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Social-politische Blätter. 2. Lieferung. Berlin, 3. Februar 1873.

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Zur Unterheltung und Belehrung. 40
[Beginn Spaltensatz] Thorstens und segelte mit Hengist nach Brittannien; von seiner
Tochter Frigga handelt das Lied, welches Gudrun eben sang.

-- Wer bist Du, daß Du meine Familie so genau kennst?
Nur mein Vater hat Dir alles Das mittheilen können. Hast
Du ihn gekannt?

-- Ja.

-- Wo?

-- Hast Du nicht bemerkt, daß Dein Vater, wenn sein
Schiff in die Elbe eingelaufen war, bisweilen einige Tage sich
entfernte?

-- Allerdings, aber ich habe nicht erfahren warum.

-- Dein Vater besuchte dann eine arme Leibeigene des Bi-
schofs von Hamburg in der Nähe dieser Stadt. Sie hatte vor
etwa dreißig Jahren einst Deinen Vater, der damals Führer der
Freibeuter war, verwundet, fast dem Tode nahe in ihre Hütte
gebracht, in der sie mit ihrer Mutter wohnte. Dein Vater war
ungefähr zwanzig Jahre alt. Das Mädchen stand in dem Alter
des Kindes, das da bei uns schläft. Beide liebten einander.
Kaum war Dein Vater von seiner Wunde beinahe genesen, so
überraschte ihn eines Tages der Auffeher des Bischofs in der
Hütte und wollte ihn als Gefangenen mit nach Hamburg neh-
men. Dein Vater wehrte sich aber, erschlug den Mann und kam
zu den Freibeutern zurück.

-- Und die junge Leibeigene?

-- Wurde Mutter und gebar einen Sohn.

-- So habe ich einen Bruder? Kennst Du ihn? Was ist
aus ihm geworden?

-- Der Sohn einer Leibeigenen ist durch seine Geburt
Leibeigener und gehört dem Herrn seiner Mutter. Als das Kind,
das Dein Vater Falke nannte, vier oder fünf Jahre alt war,
ließ es der Bischof von Hamburg, der Talente in ihm erkannte,
in die Episcopalschule bringen, wo es mit Andern für die Kirche
erzogen wurde Von Zeit zu Zeit besuchte Beerwulf, wenn die
Seekönige in der Elbe ankerten, die Mutter seines Sohnes, der,
von ihr benachrichtigt, Mittel fand, sich in die Hütte zu begeben.
Da sprachen Vater und Sohn lange von den vergangenen Zeiten,
vom Vaterland, das einst frei und glücklich gewesen. Falke, den
der Vater gern mit sich genommen hätte, war sanften Charakters
und fürchtete sich vor dem abenteuerlichen Leben. Die Jahre
vergingen; Dein Bruder hätte, wenn er gewollt, sein Glück
in der Kirche machen können, aber er verließ das Haus und be-
gab sich zu mehreren ackerbauenden Eremiten; er hatte einen der-
selben in Hamburg kennen gelernt.

-- Diese Eremiten haben also eine Art Colonie gegründet?

-- Mehrere hatten sich in tiefer Einsamkeit niedergelassen,
um verwüstete und seit der Eroberung verlassene Ländereien zu
bebauen, -- einfache gutmüthige Menschen, die den Vorschriften
des Evangeliums treu blieben, welche von gar vielen Hohen-
priestern verfälscht oder gar verleugnet werden Diese Mönche
lebten in der Ehelosigkeit, legten aber keine Gelübde ab; sie blie-
ben auch Laien und hatten durchaus keinen geistlichen Charakter.
Erst seit einigen Jahren erlangten es die meisten der Mönche, in
die Kirche einzutreten, aber wenn sie Priester geworden, verlieren
sie von Tag zu Tag von ihrer Beliebtheit bei dem Volke und
von der Unabhängigkeit, die sie den Bischöfen so furchtbar macht.
Jn der Zeit, von der ich spreche, war das Leben dieser acker-
bauenden Eremiten ein friedliches und arbeitsames; sie lebten
nach den Vorschriften Jesus als Brüder, bearbeiteten gemeinsam
ihre Ländereien und vertheidigten sie gemeinsam, wenn Schaaren
von Dänen, die von einer Burg zur andern zogen, muthwillig
die Felder zu verwüsten suchten.

-- Sie gefallen mir, diese Eremiten, Ackerleute und Krieger,
die treu den Vorschriften Jesus, der Liebe zu dem Vaterlande
[Spaltenumbruch] und dem Hasse gegen die Unterdrücker waren. Sie schlugen sich
gut, sagst Du. Waren sie bewaffnet?

-- Sie hatten Waffen, ja und mehr.

-- Wie meinst Du das?

-- Sie da, antwortete der Eremit, der unter seiner Kutte
ein kleines Schwerdt oder einen langen Dolch mit eisernem Griffe
hervorzog. Betrachte diese Waffe, aber ich sage Dir, ihre Stärke
liegt nicht in der Klinge.

-- Worin sonst? fragte Siegfried, der den Dolch genauer
betrachtete. Die Klinge scheint gut gestählt zu sein.

-- Nicht die Klinge, sage ich Dir, macht sie werthvoll, son-
dern die Worte, die auf dem Griffe eingegraben sind.

-- Jch lese, sprach darauf Siegfried, an dem Griffe das
Wort "Ghilde." Das ist wohl der Wahlspruch der ackerbauenden
Eremiten?

-- Vielleicht.

-- Das Wort "Ghilde" auf dem Eisen da giebt Deiner Mei-
nung nach den Waffen Kraft?

-- Ja, denn dies Wort kann Wunder wirken.

-- Erkläre Dich näher.

-- Einer der ackerbauenden Mönche hatte, ehe er sich mit
uns verband, an der See gelebt. Vor langen Jahren war er
als Kind bei einer Landung der Freibeuter, die von der Weser
kamen mit in deren Heimath genommen worden; bei seinem Aufent-
halte daselbst bemerkte er, daß diese eine unermeßliche Stärke in
Verbindungen fanden, bei denen Einer für Alle und Alle für
Einen verantwortlich waren, verantwortlich durch Brüderlichkeit,
durch Beistand, Güter, Waffen, im Nothfall, selbst durch das
Leben. Diese Verbindungen bestanden in jenen Ländern schon
mehrere Jahrhunderte und hießen "Ghilde." Später, da dieser Ge-
fangene ihnen entkommen war, schloß er sich uns an.

-- Warum schweigst Du mit einemmale?

-- Jch kann Dir nicht mehr sagen. Ein Eid bindet mich,
zu schweigen. Mein Vertrauen könnte auch zu weit führen.

-- Jch muß Dein Geheimniß achten. Aber ich fühle das
Vertrauen, das ich Dir einflöße, auch für Dich, ob wir gleich
Fremde für einander sind. Fremde? Nein, denn Du kennst die
Geschichte meiner Familie besser als ich selbst. Aber da fällt
mir wieder ein, daß Du mir sagtest, mein Bruder habe jenen
Eremiten angehört, unter denen Du Dich auch befindest. Du
mußt ihn genau gekannt haben, denn nur er konnte Dir die
Nachrichten geben, die er wahrscheinlich von meinem Vater kannte.
Du schweigst? Warum siehst Du mich so an? Dein Schweigen
bringt mich in Verlegenheit und rührt mich unwillkührlich; Deine
Augen füllen sich mit Thränen..

-- Siegfried, Dein Bruder wurde vor dreißig Jahren ge-
boren. Er steht in meinem Alter.

-- Was sagst Du?

-- Dein Bruder heißt Falke, -- wie ich.

-- Und dieser Bruder?

-- Bin ich.

-- Himmlische Freude!

Der Eremit und der Landstreicher hielten einander lange in
den Armen.. Dann fragte Siegfried den Bruder:

-- Und weist Du etwas von unserem Vater?

-- Jch kenne sein Schicksal so wenig wie Du; aber laß uns
die Hoffnung nicht aufgeben, ihn wiederzufinden. Habe ich nicht
auch Dich gefunden?

-- Dein brüderlicher Jnstinct also trieb Dich, mich zu be-
gleiten?

-- Jch erkannte Dich als meinen Bruder nur an Deiner
Rührung über das Lied von Frigga, welches Gudrun sang.
Da war es mir kein Zweifel mehr, daß wir Brüder oder doch
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterheltung und Belehrung. 40
[Beginn Spaltensatz] Thorstens und segelte mit Hengist nach Brittannien; von seiner
Tochter Frigga handelt das Lied, welches Gudrun eben sang.

— Wer bist Du, daß Du meine Familie so genau kennst?
Nur mein Vater hat Dir alles Das mittheilen können. Hast
Du ihn gekannt?

— Ja.

— Wo?

— Hast Du nicht bemerkt, daß Dein Vater, wenn sein
Schiff in die Elbe eingelaufen war, bisweilen einige Tage sich
entfernte?

— Allerdings, aber ich habe nicht erfahren warum.

— Dein Vater besuchte dann eine arme Leibeigene des Bi-
schofs von Hamburg in der Nähe dieser Stadt. Sie hatte vor
etwa dreißig Jahren einst Deinen Vater, der damals Führer der
Freibeuter war, verwundet, fast dem Tode nahe in ihre Hütte
gebracht, in der sie mit ihrer Mutter wohnte. Dein Vater war
ungefähr zwanzig Jahre alt. Das Mädchen stand in dem Alter
des Kindes, das da bei uns schläft. Beide liebten einander.
Kaum war Dein Vater von seiner Wunde beinahe genesen, so
überraschte ihn eines Tages der Auffeher des Bischofs in der
Hütte und wollte ihn als Gefangenen mit nach Hamburg neh-
men. Dein Vater wehrte sich aber, erschlug den Mann und kam
zu den Freibeutern zurück.

— Und die junge Leibeigene?

— Wurde Mutter und gebar einen Sohn.

— So habe ich einen Bruder? Kennst Du ihn? Was ist
aus ihm geworden?

— Der Sohn einer Leibeigenen ist durch seine Geburt
Leibeigener und gehört dem Herrn seiner Mutter. Als das Kind,
das Dein Vater Falke nannte, vier oder fünf Jahre alt war,
ließ es der Bischof von Hamburg, der Talente in ihm erkannte,
in die Episcopalschule bringen, wo es mit Andern für die Kirche
erzogen wurde Von Zeit zu Zeit besuchte Beerwulf, wenn die
Seekönige in der Elbe ankerten, die Mutter seines Sohnes, der,
von ihr benachrichtigt, Mittel fand, sich in die Hütte zu begeben.
Da sprachen Vater und Sohn lange von den vergangenen Zeiten,
vom Vaterland, das einst frei und glücklich gewesen. Falke, den
der Vater gern mit sich genommen hätte, war sanften Charakters
und fürchtete sich vor dem abenteuerlichen Leben. Die Jahre
vergingen; Dein Bruder hätte, wenn er gewollt, sein Glück
in der Kirche machen können, aber er verließ das Haus und be-
gab sich zu mehreren ackerbauenden Eremiten; er hatte einen der-
selben in Hamburg kennen gelernt.

— Diese Eremiten haben also eine Art Colonie gegründet?

— Mehrere hatten sich in tiefer Einsamkeit niedergelassen,
um verwüstete und seit der Eroberung verlassene Ländereien zu
bebauen, — einfache gutmüthige Menschen, die den Vorschriften
des Evangeliums treu blieben, welche von gar vielen Hohen-
priestern verfälscht oder gar verleugnet werden Diese Mönche
lebten in der Ehelosigkeit, legten aber keine Gelübde ab; sie blie-
ben auch Laien und hatten durchaus keinen geistlichen Charakter.
Erst seit einigen Jahren erlangten es die meisten der Mönche, in
die Kirche einzutreten, aber wenn sie Priester geworden, verlieren
sie von Tag zu Tag von ihrer Beliebtheit bei dem Volke und
von der Unabhängigkeit, die sie den Bischöfen so furchtbar macht.
Jn der Zeit, von der ich spreche, war das Leben dieser acker-
bauenden Eremiten ein friedliches und arbeitsames; sie lebten
nach den Vorschriften Jesus als Brüder, bearbeiteten gemeinsam
ihre Ländereien und vertheidigten sie gemeinsam, wenn Schaaren
von Dänen, die von einer Burg zur andern zogen, muthwillig
die Felder zu verwüsten suchten.

— Sie gefallen mir, diese Eremiten, Ackerleute und Krieger,
die treu den Vorschriften Jesus, der Liebe zu dem Vaterlande
[Spaltenumbruch] und dem Hasse gegen die Unterdrücker waren. Sie schlugen sich
gut, sagst Du. Waren sie bewaffnet?

— Sie hatten Waffen, ja und mehr.

— Wie meinst Du das?

— Sie da, antwortete der Eremit, der unter seiner Kutte
ein kleines Schwerdt oder einen langen Dolch mit eisernem Griffe
hervorzog. Betrachte diese Waffe, aber ich sage Dir, ihre Stärke
liegt nicht in der Klinge.

— Worin sonst? fragte Siegfried, der den Dolch genauer
betrachtete. Die Klinge scheint gut gestählt zu sein.

— Nicht die Klinge, sage ich Dir, macht sie werthvoll, son-
dern die Worte, die auf dem Griffe eingegraben sind.

— Jch lese, sprach darauf Siegfried, an dem Griffe das
Wort „Ghilde.“ Das ist wohl der Wahlspruch der ackerbauenden
Eremiten?

— Vielleicht.

— Das Wort „Ghilde“ auf dem Eisen da giebt Deiner Mei-
nung nach den Waffen Kraft?

— Ja, denn dies Wort kann Wunder wirken.

— Erkläre Dich näher.

— Einer der ackerbauenden Mönche hatte, ehe er sich mit
uns verband, an der See gelebt. Vor langen Jahren war er
als Kind bei einer Landung der Freibeuter, die von der Weser
kamen mit in deren Heimath genommen worden; bei seinem Aufent-
halte daselbst bemerkte er, daß diese eine unermeßliche Stärke in
Verbindungen fanden, bei denen Einer für Alle und Alle für
Einen verantwortlich waren, verantwortlich durch Brüderlichkeit,
durch Beistand, Güter, Waffen, im Nothfall, selbst durch das
Leben. Diese Verbindungen bestanden in jenen Ländern schon
mehrere Jahrhunderte und hießen „Ghilde.“ Später, da dieser Ge-
fangene ihnen entkommen war, schloß er sich uns an.

— Warum schweigst Du mit einemmale?

— Jch kann Dir nicht mehr sagen. Ein Eid bindet mich,
zu schweigen. Mein Vertrauen könnte auch zu weit führen.

— Jch muß Dein Geheimniß achten. Aber ich fühle das
Vertrauen, das ich Dir einflöße, auch für Dich, ob wir gleich
Fremde für einander sind. Fremde? Nein, denn Du kennst die
Geschichte meiner Familie besser als ich selbst. Aber da fällt
mir wieder ein, daß Du mir sagtest, mein Bruder habe jenen
Eremiten angehört, unter denen Du Dich auch befindest. Du
mußt ihn genau gekannt haben, denn nur er konnte Dir die
Nachrichten geben, die er wahrscheinlich von meinem Vater kannte.
Du schweigst? Warum siehst Du mich so an? Dein Schweigen
bringt mich in Verlegenheit und rührt mich unwillkührlich; Deine
Augen füllen sich mit Thränen..

— Siegfried, Dein Bruder wurde vor dreißig Jahren ge-
boren. Er steht in meinem Alter.

— Was sagst Du?

— Dein Bruder heißt Falke, — wie ich.

— Und dieser Bruder?

— Bin ich.

— Himmlische Freude!

Der Eremit und der Landstreicher hielten einander lange in
den Armen.. Dann fragte Siegfried den Bruder:

— Und weist Du etwas von unserem Vater?

— Jch kenne sein Schicksal so wenig wie Du; aber laß uns
die Hoffnung nicht aufgeben, ihn wiederzufinden. Habe ich nicht
auch Dich gefunden?

— Dein brüderlicher Jnstinct also trieb Dich, mich zu be-
gleiten?

— Jch erkannte Dich als meinen Bruder nur an Deiner
Rührung über das Lied von Frigga, welches Gudrun sang.
Da war es mir kein Zweifel mehr, daß wir Brüder oder doch
[Ende Spaltensatz]

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Falke, den der Vater gern mit sich genommen hätte, war sanften Charakters und fürchtete sich vor dem abenteuerlichen Leben. Die Jahre vergingen; Dein Bruder hätte, wenn er gewollt, sein Glück in der Kirche machen können, aber er verließ das Haus und be- gab sich zu mehreren ackerbauenden Eremiten; er hatte einen der- selben in Hamburg kennen gelernt. — Diese Eremiten haben also eine Art Colonie gegründet? — Mehrere hatten sich in tiefer Einsamkeit niedergelassen, um verwüstete und seit der Eroberung verlassene Ländereien zu bebauen, — einfache gutmüthige Menschen, die den Vorschriften des Evangeliums treu blieben, welche von gar vielen Hohen- priestern verfälscht oder gar verleugnet werden Diese Mönche lebten in der Ehelosigkeit, legten aber keine Gelübde ab; sie blie- ben auch Laien und hatten durchaus keinen geistlichen Charakter. Erst seit einigen Jahren erlangten es die meisten der Mönche, in die Kirche einzutreten, aber wenn sie Priester geworden, verlieren sie von Tag zu Tag von ihrer Beliebtheit bei dem Volke und von der Unabhängigkeit, die sie den Bischöfen so furchtbar macht. Jn der Zeit, von der ich spreche, war das Leben dieser acker- bauenden Eremiten ein friedliches und arbeitsames; sie lebten nach den Vorschriften Jesus als Brüder, bearbeiteten gemeinsam ihre Ländereien und vertheidigten sie gemeinsam, wenn Schaaren von Dänen, die von einer Burg zur andern zogen, muthwillig die Felder zu verwüsten suchten. — Sie gefallen mir, diese Eremiten, Ackerleute und Krieger, die treu den Vorschriften Jesus, der Liebe zu dem Vaterlande und dem Hasse gegen die Unterdrücker waren. Sie schlugen sich gut, sagst Du. Waren sie bewaffnet? — Sie hatten Waffen, ja und mehr. — Wie meinst Du das? — Sie da, antwortete der Eremit, der unter seiner Kutte ein kleines Schwerdt oder einen langen Dolch mit eisernem Griffe hervorzog. Betrachte diese Waffe, aber ich sage Dir, ihre Stärke liegt nicht in der Klinge. — Worin sonst? fragte Siegfried, der den Dolch genauer betrachtete. Die Klinge scheint gut gestählt zu sein. — Nicht die Klinge, sage ich Dir, macht sie werthvoll, son- dern die Worte, die auf dem Griffe eingegraben sind. — Jch lese, sprach darauf Siegfried, an dem Griffe das Wort „Ghilde.“ Das ist wohl der Wahlspruch der ackerbauenden Eremiten? — Vielleicht. — Das Wort „Ghilde“ auf dem Eisen da giebt Deiner Mei- nung nach den Waffen Kraft? — Ja, denn dies Wort kann Wunder wirken. — Erkläre Dich näher. — Einer der ackerbauenden Mönche hatte, ehe er sich mit uns verband, an der See gelebt. Vor langen Jahren war er als Kind bei einer Landung der Freibeuter, die von der Weser kamen mit in deren Heimath genommen worden; bei seinem Aufent- halte daselbst bemerkte er, daß diese eine unermeßliche Stärke in Verbindungen fanden, bei denen Einer für Alle und Alle für Einen verantwortlich waren, verantwortlich durch Brüderlichkeit, durch Beistand, Güter, Waffen, im Nothfall, selbst durch das Leben. Diese Verbindungen bestanden in jenen Ländern schon mehrere Jahrhunderte und hießen „Ghilde.“ Später, da dieser Ge- fangene ihnen entkommen war, schloß er sich uns an. — Warum schweigst Du mit einemmale? — Jch kann Dir nicht mehr sagen. Ein Eid bindet mich, zu schweigen. Mein Vertrauen könnte auch zu weit führen. — Jch muß Dein Geheimniß achten. Aber ich fühle das Vertrauen, das ich Dir einflöße, auch für Dich, ob wir gleich Fremde für einander sind. Fremde? Nein, denn Du kennst die Geschichte meiner Familie besser als ich selbst. Aber da fällt mir wieder ein, daß Du mir sagtest, mein Bruder habe jenen Eremiten angehört, unter denen Du Dich auch befindest. Du mußt ihn genau gekannt haben, denn nur er konnte Dir die Nachrichten geben, die er wahrscheinlich von meinem Vater kannte. Du schweigst? Warum siehst Du mich so an? Dein Schweigen bringt mich in Verlegenheit und rührt mich unwillkührlich; Deine Augen füllen sich mit Thränen.. — Siegfried, Dein Bruder wurde vor dreißig Jahren ge- boren. Er steht in meinem Alter. — Was sagst Du? — Dein Bruder heißt Falke, — wie ich. — Und dieser Bruder? — Bin ich. — Himmlische Freude! Der Eremit und der Landstreicher hielten einander lange in den Armen.. Dann fragte Siegfried den Bruder: — Und weist Du etwas von unserem Vater? — Jch kenne sein Schicksal so wenig wie Du; aber laß uns die Hoffnung nicht aufgeben, ihn wiederzufinden. Habe ich nicht auch Dich gefunden? — Dein brüderlicher Jnstinct also trieb Dich, mich zu be- gleiten? — Jch erkannte Dich als meinen Bruder nur an Deiner Rührung über das Lied von Frigga, welches Gudrun sang. Da war es mir kein Zweifel mehr, daß wir Brüder oder doch

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 2. Lieferung. Berlin, 3. Februar 1873, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social02_1873/16>, abgerufen am 21.11.2024.