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Social-politische Blätter. 4. Lieferung. Berlin, 9. April 1873.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 76
[Beginn Spaltensatz] letzte zwar auch schwer genug das Familienleben, die heu-
tige Gesellschaft aber greift es unmerklicher, wiewohl noch
gefährlicher an, denn wie ein Wurm, der das Jnnerste des
Keimes zerfrißt, so verhetzen die modernen Verhältnisse die
Familienglieder untereinander, zwingen sie, sich auszubeuten,
sich Konkurrenz zu machen und nehmen so den wesentlichen
Jnhalt des Familienlebens fort.

Leicht ersichtlich ist, daß durch solche zerstörenden Ele-
mente, wenn sie dauernd sich einnisten könnten, die ganze
menschliche Kulturentwicklung gehemmt sein würde, denn
wie kann man erwarten, daß die heranwachsende Jugend
liebevoll geleitet und erzogen werde, also edle, menschliche
Jdeen in sich aufnehmen könnte, wenn Vater und Mutter
sich gegenseitig sowie den Kindern mit der Kälte berechnen-
der Geschäftsleute in den wenigen Tagesstunden, wo sie
mit einander zusammentreffen, gegenüberstehen.

Wir brauchen wohl kaum besonders hervorzuheben,
daß es vornehmlich die Frauenarbeit außerhalb des häus-
lichen Familienkreises ist, an die sich eben solche Kinder-
arbeit schließt, wodurch diese schmachvollen Zustände herbei-
geführt werden; desgleichen wirkt auch die Schwierigkeit
der Eheschließung in Folge der Lage der Fabrikarbeiterinnen,
weiblichen Dienstboten u. s. w. störend auf das Familien-
leben des Volkes ein und erzeugt die widrige Nachtseite
der heutigen Gesellschaft, die Prostitution.

Der Menschenfreund müßte verzweifeln gegenüber diesen
am gesunden Volksleben nagenden Krebsschäden, wenn es
ihm nicht zum Trost gereichte, daß, je störender die Zustände
in's Familienleben eingreifen, je mehr Gegendruck von
diesem Druck erzeugt wird und je energischer das Volk
dahin streben wird, die aufgelöste Familie dauernd dadurch
wieder herzustellen, daß es die Menschheit zum gemeinsamen
brüderlichen Familienleben vereint.

Doch sehen wir uns zunächst die Art und Weise an,
wie die moderne Produktion das Familienleben unterwühlt.

Die Kapitalmacht steht als Feind der Arbeit gegen-
über; sie strebt von dem nationalen Arbeitsertrag möglichst
viel an sich zu reißen und möglichst wenig zum Unterhalt
des arbeitenden Volkes an Lohn herauszugeben. Da der
Lohn nun auf Grund des ihn bestimmenden sogenannten
ehernen Gesetzes sich so stellt, daß er durchschnittlich
die gewohnheitsgemäßen Bedürfnisse der Arbeiterfamilie
decken muß, so ist es das entschiedenste Jnteresse der Ka-
pitalmacht, nicht zwei Arme, sondern sechs oder zehn, sich
von der Arbeiterfamilie für den Lohn zur Verfügung stellen
zu lassen, also Frauen= und Kinderarbeit in möglichst aus-
gedehntem Maße einzuführen. Auch was die augenblickli-
chen Schwankungen des Lohnes und die Einführung Ar-
beiter ersparender Maschinen betrifft, so liegt es auf der
Hand, daß den Kapitalisten eine solche Vermehrung des
Angebots von Arbeitskraft höchlichst willkommen sein muß,
um die Löhne zu drücken.

Mit eiserner Konsequenz sehen wir daher in allen
Culturländern die Kapitalmacht bestrebt, eine jede Chance,
welche sich bietet, zu benutzen, um die Frauen= und Kinder-
arbeit zu vermehren. Vor Allem läßt sich dies an der
englischen Jndustrie verfolgen. Jede Verbesserung der Ma-
schinerie, welche die Nachfrage nach Arbeitern verminderte,
[Spaltenumbruch] das arbeitende Volk also in Noth brachte und zugleich er-
möglichte, die Arbeit der Männer durch die zarter Frauen
und Kinder zu ersetzen, hatte sofort die Folge, daß sich mit
Schaaren der Letzteren die Fabriken füllten und zähneknir-
schend die männlichen Arbeiter ihnen das Feld räumen
mußten, die Zerstörung ihrer Familien vor Augen.

Die Zerrüttung der Familien, die Entfremdung ihrer
Glieder, die Verwahrlosung der Erziehung und Sitten, war
alsdann ebenso eine nothwendige Folge dieses Systems,
wie der körperliche Ruin der Arbeiterbevölkerung.

Jn der That sind so schwere Gefahren aus dem Um-
sichgreifen der Frauen= und Kinderarbeit für die Völker
erwachsen, daß ganze Generationen zu verkümmern drohten
und mehr oder weniger weitgreifende Verbote und Be-
schränkungen solcher Arbeit auf dem Wege der Gesetzge-
bung erfolgen mußten.

Ueber die heillose, physische und moralische Gefährdung
des Volkswohles durch das Umsichgreifen der Arbeit von
Frauen und Kindern in Fabriken, die Auflösung der
Familien und die Sittenlosigkeit geben wir nachstehend
einige Daten.

Zunächst seien die englischen Verhältnisse in's Auge
gefaßt nach den Reden und Aussagen von Politikern und
Fabrikinspektoren, welche die dortigen unheilvollen Zustände
an's Licht zogen.

Die Arbeit der Weiber löst vor allen Dingen die
Familie gänzlich auf; denn wenn die Frau den Tag über
12--13 Stunden in der Fabrik zubringt, und der Mann
ebendaselbst oder an einem andern Orte arbeitet, was soll
da aus den Kindern werden? Sie wachsen wild auf wie
Unkraut, sie werden zum Verwahren ausgemiethet für einen
oder anderthalb Shilling die Woche, und welch' eine Be-
handlung ihnen da wird, läßt sich denken.

Daher vermehren sich auch in den Fabrikdistricten die
Unglücksfälle, denen kleine Kinder wegen Mangel an Auf-
sicht zum Opfer fallen, auf eine schreckenerregende Weise.

Die Listen des Todtenschaubeamten von Manchester
hatten in 9 Monaten 69 durch Verbrennung, 56 durch
Ertrinken, 23 durch Fallen, 77 durch andere Unglücksfälle
Getödtete, also im Ganzen 225 Unglücksfälle aufzuweisen,
während in dem nichtfabricirenden Liverpool während zwölf
Monaten nur 146 tödtliche Unglücksfälle vorkamen. Die
Unglücksfälle in den Kohlengruben sind bei beiden Städten
ausgeschlossen.

Daß die allgemeine Sterblichkeit kleiner Kinder eben-
falls durch die Arbeit der Mütter gehoben wird, versteht
sich von selbst und ist durch Thatsachen außer allen Zweifel
gesetzt. Die Frauen kommen oft schon drei bis vier Tage
nach der Niederkunft wieder in die Fabrik und lassen ihren
Säugling natürlich zurück; in den Freistunden müssen sie
eilig nach Hause laufen, um das Kind zu stillen und neben-
bei selbst etwas zu genießen -- was das für eine Stellung
sein muß, ist klar.

Lord Ashley gibt die Aussagen einiger Arbeiterinnen:

M. H., zwanzig Jahre alt, hat zwei Kinder, das jüngste
ein Säugling, das von dem andern etwas älteren verwahrt
wird -- sie geht Morgens bald nach fünf Uhr in die
Fabrik und kommt um 8 Uhr Abends zurück; den Tag
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 76
[Beginn Spaltensatz] letzte zwar auch schwer genug das Familienleben, die heu-
tige Gesellschaft aber greift es unmerklicher, wiewohl noch
gefährlicher an, denn wie ein Wurm, der das Jnnerste des
Keimes zerfrißt, so verhetzen die modernen Verhältnisse die
Familienglieder untereinander, zwingen sie, sich auszubeuten,
sich Konkurrenz zu machen und nehmen so den wesentlichen
Jnhalt des Familienlebens fort.

Leicht ersichtlich ist, daß durch solche zerstörenden Ele-
mente, wenn sie dauernd sich einnisten könnten, die ganze
menschliche Kulturentwicklung gehemmt sein würde, denn
wie kann man erwarten, daß die heranwachsende Jugend
liebevoll geleitet und erzogen werde, also edle, menschliche
Jdeen in sich aufnehmen könnte, wenn Vater und Mutter
sich gegenseitig sowie den Kindern mit der Kälte berechnen-
der Geschäftsleute in den wenigen Tagesstunden, wo sie
mit einander zusammentreffen, gegenüberstehen.

Wir brauchen wohl kaum besonders hervorzuheben,
daß es vornehmlich die Frauenarbeit außerhalb des häus-
lichen Familienkreises ist, an die sich eben solche Kinder-
arbeit schließt, wodurch diese schmachvollen Zustände herbei-
geführt werden; desgleichen wirkt auch die Schwierigkeit
der Eheschließung in Folge der Lage der Fabrikarbeiterinnen,
weiblichen Dienstboten u. s. w. störend auf das Familien-
leben des Volkes ein und erzeugt die widrige Nachtseite
der heutigen Gesellschaft, die Prostitution.

Der Menschenfreund müßte verzweifeln gegenüber diesen
am gesunden Volksleben nagenden Krebsschäden, wenn es
ihm nicht zum Trost gereichte, daß, je störender die Zustände
in's Familienleben eingreifen, je mehr Gegendruck von
diesem Druck erzeugt wird und je energischer das Volk
dahin streben wird, die aufgelöste Familie dauernd dadurch
wieder herzustellen, daß es die Menschheit zum gemeinsamen
brüderlichen Familienleben vereint.

Doch sehen wir uns zunächst die Art und Weise an,
wie die moderne Produktion das Familienleben unterwühlt.

Die Kapitalmacht steht als Feind der Arbeit gegen-
über; sie strebt von dem nationalen Arbeitsertrag möglichst
viel an sich zu reißen und möglichst wenig zum Unterhalt
des arbeitenden Volkes an Lohn herauszugeben. Da der
Lohn nun auf Grund des ihn bestimmenden sogenannten
ehernen Gesetzes sich so stellt, daß er durchschnittlich
die gewohnheitsgemäßen Bedürfnisse der Arbeiterfamilie
decken muß, so ist es das entschiedenste Jnteresse der Ka-
pitalmacht, nicht zwei Arme, sondern sechs oder zehn, sich
von der Arbeiterfamilie für den Lohn zur Verfügung stellen
zu lassen, also Frauen= und Kinderarbeit in möglichst aus-
gedehntem Maße einzuführen. Auch was die augenblickli-
chen Schwankungen des Lohnes und die Einführung Ar-
beiter ersparender Maschinen betrifft, so liegt es auf der
Hand, daß den Kapitalisten eine solche Vermehrung des
Angebots von Arbeitskraft höchlichst willkommen sein muß,
um die Löhne zu drücken.

Mit eiserner Konsequenz sehen wir daher in allen
Culturländern die Kapitalmacht bestrebt, eine jede Chance,
welche sich bietet, zu benutzen, um die Frauen= und Kinder-
arbeit zu vermehren. Vor Allem läßt sich dies an der
englischen Jndustrie verfolgen. Jede Verbesserung der Ma-
schinerie, welche die Nachfrage nach Arbeitern verminderte,
[Spaltenumbruch] das arbeitende Volk also in Noth brachte und zugleich er-
möglichte, die Arbeit der Männer durch die zarter Frauen
und Kinder zu ersetzen, hatte sofort die Folge, daß sich mit
Schaaren der Letzteren die Fabriken füllten und zähneknir-
schend die männlichen Arbeiter ihnen das Feld räumen
mußten, die Zerstörung ihrer Familien vor Augen.

Die Zerrüttung der Familien, die Entfremdung ihrer
Glieder, die Verwahrlosung der Erziehung und Sitten, war
alsdann ebenso eine nothwendige Folge dieses Systems,
wie der körperliche Ruin der Arbeiterbevölkerung.

Jn der That sind so schwere Gefahren aus dem Um-
sichgreifen der Frauen= und Kinderarbeit für die Völker
erwachsen, daß ganze Generationen zu verkümmern drohten
und mehr oder weniger weitgreifende Verbote und Be-
schränkungen solcher Arbeit auf dem Wege der Gesetzge-
bung erfolgen mußten.

Ueber die heillose, physische und moralische Gefährdung
des Volkswohles durch das Umsichgreifen der Arbeit von
Frauen und Kindern in Fabriken, die Auflösung der
Familien und die Sittenlosigkeit geben wir nachstehend
einige Daten.

Zunächst seien die englischen Verhältnisse in's Auge
gefaßt nach den Reden und Aussagen von Politikern und
Fabrikinspektoren, welche die dortigen unheilvollen Zustände
an's Licht zogen.

Die Arbeit der Weiber löst vor allen Dingen die
Familie gänzlich auf; denn wenn die Frau den Tag über
12—13 Stunden in der Fabrik zubringt, und der Mann
ebendaselbst oder an einem andern Orte arbeitet, was soll
da aus den Kindern werden? Sie wachsen wild auf wie
Unkraut, sie werden zum Verwahren ausgemiethet für einen
oder anderthalb Shilling die Woche, und welch' eine Be-
handlung ihnen da wird, läßt sich denken.

Daher vermehren sich auch in den Fabrikdistricten die
Unglücksfälle, denen kleine Kinder wegen Mangel an Auf-
sicht zum Opfer fallen, auf eine schreckenerregende Weise.

Die Listen des Todtenschaubeamten von Manchester
hatten in 9 Monaten 69 durch Verbrennung, 56 durch
Ertrinken, 23 durch Fallen, 77 durch andere Unglücksfälle
Getödtete, also im Ganzen 225 Unglücksfälle aufzuweisen,
während in dem nichtfabricirenden Liverpool während zwölf
Monaten nur 146 tödtliche Unglücksfälle vorkamen. Die
Unglücksfälle in den Kohlengruben sind bei beiden Städten
ausgeschlossen.

Daß die allgemeine Sterblichkeit kleiner Kinder eben-
falls durch die Arbeit der Mütter gehoben wird, versteht
sich von selbst und ist durch Thatsachen außer allen Zweifel
gesetzt. Die Frauen kommen oft schon drei bis vier Tage
nach der Niederkunft wieder in die Fabrik und lassen ihren
Säugling natürlich zurück; in den Freistunden müssen sie
eilig nach Hause laufen, um das Kind zu stillen und neben-
bei selbst etwas zu genießen — was das für eine Stellung
sein muß, ist klar.

Lord Ashley gibt die Aussagen einiger Arbeiterinnen:

M. H., zwanzig Jahre alt, hat zwei Kinder, das jüngste
ein Säugling, das von dem andern etwas älteren verwahrt
wird — sie geht Morgens bald nach fünf Uhr in die
Fabrik und kommt um 8 Uhr Abends zurück; den Tag
[Ende Spaltensatz]

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[76/0004] Zur Unterhaltung und Belehrung. 76 letzte zwar auch schwer genug das Familienleben, die heu- tige Gesellschaft aber greift es unmerklicher, wiewohl noch gefährlicher an, denn wie ein Wurm, der das Jnnerste des Keimes zerfrißt, so verhetzen die modernen Verhältnisse die Familienglieder untereinander, zwingen sie, sich auszubeuten, sich Konkurrenz zu machen und nehmen so den wesentlichen Jnhalt des Familienlebens fort. Leicht ersichtlich ist, daß durch solche zerstörenden Ele- mente, wenn sie dauernd sich einnisten könnten, die ganze menschliche Kulturentwicklung gehemmt sein würde, denn wie kann man erwarten, daß die heranwachsende Jugend liebevoll geleitet und erzogen werde, also edle, menschliche Jdeen in sich aufnehmen könnte, wenn Vater und Mutter sich gegenseitig sowie den Kindern mit der Kälte berechnen- der Geschäftsleute in den wenigen Tagesstunden, wo sie mit einander zusammentreffen, gegenüberstehen. 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Die Zerrüttung der Familien, die Entfremdung ihrer Glieder, die Verwahrlosung der Erziehung und Sitten, war alsdann ebenso eine nothwendige Folge dieses Systems, wie der körperliche Ruin der Arbeiterbevölkerung. Jn der That sind so schwere Gefahren aus dem Um- sichgreifen der Frauen= und Kinderarbeit für die Völker erwachsen, daß ganze Generationen zu verkümmern drohten und mehr oder weniger weitgreifende Verbote und Be- schränkungen solcher Arbeit auf dem Wege der Gesetzge- bung erfolgen mußten. Ueber die heillose, physische und moralische Gefährdung des Volkswohles durch das Umsichgreifen der Arbeit von Frauen und Kindern in Fabriken, die Auflösung der Familien und die Sittenlosigkeit geben wir nachstehend einige Daten. Zunächst seien die englischen Verhältnisse in's Auge gefaßt nach den Reden und Aussagen von Politikern und Fabrikinspektoren, welche die dortigen unheilvollen Zustände an's Licht zogen. 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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 4. Lieferung. Berlin, 9. April 1873, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social04_1873/4>, abgerufen am 22.11.2024.