen und befahl dem Kutscher, im Galopp bis zur nächsten
Apotheke zu fahren. Es war in der Rue de Bac, in
der Nähe der Tuilerien, wo Gamain, nachdem man ihm ein
stark wirkendes Brechmittel eingegeben hatte, wieder zur Be-
sinnung kam. Der großmüthige Fremde brachte ihn in seinem
Wagen selbst nach Versailles. Drei Tage schwebte er zwischen
Tod und Leben. Dank der Pflege des englischen Arztes, eines
Versailler Chirurgen, Namens Voisin, und des Doktors Lamoiran,
ebenfalls aus Versailles, wurde er vom Tode gerettel.

Noch wagte es Gamain nicht, seinen allerhöchsten Lehrling,
den so wohlwollenden König und dessen so anmuthige Gemahlin
eines Verbrechens anzuklagen, dessen Opfer er hätte werden
sollen. Durch einen Zufall wurde ihm jedoch jeder Zweifel be-
nommen.

Die Magd, welche einige Tage später den Rock ausbürstete,
welchen Gamain am 22. Mai getragen hatte, fand in einer
Tasche den Kuchen, der inzwischen trocken und hart geworden
war. Nachdem sie einmal darein gebissen hatte, fand sie ihn
unschmackhaft und warf ihn dem auf dem Hofe befindlichen Hof-
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[203/0007] Zur Unterhaltung und Belehrung. 203 Familien= und Dienstpapiere des Emigranten als spanischer Offizier in Südamerika.... Am andern Tage sind Graf und Gräfin Pontis de St. H é l è ne auf dem Wege nach Estramadura. Wie vorzüglich sie ihre Grafenrolle in Spanien und in Frank- reich spielen, wissen wir bereits. Aber wir erfahren erst durch die Gerichtsverhandlungen, daß der glänzende Oberstlieutenant Graf Pontis, der Günstling des Hofes und der Liebling der vornehmen Pariser Gesellschaft, zugleich das Haupt einer Räuber- bande war, um den maßlosen Luxus und Glanz entfalten zu können. Er hatte die Genossenschaft mit seinem alten Ketten- bruder aus dem Bagno, Lexcellent, erneuert und benutzte seine Stellung in der Gesellschaft dazu, günstige Diebesgelegenheiten auszuspioniren, Schlüssel und Schlösser in Wachs abzudrücken und die Opfer durch Einladungen oder Besuche während des Einbruchs seiner Bande zu beschäftigen. Sogar eines Mordver- suches ward Coignard überführt. Um so unbegreiflicher ist sein unkluges Benehmen gegen seinen Bagno=Genossen Darius. Aus seinem Hotel entflieht er, während Maria Rosa den Ordonanzofficier durch Liebens- würdigkeiten bestrickt, in der Livree seines Bruders Alexander, der bei dem Herrn Grafen als Diener figurirt, nebenbei aber ein gefährliches Mitglied der Diebesbande ist. Zunächst verbirgt er sich bei Lexcellent, macht dann mit diesem und zwei italieni- schen Diebesgenossen einen vierzehntägigen Raubzug nach Ton- louse — und ist keck genug nach Paris zurückzukehren und jenen frechen Raub bei dem Geldwechsler auszuführen.... Sein Maaß ist voll! Peter Coignard wird zum Pranger und zu lebenslänglichem Bagno verurtheilt; sein Bruder Alexander, Lexcellent und die beiden Jtaliener zu fünf Jahren, Maria Rosa wird mit echt französischer Galanterie freige- sprochen. — Noch viele Jahre sah man durch die Straßen von Toulon und am Hafen einen hochgewachsenen Galeeren=Sträfling in grüner Mütze seine besonders schweren Ketten schleppen. Alle Welt kannte ihn unter dem Namen: „ Monsieur le comte “. Und fast immer begegnete ihm eine Frau, die ihm zärtlich zu- nickte und dem Aufseher für 973 eine Erquickung zusteckte. Man nannte sie nur „ Madame la comtesse “.... Endlich sind beide gestorben.... Ja, solche und noch viel schaurigere und traurigere Geschichten weiß das jetzt so öde Bagno zu Toulon zu erzählen! Gekrönte Meuchelmörder. Jm Jahre 1838 erinnerten sich noch die älteren Einwohner Versailles eines armen leidenden Wesens, welches sie in ihrer Jugend auf einem Stocke gestützt vor dem Schlosse sich hin- schleppen sahen. Dieser Mann, obgleich er alle Anzeichen einer großen Altersschwäche an sich trug, war mit kahlem Haupte, bleichen, eingefallenen Wangen und trübem Auge erst acht und fünfzig Jahre alt. Es war Gamain, der Schlossermeister Lud- wig des sechszehnten. Jeder, der es hören wollte, konnte folgende Geschichte von ihm erfahren: Schon seit Oktober 1791 hatte Gamain seinen allerhöchsten Lehrling nicht mehr gesehen. Am 22. Mai 1792 hielt ein Mann zu Pferd, den er sogleich als den Schlossergehülfen Sr. Majestät erkannte, vor seiner Werkstätte an und forderte ihn im Namen des Königs auf, sich zu demselben nach Paris in die Tuilerien zu begeben: „Tretet durch die Küchen in die königlichen Gemächer ein,“ sagte Durey zu ihm, „um kein Aufsehen zu erregen.“ — Gamain, der ohnehin schon durch seine Beziehungen zum König comvromittirt war, entschuldigte sich und schlug das Anerbieten aus. Drei Stunden nachher kam Durey eiligst zurück, um ihn noch einmal zu überreden; aber erst den folgenden Tag wurden Gamain's Bedenken überwunden durch ein eigenhändiges Schrei- ben des Königs, der ihn inständig bat, ihm, seinem ehemaligen Lehrling, hülfreiche Hand zu leisten, um eine schwierige Arbeit vollenden zu helfen. Durey führte Gamain in die königliche Werkstätte. „Mein armer Gamain,“ sagte Ludwig XVI. zu ihm, indem er ihm auf die Schulter klopfte, „es ist schon lange her, daß wir uns nicht mehr sahn. Die Zeiten sind schlecht, und ich weiß nicht, wie alles das enden soll.“ Dann zeigte er ihm seine Schlosserarbeiten: „Was sagst Du zu meinem Talente? Jch allein habe diese Arbeiten vollendet. Jch bin Dein Lehr- ling Gamain. Jch habe mein Vertrauen zu Dir gehabt,“ fügte er hinzu, „und stehe nicht an, das Schicksal meiner Person und meiner Familie in Deine Hände zu legen. Er führte sodann Gamain in einen dunklen Gang der mit dem Zimmer des Dauphins in Verbindung stand. Durey folgte mit einem Wachslicht. Auf Befehl des Königs hob er einen Korb von der Wand weg; ein Loch von zwei Fuß Durchmesser ungefähr kam zum Vorschein. Dieses Versteck wäre, sagte Ludwig XVI., ist dazu bestimmt, Geld zu bergen. Er selbst habe mit Durey in der Nacht daran gearbeitet. Er wisse aber nicht, wie die eiserne Thüre am Ein- gang der Oeffaung anzupassen sei, und das sei eben der Dienst, den er von dem Meister verlange. Gamain begab sich sogleich ans Werk, wobei er vom König fleißig unterstützt wurde, der bei jedem Hammerschlag, den Ga- main auf's Eisen that, denselben bat, so leise wie möglich zu schlagen, und sich zu eilen. Nach acht Stunden angestrengtester Arbeit war das Werk vollbracht. Gamain sank ermüdet auf einen ihm vom König dargebotenen Sessel. Er mußte noch mit Sr. Majestät zwei Millionen Franken in Doppel=Louisd'or zählen und in lederne Säcke packen. Während dieser Arbeit, die dazu bestimmt war, seine Aufmerksamkeit abzulenken, sah Gamain, wie Durey Papier- packete in das Versteck schleppte. Als Alles beendigt und das Geld eingeschlossen war, bot der König ihm an, vor seiner Ab- reise mit ihm zu Abend zu essen. Da es aber schon spät war, so wünschte Gamain, der seit Morgens frühe vom Hause weg war, zu seiner Familie zurückzukehren. Auch schlug er's aus, von Durey begleitet zu werden, da ihm dessen Miene ein geheimes, unerklärliches Mißtrauen einflößte. Jm Augenblicke, als er Abschied nehmen wollte, öffnete sich eine verborgene Thür zu Füßen des königlichen Bettes, und her- ein trat mit einem Glase Wein und einem kleinen Kuchen in der Hand, die Königin Maria Antoinette. „ Mein liebster Gamain,“ sagte sie im zärtlichsten Tone, „Sie haben sich so ermüdet! Trinken Sie, und essen Sie, bevor Sie abreisen, dieses Glas Wein und diesen kleinen Kuchen. Das wird Sie wieder ein wenig stärken.“ Ganz verblüfft, nahm der Schlossermeister dankend das Glas Wein aus ihrer zarten Hand und trank es auf ihre Ge- sundheit aus. Den Kuchen steckte er in die Tasche für seine Kinder. Es schlug acht Uhr Abend als der Schlosser von Versailles die Tuilerien verließ. Jn den Champs=Elysees angelangt, wo er die am Seine- Ufer hinlaufende Chaussee verfolgte, fühlte sich Gamain von einem heftigen Schmerze überfallen. Er bekam Uebelkeiten, Leibschnei- den, Schwindel, wurde ohnmächtig und sank zu Boden. Er fühlte nur noch einen heißen Durst, als ob ein Feuer in seinem Jnnern wüthete. Jndem er alle seine Kräfte zusammenfaßte, konnte er sich noch auf Händen und Füßen kriechend, nach dem Flusse hin schleppen. Dann verlor er alles Bewußtsein. Nach einer Weile kam ein Wagen daher gefahren. Der Herr, welcher darin saß, ein englischer Arzt, bemerkte den am Wege liegenden menschlichen Körper, ließ still halten, sprang aus dem Wagen und untersuchte den Zustand dieses Körpers, dessen Brust von Zeit zu Zeit Klagetöne hervor stöhnten, dessen Gesicht bleich, dessen Haut brennend heiß war. Er nahm ihn zu sich in den Wagen und befahl dem Kutscher, im Galopp bis zur nächsten Apotheke zu fahren. Es war in der Rue de Bac, in der Nähe der Tuilerien, wo Gamain, nachdem man ihm ein stark wirkendes Brechmittel eingegeben hatte, wieder zur Be- sinnung kam. Der großmüthige Fremde brachte ihn in seinem Wagen selbst nach Versailles. Drei Tage schwebte er zwischen Tod und Leben. Dank der Pflege des englischen Arztes, eines Versailler Chirurgen, Namens Voisin, und des Doktors Lamoiran, ebenfalls aus Versailles, wurde er vom Tode gerettel. Noch wagte es Gamain nicht, seinen allerhöchsten Lehrling, den so wohlwollenden König und dessen so anmuthige Gemahlin eines Verbrechens anzuklagen, dessen Opfer er hätte werden sollen. Durch einen Zufall wurde ihm jedoch jeder Zweifel be- nommen. Die Magd, welche einige Tage später den Rock ausbürstete, welchen Gamain am 22. Mai getragen hatte, fand in einer Tasche den Kuchen, der inzwischen trocken und hart geworden war. Nachdem sie einmal darein gebissen hatte, fand sie ihn unschmackhaft und warf ihn dem auf dem Hofe befindlichen Hof-

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 8. Lieferung, Nr. 3. Berlin, 15. August 1874, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social0803_1874/7>, abgerufen am 24.11.2024.