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Social-politische Blätter. 4. Lieferung. Berlin, 9. April 1873.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 77
[Beginn Spaltensatz] über fließt die Milch aus ihrer Brust, daß ihr die Kleider
triefen.

H. W. hat drei Kinder, geht um fünf Uhr Montags
von Hause und kommt erst Sonnabend Abends um sieben
wieder -- hat dann so viel für ihre Kinder zu besorgen,
daß sie vor drei Uhr Morgens nicht zu Bett gehen kann.
Oft förmlich bis auf die Haut vom Regen durchnäßt und
genöthigt, in dieser Lage zu arbeiten. "Meine Brüste
haben mir die schrecklichsten Schmerzen gemacht, und ich bin
triefend naß von Milch gewesen."

Die Anwendung von narkotischen Arzneien, um die
Kinder ruhig zu halten, wird durch dies infame System
nur begünstigt und ist wirklich in den Fabrikdistricten auf
einen hohen Grad der Verbreitung gestiegen; Dr. Johns,
Oberregistrator des Manchesterdistrictes, ist der Meinung,
daß diese Sitte die Hauptursache der häufigen Todesfälle
durch Krämpfe sei.

Die Beschäftigung der Frau in der Fabrik löst die
Familie nothwendig gänzlich auf, und diese Auflösung hat
in dem heutigen Zustande der Gesellschaft, der auf der
Familie beruht, die demoralisire ndsten Folgen, sowohl für
die Eheleute wie für die Kinder. Eine Mutter, die nicht
die Zeit hat, sich um ihr Kind zu bekümmern, ihm während
der ersten Jahre die gewöhnlichsten Liebesdienste zu erweisen,
eine Mutter, die ihr Kind kaum zu sehen bekommt, kann
diesem Kinde keine Mutter sein, sie muß nothwendig gleich-
gültig dagegen werden, es ohne Liebe, ohne Fürsorge be-
handeln wie ein ganz fremdes Kind; und Kinder, die in
solchen Verhältnissen aufwachsen, sind später für die Familie
gänzlich verdorben, können nie in der Familie, die sie selber
stiften, sich einheimisch fühlen, weil sie nur ein isolirtes
Leben kennen gelernt haben, und müssen deßhalb zur ohne-
hin schon allgemeinen Untergrabung der Familie bei den
Arbeitern beitragen.

Eine ähnliche Auflösung der Familie wird durch die
Arbeit der Kinder herbeigeführt. Wenn diese so weit sind,
daß sie mehr verdienen, als ihren Eltern die Beköstigung
zu stehen kommt, so fangen sie an, den Aeltern ein Gewisses
für Kost und Logis zu geben und den Rest für sich selbst
zu verbrauchen. Dies geschieht oft schon mit dem vier-
zehnten und fünfzehnten Jahr. Mit einem Wort, die
Kinder emancipiren sich und betrachten das elterliche Haus
als ein Kosthaus, das sie auch oft genug, wenn es ihnen
nicht gefällt, mit einem andern vertauschen.

Wie die Frau, so sind in diesem Fall die Kinder
die Herren im Haus, wovon Lord Ashley in seiner Rede
( Unterhaussitzung vom 15. März 1844 ) ein Beispiel gibt.
Ein Mann schalt seine beiden Töchter aus, weil sie in
einem Wirthshaus gewesen waren, und diese erklärten, sie
seien das Regiertwerden leid: "Verdammt, wir müssen Euch
ernähren", und wollten dann auch Etwas von ihrer Arbeit
haben; sie zogen aus dem elterlichen Hause und überließen
Vater und Mutter ihrem Schicksal,

Die unverheiratheten Frauenzimmer, die in Fabriken
aufwachsen, sind nicht besser dran, als die verheiratheten.
Es versteht sich ganz von selbst, daß ein Mädchen, daß
seit dem neunten Jahre in der Fabrik gearbeitet hat, nicht
im Stande war, sich mit häuslichen Arbeiten bekannt zu
[Spaltenumbruch] machen, und daher kommt es, daß alle Fabrikarbeiterinnen
darin gänzlich unerfahren und durchaus nicht zu Haus-
frauen geeignet sind. Sie können nicht nähen und stricken,
kochen oder waschen; sie sind mit den gewöhnlichsten Ver-
richtungen einer Hausfrau unbekannt, und wie sie mit
kleinen Kindern umzugehen haben, davon wissen sie vollends
gar Nichts.

Der Bericht der Fabrikinspectoren giebt Dutzende von
Beispielen für diese Thatsache, und Dr. Hawkins, der
Kommissär für Lancashire, spricht seine Ansicht folgender-
maßen aus:

"Die Mädchen heirathen früh und unüberlegt; sie
haben weder die Mittel, noch die Zeit, noch die Gelegen-
heit, die gewöhnlichen Pflichten des häuslichen Lebens zu
lernen, und wenn sie Alles das hätten, sie würden in der
Ehe keine Zeit zur Ausübung dieser Pflichten haben. Die
Mutter ist von ihrem Kinde über zwölf Stunden täglich
abwesend; das Kind wird von einem Mädchen oder einer
alten Frau, der es vermiethet wird, verwahrt; dazu ist
nur zu oft die Wohnung der Fabrikleute kein heimathlich
Haus, oft ein Keller, der kein Koch= oder Waschgeräth,
Nichts zum Nähen und Ausbessern enthält, dem Alles
fehlt, was das Leben angenehm und civilisirt und den
heimischen Heerd anziehend machen könnte. Jch kann nach
diesen und andern Gründen, besonders um der größeren
Lebenschancen für kleine Kinder willen, nur wünschen und
hoffen, daß eine Zeit kommen möge, in der die verheira-
theten Frauen von den Fabriken ausgeschlossen sind."

Das ist Alles, aber noch das Wenigste. Die mora-
lischen Folgen der Arbeit von Weibern in Fabriken sind
noch viel schlimmer. Die Vereinigung beider Geschlechter
und aller Alter in einem Arbeitssaale, die unvermeidliche
Annäherung zwischen ihnen, die Anhäufung von Leuten,
denen weder intellektuelle, noch sittliche Bildung gegeben
worden ist, auf einem engen Raume ist eben nicht geeignet,
von günstigen Folgen für die Entwicklung des weiblichen
Charakters zu sein.

Die Sprache, die in den Fabriken geführt wird, ist
den Fabrikkommissären von vielen Seiten als "unanständig",
"schlecht", "schmutzig" u. s. w. geschildert worden.

Die Sache ist dieselbe im Kleinen, wie wir sie in den
großen Städten im Großen sehen. Die Centralisation der
Bevölkerung hat dieselben Wirkungen auf dieselben Leute,
mag sie nun auf diese in einer großen Stadt oder in
einer kleineren Fabrik wirken. Jst die Fabrik kleiner, so
ist die Annäherung größer und der Umgang unvermeid-
licher. Die Folgen davon bleiben nicht aus.

Ein Zeuge in Leicester sagt: er würde seine Tochter
lieber betteln als in die Fabrik gehen lassen -- das seien
wahre Höllenlöcher, die meisten Freudenmädchen in der
Stadt hätten es den Fabriken zu verdanken; ein andrer
in Manchester "hat keinen Anstand, zu behaupten, daß drei
Viertel der jungen Fabrikarbeiterinnen von 14 bis 20
Jahren unkeusch seien".

Kommissär Cowell spricht sich überhaupt dahin aus,
daß die Sittlichkeit der Fabrikarbeiter etwas unter dem
Durchschnitt der arbeitenden Klasse stehe: "Eine Abschätzung
der sexualen Sittlichkeit läßt sich nicht gut in Zahlen redu-
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 77
[Beginn Spaltensatz] über fließt die Milch aus ihrer Brust, daß ihr die Kleider
triefen.

H. W. hat drei Kinder, geht um fünf Uhr Montags
von Hause und kommt erst Sonnabend Abends um sieben
wieder — hat dann so viel für ihre Kinder zu besorgen,
daß sie vor drei Uhr Morgens nicht zu Bett gehen kann.
Oft förmlich bis auf die Haut vom Regen durchnäßt und
genöthigt, in dieser Lage zu arbeiten. „Meine Brüste
haben mir die schrecklichsten Schmerzen gemacht, und ich bin
triefend naß von Milch gewesen.“

Die Anwendung von narkotischen Arzneien, um die
Kinder ruhig zu halten, wird durch dies infame System
nur begünstigt und ist wirklich in den Fabrikdistricten auf
einen hohen Grad der Verbreitung gestiegen; Dr. Johns,
Oberregistrator des Manchesterdistrictes, ist der Meinung,
daß diese Sitte die Hauptursache der häufigen Todesfälle
durch Krämpfe sei.

Die Beschäftigung der Frau in der Fabrik löst die
Familie nothwendig gänzlich auf, und diese Auflösung hat
in dem heutigen Zustande der Gesellschaft, der auf der
Familie beruht, die demoralisire ndsten Folgen, sowohl für
die Eheleute wie für die Kinder. Eine Mutter, die nicht
die Zeit hat, sich um ihr Kind zu bekümmern, ihm während
der ersten Jahre die gewöhnlichsten Liebesdienste zu erweisen,
eine Mutter, die ihr Kind kaum zu sehen bekommt, kann
diesem Kinde keine Mutter sein, sie muß nothwendig gleich-
gültig dagegen werden, es ohne Liebe, ohne Fürsorge be-
handeln wie ein ganz fremdes Kind; und Kinder, die in
solchen Verhältnissen aufwachsen, sind später für die Familie
gänzlich verdorben, können nie in der Familie, die sie selber
stiften, sich einheimisch fühlen, weil sie nur ein isolirtes
Leben kennen gelernt haben, und müssen deßhalb zur ohne-
hin schon allgemeinen Untergrabung der Familie bei den
Arbeitern beitragen.

Eine ähnliche Auflösung der Familie wird durch die
Arbeit der Kinder herbeigeführt. Wenn diese so weit sind,
daß sie mehr verdienen, als ihren Eltern die Beköstigung
zu stehen kommt, so fangen sie an, den Aeltern ein Gewisses
für Kost und Logis zu geben und den Rest für sich selbst
zu verbrauchen. Dies geschieht oft schon mit dem vier-
zehnten und fünfzehnten Jahr. Mit einem Wort, die
Kinder emancipiren sich und betrachten das elterliche Haus
als ein Kosthaus, das sie auch oft genug, wenn es ihnen
nicht gefällt, mit einem andern vertauschen.

Wie die Frau, so sind in diesem Fall die Kinder
die Herren im Haus, wovon Lord Ashley in seiner Rede
( Unterhaussitzung vom 15. März 1844 ) ein Beispiel gibt.
Ein Mann schalt seine beiden Töchter aus, weil sie in
einem Wirthshaus gewesen waren, und diese erklärten, sie
seien das Regiertwerden leid: „Verdammt, wir müssen Euch
ernähren“, und wollten dann auch Etwas von ihrer Arbeit
haben; sie zogen aus dem elterlichen Hause und überließen
Vater und Mutter ihrem Schicksal,

Die unverheiratheten Frauenzimmer, die in Fabriken
aufwachsen, sind nicht besser dran, als die verheiratheten.
Es versteht sich ganz von selbst, daß ein Mädchen, daß
seit dem neunten Jahre in der Fabrik gearbeitet hat, nicht
im Stande war, sich mit häuslichen Arbeiten bekannt zu
[Spaltenumbruch] machen, und daher kommt es, daß alle Fabrikarbeiterinnen
darin gänzlich unerfahren und durchaus nicht zu Haus-
frauen geeignet sind. Sie können nicht nähen und stricken,
kochen oder waschen; sie sind mit den gewöhnlichsten Ver-
richtungen einer Hausfrau unbekannt, und wie sie mit
kleinen Kindern umzugehen haben, davon wissen sie vollends
gar Nichts.

Der Bericht der Fabrikinspectoren giebt Dutzende von
Beispielen für diese Thatsache, und Dr. Hawkins, der
Kommissär für Lancashire, spricht seine Ansicht folgender-
maßen aus:

„Die Mädchen heirathen früh und unüberlegt; sie
haben weder die Mittel, noch die Zeit, noch die Gelegen-
heit, die gewöhnlichen Pflichten des häuslichen Lebens zu
lernen, und wenn sie Alles das hätten, sie würden in der
Ehe keine Zeit zur Ausübung dieser Pflichten haben. Die
Mutter ist von ihrem Kinde über zwölf Stunden täglich
abwesend; das Kind wird von einem Mädchen oder einer
alten Frau, der es vermiethet wird, verwahrt; dazu ist
nur zu oft die Wohnung der Fabrikleute kein heimathlich
Haus, oft ein Keller, der kein Koch= oder Waschgeräth,
Nichts zum Nähen und Ausbessern enthält, dem Alles
fehlt, was das Leben angenehm und civilisirt und den
heimischen Heerd anziehend machen könnte. Jch kann nach
diesen und andern Gründen, besonders um der größeren
Lebenschancen für kleine Kinder willen, nur wünschen und
hoffen, daß eine Zeit kommen möge, in der die verheira-
theten Frauen von den Fabriken ausgeschlossen sind.“

Das ist Alles, aber noch das Wenigste. Die mora-
lischen Folgen der Arbeit von Weibern in Fabriken sind
noch viel schlimmer. Die Vereinigung beider Geschlechter
und aller Alter in einem Arbeitssaale, die unvermeidliche
Annäherung zwischen ihnen, die Anhäufung von Leuten,
denen weder intellektuelle, noch sittliche Bildung gegeben
worden ist, auf einem engen Raume ist eben nicht geeignet,
von günstigen Folgen für die Entwicklung des weiblichen
Charakters zu sein.

Die Sprache, die in den Fabriken geführt wird, ist
den Fabrikkommissären von vielen Seiten als „unanständig“,
„schlecht“, „schmutzig“ u. s. w. geschildert worden.

Die Sache ist dieselbe im Kleinen, wie wir sie in den
großen Städten im Großen sehen. Die Centralisation der
Bevölkerung hat dieselben Wirkungen auf dieselben Leute,
mag sie nun auf diese in einer großen Stadt oder in
einer kleineren Fabrik wirken. Jst die Fabrik kleiner, so
ist die Annäherung größer und der Umgang unvermeid-
licher. Die Folgen davon bleiben nicht aus.

Ein Zeuge in Leicester sagt: er würde seine Tochter
lieber betteln als in die Fabrik gehen lassen — das seien
wahre Höllenlöcher, die meisten Freudenmädchen in der
Stadt hätten es den Fabriken zu verdanken; ein andrer
in Manchester „hat keinen Anstand, zu behaupten, daß drei
Viertel der jungen Fabrikarbeiterinnen von 14 bis 20
Jahren unkeusch seien“.

Kommissär Cowell spricht sich überhaupt dahin aus,
daß die Sittlichkeit der Fabrikarbeiter etwas unter dem
Durchschnitt der arbeitenden Klasse stehe: „Eine Abschätzung
der sexualen Sittlichkeit läßt sich nicht gut in Zahlen redu-
[Ende Spaltensatz]

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[77/0005] Zur Unterhaltung und Belehrung. 77 über fließt die Milch aus ihrer Brust, daß ihr die Kleider triefen. H. W. hat drei Kinder, geht um fünf Uhr Montags von Hause und kommt erst Sonnabend Abends um sieben wieder — hat dann so viel für ihre Kinder zu besorgen, daß sie vor drei Uhr Morgens nicht zu Bett gehen kann. Oft förmlich bis auf die Haut vom Regen durchnäßt und genöthigt, in dieser Lage zu arbeiten. „Meine Brüste haben mir die schrecklichsten Schmerzen gemacht, und ich bin triefend naß von Milch gewesen.“ Die Anwendung von narkotischen Arzneien, um die Kinder ruhig zu halten, wird durch dies infame System nur begünstigt und ist wirklich in den Fabrikdistricten auf einen hohen Grad der Verbreitung gestiegen; Dr. Johns, Oberregistrator des Manchesterdistrictes, ist der Meinung, daß diese Sitte die Hauptursache der häufigen Todesfälle durch Krämpfe sei. 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Jch kann nach diesen und andern Gründen, besonders um der größeren Lebenschancen für kleine Kinder willen, nur wünschen und hoffen, daß eine Zeit kommen möge, in der die verheira- theten Frauen von den Fabriken ausgeschlossen sind.“ Das ist Alles, aber noch das Wenigste. Die mora- lischen Folgen der Arbeit von Weibern in Fabriken sind noch viel schlimmer. Die Vereinigung beider Geschlechter und aller Alter in einem Arbeitssaale, die unvermeidliche Annäherung zwischen ihnen, die Anhäufung von Leuten, denen weder intellektuelle, noch sittliche Bildung gegeben worden ist, auf einem engen Raume ist eben nicht geeignet, von günstigen Folgen für die Entwicklung des weiblichen Charakters zu sein. Die Sprache, die in den Fabriken geführt wird, ist den Fabrikkommissären von vielen Seiten als „unanständig“, „schlecht“, „schmutzig“ u. s. w. geschildert worden. Die Sache ist dieselbe im Kleinen, wie wir sie in den großen Städten im Großen sehen. 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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 4. Lieferung. Berlin, 9. April 1873, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social04_1873/5>, abgerufen am 24.11.2024.