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Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 7. Lieferung, [Nr. 1]. Berlin, 4. Juli 1874.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 147
[Beginn Spaltensatz] eben so viel sich verringern sieht. Ja, mehr noch! Da die
fortschreitende Verkürzung der Arbeitszeit einen Punkt er-
reichen muß, wo der Zeitaussall nicht mehr durch verstärkte
Arbeitsanstrengung ( "intensivere" Arbeit ) aufgewogen wer-
den kann, so liefert die Produktion ein kleineres Gesammt-
ergebniß. Und da der Antheil, den an diesem die Arbei-
terklasse hat, schlechthin größer geworden, so ist der Antheil
der Kapitalistenklasse in zwiefacher Weise verringert: erstens,
weil selbst bei gleichgebliebenem Produktionsergebniß ihr
Antheil um so viel kleiner wäre, als der Antheil der Ar-
beiter größer geworden; und zweitens: weil von diesem
kleiner gewordenen Antheil auch noch das abgeht, um was
das Produktionsergebniß überhaupt geringer geworden.

Wenn man aber bedenkt, daß einerseits die Bedeutung,
welche heute die Kapitalistenklasse trotz ihrer kleinen Per-
sonenzahl in Staat und Gesellschaft hat, auf ihrem Reich-
thum beruht, d. h. auf dem großen Antheil an den Pro-
duktionserzeugnissen, der sich auf wenige Personen vertheilt,
und daß andererseits die Bedeutungslosigkeit der Arbeiter-
klasse, unter der sie bisher trotz ihrer großen Anzahl in
Staat und Gesellschaft leiden mußte, auf deren gedrückter
[Spaltenumbruch] Lage und Armuth beruhte, die ihr nicht Zeit ließen, zum
Bewußtsein und zum selbstständigen Auftreten zu gelangen
-- wenn man dies Beides bedenkt, so wird man erkennen,
daß in dem oben Entwickelten zugleich nachgewiesen ist,
daß und wie bei Verkürzung der Arbeitszeit die Kapita-
listenklasse -- wegen verhältnißmäßig immer kleineren An-
theils am Produktionsertrag -- allmälig immer machtloser,
die Arbeiterklasse -- wegen größeren Antheils am Pro-
duktionsertrag -- immer mächtiger werden muß. Wer
aber dies zu Ende denkt, wird weiter sinden, daß dann
bald eine Zeit kommen muß, wo es der Arbeiterklasse leicht
wird, die Gesetzgebung, welche die Kapitalistenklasse bisher
fast allein beherrscht und zu ihren Gunsten ausgebeutet
hat, endgültig und vollständig selbst in die Hand zu nehmen.

Man sieht also: die ersten Schritte auf diesem Wege
sind schwer; hat man aber dieselben erst hinter sich, so
geht es flott vorwärts -- immer flotter, bis man glücklich
am Ziele angelangt ist.

Betreten wir also diesen Weg und der Sieg wird
uns nicht fehlen.

[Ende Spaltensatz]

Reile nach Jkarien
von Cabet.

Erster Theil. Reise. -- Bericht. -- Beschreibung.

[Beginn Spaltensatz]
Erstes Kapitel.

Zweck der Reise. -- Abfahrt.

Der Leser wird es wohl nicht ungern sehen, wenn ich ihm
in einigen Worten auseinandersetze, durch welche Verhältnisse
bewogen ich hier die Beschreibung, der, von einem Andern ge-
machten, Reise liefere.

Jn Paris, in den Gesellschaftscirkeln beim General Lafayette,
hatte ich bereits den jungen Lord William Carisdall kennen ge-
lernt. Groß war meine Freude, als ich ihm 1834 in London
wieder begegnete. Ohne seiner musterhaften Bescheidenheit zu
nahe zu treten, darf ich sagen, daß er, einer der reichsten Herren
im Staate des dreifachen Königreiches und einer der körperlich
ausgezeichnetsten Männer, einen ungewöhnlichen Schatz von Kennt-
niß und Bildung besaß, die er bei seinem scharfen, tiefen Geiste
und seinem edeln Charakter sich durch rastlosen Fleiß erworben.
Jn früher Kindheit elternlos, hatte er seine Jugend auf weiten
Reisen zugebracht. Sein Studium hatte aber keineswegs dadurch
Abbruch gelitten; es hatte sich vielmehr der Menschheit zu-
gewendet.

Oft wiederholte er schmerzlich, überall auf der weiten Erde
habe er die Menschen unglücklich gefunden, sogar dort, wo die
Natur ihre spendende Hand geöffnet, als wolle sie alles zur Wohl-
fahrt Nöthige im Ueberflusse darbieten. Jn bittre Klagen über
die gesellschaftliche Organisation Englands ergoß er sich bei jedem
Anlaß; doch deuchte ihm in den übrigen Ländern des Elends
eben so viel zu sein, und noch meinte er, das aristokratische König-
thum seiner Heimath sei die beste aller Regierungsformen; sie sei
es, die dem Menschengeschlecht am zuträglichsten.

Eines Tages besuchte er mich. Er kündigte mir seinen Plan
an, Miß Henriette, eine der liebenswürdigsten und reichsten Erbin-
nen Großbritaniens, zu heirathen. Da erblickte er auf meinem
[Spaltenumbruch] Schreibtische ein Buch dessen geschmackvolles, ungewöhnliches
Aeußere ihm in die Augen siel. Jch hatte es neulich erst von
einem reisenden Freunde zum Geschenk bekommen.

Ei, was ist denn das? sagte der Lord. Welch vorzügliches
Papier! wie hübsche Lettern! Und ist das nicht eine Sprachlehre?

Allerdings; erwiderte ich; eine Grammatik nebst Wörterbuch,
und freuen Sie sich, Lord William, Sie, der ja stets gegen über-
flüssige Mannigfaltigkeit und Unvollkommenheit der verschiedent-
lichen Sprachen, und die damit verbundenen Hindernisse der Auf-
klärung und Bildung eifert. Da ist nun eine ganz regelmäßige
neue Sprache, einfach in hohem Grade und doch reich, tief, kraft-
voll; welche keinen Zwiespalt hat zwischen Aussprechen und Schrei-
ben; welche nur wenige, aber auf Verstand und Sinn gestützte
Regeln in sich trägt, die keine nutzlose Schwierigkeiten für die
Erlernung darbieten, und welche schlechterdings keine sogenannte
Ausnahmen zuläßt. Alle Wörter sind von einer nicht gar zahl-
reichen Menge Wurzeln abgeleitet und haben eine völlig bestimmte
und genau bestimmende Bedeutung, wobei kein Schwanken mög-
lich. Sehen Sie, wie einfach sie ist: dieses Buch in einem ein-
zigen Bande schließt ihre Gramatik und ihr Lexikon in sich. Jch
glaube, ein gewöhnlicher Verstand kann diese Sprache binnen
einem halben Jahr erlernen, oder gar noch in weniger Zeit.

Nun, da hätten wir ja die vielgesuchte allgemeinc Sprache,
rief er lächelnd.

Jch bemerkte ihm, wahrscheinlich werde jede Nation früher
oder später dermal einst diese treffliche Sprache zur ihrigen
machen, oder wenigstens neben der althergebrachten Nationalsprache
sich obendrein aneignen; so daß der Tag kommen werde, wo die
gesammte "Einwohnerschaft unsrer Erdkugel" die Sprache Jkaria's
spreche und schreibe.

Jkaria? rief Lord Carisdall; was ist denn das für ein unbe-
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 147
[Beginn Spaltensatz] eben so viel sich verringern sieht. Ja, mehr noch! Da die
fortschreitende Verkürzung der Arbeitszeit einen Punkt er-
reichen muß, wo der Zeitaussall nicht mehr durch verstärkte
Arbeitsanstrengung ( „intensivere“ Arbeit ) aufgewogen wer-
den kann, so liefert die Produktion ein kleineres Gesammt-
ergebniß. Und da der Antheil, den an diesem die Arbei-
terklasse hat, schlechthin größer geworden, so ist der Antheil
der Kapitalistenklasse in zwiefacher Weise verringert: erstens,
weil selbst bei gleichgebliebenem Produktionsergebniß ihr
Antheil um so viel kleiner wäre, als der Antheil der Ar-
beiter größer geworden; und zweitens: weil von diesem
kleiner gewordenen Antheil auch noch das abgeht, um was
das Produktionsergebniß überhaupt geringer geworden.

Wenn man aber bedenkt, daß einerseits die Bedeutung,
welche heute die Kapitalistenklasse trotz ihrer kleinen Per-
sonenzahl in Staat und Gesellschaft hat, auf ihrem Reich-
thum beruht, d. h. auf dem großen Antheil an den Pro-
duktionserzeugnissen, der sich auf wenige Personen vertheilt,
und daß andererseits die Bedeutungslosigkeit der Arbeiter-
klasse, unter der sie bisher trotz ihrer großen Anzahl in
Staat und Gesellschaft leiden mußte, auf deren gedrückter
[Spaltenumbruch] Lage und Armuth beruhte, die ihr nicht Zeit ließen, zum
Bewußtsein und zum selbstständigen Auftreten zu gelangen
— wenn man dies Beides bedenkt, so wird man erkennen,
daß in dem oben Entwickelten zugleich nachgewiesen ist,
daß und wie bei Verkürzung der Arbeitszeit die Kapita-
listenklasse — wegen verhältnißmäßig immer kleineren An-
theils am Produktionsertrag — allmälig immer machtloser,
die Arbeiterklasse — wegen größeren Antheils am Pro-
duktionsertrag — immer mächtiger werden muß. Wer
aber dies zu Ende denkt, wird weiter sinden, daß dann
bald eine Zeit kommen muß, wo es der Arbeiterklasse leicht
wird, die Gesetzgebung, welche die Kapitalistenklasse bisher
fast allein beherrscht und zu ihren Gunsten ausgebeutet
hat, endgültig und vollständig selbst in die Hand zu nehmen.

Man sieht also: die ersten Schritte auf diesem Wege
sind schwer; hat man aber dieselben erst hinter sich, so
geht es flott vorwärts — immer flotter, bis man glücklich
am Ziele angelangt ist.

Betreten wir also diesen Weg und der Sieg wird
uns nicht fehlen.

[Ende Spaltensatz]

Reile nach Jkarien
von Cabet.

Erster Theil. Reise. — Bericht. — Beschreibung.

[Beginn Spaltensatz]
Erstes Kapitel.

Zweck der Reise. — Abfahrt.

Der Leser wird es wohl nicht ungern sehen, wenn ich ihm
in einigen Worten auseinandersetze, durch welche Verhältnisse
bewogen ich hier die Beschreibung, der, von einem Andern ge-
machten, Reise liefere.

Jn Paris, in den Gesellschaftscirkeln beim General Lafayette,
hatte ich bereits den jungen Lord William Carisdall kennen ge-
lernt. Groß war meine Freude, als ich ihm 1834 in London
wieder begegnete. Ohne seiner musterhaften Bescheidenheit zu
nahe zu treten, darf ich sagen, daß er, einer der reichsten Herren
im Staate des dreifachen Königreiches und einer der körperlich
ausgezeichnetsten Männer, einen ungewöhnlichen Schatz von Kennt-
niß und Bildung besaß, die er bei seinem scharfen, tiefen Geiste
und seinem edeln Charakter sich durch rastlosen Fleiß erworben.
Jn früher Kindheit elternlos, hatte er seine Jugend auf weiten
Reisen zugebracht. Sein Studium hatte aber keineswegs dadurch
Abbruch gelitten; es hatte sich vielmehr der Menschheit zu-
gewendet.

Oft wiederholte er schmerzlich, überall auf der weiten Erde
habe er die Menschen unglücklich gefunden, sogar dort, wo die
Natur ihre spendende Hand geöffnet, als wolle sie alles zur Wohl-
fahrt Nöthige im Ueberflusse darbieten. Jn bittre Klagen über
die gesellschaftliche Organisation Englands ergoß er sich bei jedem
Anlaß; doch deuchte ihm in den übrigen Ländern des Elends
eben so viel zu sein, und noch meinte er, das aristokratische König-
thum seiner Heimath sei die beste aller Regierungsformen; sie sei
es, die dem Menschengeschlecht am zuträglichsten.

Eines Tages besuchte er mich. Er kündigte mir seinen Plan
an, Miß Henriette, eine der liebenswürdigsten und reichsten Erbin-
nen Großbritaniens, zu heirathen. Da erblickte er auf meinem
[Spaltenumbruch] Schreibtische ein Buch dessen geschmackvolles, ungewöhnliches
Aeußere ihm in die Augen siel. Jch hatte es neulich erst von
einem reisenden Freunde zum Geschenk bekommen.

Ei, was ist denn das? sagte der Lord. Welch vorzügliches
Papier! wie hübsche Lettern! Und ist das nicht eine Sprachlehre?

Allerdings; erwiderte ich; eine Grammatik nebst Wörterbuch,
und freuen Sie sich, Lord William, Sie, der ja stets gegen über-
flüssige Mannigfaltigkeit und Unvollkommenheit der verschiedent-
lichen Sprachen, und die damit verbundenen Hindernisse der Auf-
klärung und Bildung eifert. Da ist nun eine ganz regelmäßige
neue Sprache, einfach in hohem Grade und doch reich, tief, kraft-
voll; welche keinen Zwiespalt hat zwischen Aussprechen und Schrei-
ben; welche nur wenige, aber auf Verstand und Sinn gestützte
Regeln in sich trägt, die keine nutzlose Schwierigkeiten für die
Erlernung darbieten, und welche schlechterdings keine sogenannte
Ausnahmen zuläßt. Alle Wörter sind von einer nicht gar zahl-
reichen Menge Wurzeln abgeleitet und haben eine völlig bestimmte
und genau bestimmende Bedeutung, wobei kein Schwanken mög-
lich. Sehen Sie, wie einfach sie ist: dieses Buch in einem ein-
zigen Bande schließt ihre Gramatik und ihr Lexikon in sich. Jch
glaube, ein gewöhnlicher Verstand kann diese Sprache binnen
einem halben Jahr erlernen, oder gar noch in weniger Zeit.

Nun, da hätten wir ja die vielgesuchte allgemeinc Sprache,
rief er lächelnd.

Jch bemerkte ihm, wahrscheinlich werde jede Nation früher
oder später dermal einst diese treffliche Sprache zur ihrigen
machen, oder wenigstens neben der althergebrachten Nationalsprache
sich obendrein aneignen; so daß der Tag kommen werde, wo die
gesammte „Einwohnerschaft unsrer Erdkugel“ die Sprache Jkaria's
spreche und schreibe.

Jkaria? rief Lord Carisdall; was ist denn das für ein unbe-
[Ende Spaltensatz]

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Jn Paris, in den Gesellschaftscirkeln beim General Lafayette, hatte ich bereits den jungen Lord William Carisdall kennen ge- lernt. Groß war meine Freude, als ich ihm 1834 in London wieder begegnete. Ohne seiner musterhaften Bescheidenheit zu nahe zu treten, darf ich sagen, daß er, einer der reichsten Herren im Staate des dreifachen Königreiches und einer der körperlich ausgezeichnetsten Männer, einen ungewöhnlichen Schatz von Kennt- niß und Bildung besaß, die er bei seinem scharfen, tiefen Geiste und seinem edeln Charakter sich durch rastlosen Fleiß erworben. Jn früher Kindheit elternlos, hatte er seine Jugend auf weiten Reisen zugebracht. Sein Studium hatte aber keineswegs dadurch Abbruch gelitten; es hatte sich vielmehr der Menschheit zu- gewendet. Oft wiederholte er schmerzlich, überall auf der weiten Erde habe er die Menschen unglücklich gefunden, sogar dort, wo die Natur ihre spendende Hand geöffnet, als wolle sie alles zur Wohl- fahrt Nöthige im Ueberflusse darbieten. 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Jch glaube, ein gewöhnlicher Verstand kann diese Sprache binnen einem halben Jahr erlernen, oder gar noch in weniger Zeit. Nun, da hätten wir ja die vielgesuchte allgemeinc Sprache, rief er lächelnd. Jch bemerkte ihm, wahrscheinlich werde jede Nation früher oder später dermal einst diese treffliche Sprache zur ihrigen machen, oder wenigstens neben der althergebrachten Nationalsprache sich obendrein aneignen; so daß der Tag kommen werde, wo die gesammte „Einwohnerschaft unsrer Erdkugel“ die Sprache Jkaria's spreche und schreibe. Jkaria? rief Lord Carisdall; was ist denn das für ein unbe-

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Jahrgang, 7. Lieferung, [Nr. 1]. Berlin, 4. Juli 1874, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social0701_1874/3>, abgerufen am 28.07.2024.