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Reichspost. Nr. 179, Wien, 08.08.1905.

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Wien, Dienstag Reichspost 8. August 1905 179

[Spaltenumbruch]
Die Unruhen in Traisen.

Anläßlich des Exzesses der Kroaten hatten die
Sozialdemokraten des ganzen industriereichen Traisen-
tales für gestern Sonntag einen Demonstrations-
umzug in Traisen beschlossen, an dem von den
Werken in Traisen, Marktl, Lilienfeld. Wilhelms-
burg, Hainfeld, St. Pölten, Schrambach etc. insge-
samt 5000 Arbeiter teilnehmen sollten. Man be-
fürchtete ernsthafte Unruhen.

Am Freitag nachts wurde das Infanterie-
regiment Nr. 84 in Bruck an der Leitha -- das
Regiment war erst vor wenigen Tagen aus Krems
dort angelangt -- alarmiert und Samstag
mit einem 45 Wagen langen Separat-
zug nach Scheibmühl gebracht. Da das
Regiment derzeit durch die Reservisten verstärkt ist,
zählt es 1300 Mann, 60 Offiziere und 30 Pferde.
Zugleich kamen zwei Eskadronen der in Wiener-
Neustadt garnisonierenden Dragoner in Scheibmühl
an. Von hier aus erfolgte der Abmarsch der Truppen
nach Traisen, wo die Einquartierung vorgenommen
wurde. Traisen glich mit einem Male einem Feld-
lager. Die Bevölkerung nahm die Soldaten freudig
und beruhigt auf.

Tatsächlich verlief der Sonntag ruhig. Die
Streikenden in Traisen -- es sind blos 191 Familien-
väter und 60 ledige Arbeiter in Traisen --
rüsteten sich Mittags zum Empfange ihrer
Genossen. Um 1 Uhr ertönten Hornsignale und auf
dem Hauptplatze sammelten sich zwei Bataillone In-
fanterie, die am rechten Traisenufer Aufstellung
nahmen, ein Bataillon postierte sich hinter der
Fabrik des Alfred von Lenz, vor der zwanzig Gen-
darmen standen. Während dieses Aufmarsches ging
ein heftiger Regen nieder, der bis Abends anhielt.
Zwei Stunden nach dem Aufmarsch kamen etwa
3000 Sozialdemokraten aus dem ganzen Traisentale
und -- flüchteten vor den Regengüssen in die Wirts-
häuser. Ein kleiner Teil hörte am Hauptplatze dem
Schuhmeier zu, dann gab es die usuellen Pfuirufe.
Um 5 Uhr zogen die Sozialdemokraten ab. Der
Regen und das Militäraufgebot hatten die Ruhe
aufrecht erhalten.




Telegramme.
Der König von Spanien vom Pferde
gestürzt.

Gestern nach-
mittags ist der König auf einem Spazierritt vom
Pferde gestürzt, ohne Schaden ge-
nommen
zu haben.

Skupschtina-Wahlen.

Bei der gestrigen
Skupschtina-Nachwahl in Prokuplje wurde ein
Nationalist gewählt.

Der Streik in Longwy.

Wie der "Figaro" aus
Longwy meldet, ist es in Saulnes zwischen
Truppen und Bergarbeitern zu einem Zusammen-
stoß gekommen, bei welchem mehrere Per-
sonen verwundet
wurden.

Anatomenkongreß.

Heute wurde der erste
internationale Kongreß für Anatomie eröffnet.
An demselben nahmen 260 Personen teil, dar-
unter Vertreter der großen Vereinigungen Deutsch-
lands, Frankreichs, Englands, Amerikas und
Italiens.

Das gelbe Fieber.

Heute sind
acht Personen an gelbem Fieber gestorben.
Dreißig neue Fälle
wurden angezeigt.




Die Vorgänge in Angarn.
Der Zerfall der liberalen Partei.

Baron Podmaniczky, der rücktrittslüsterne
Präsident der lebensmüden liberalen Partei, hat die
Mitglieder derselben auf den 23. d., 3 Uhr nach-
mittags, zu einer Beratung einberufen, nachdem
Graf Tisza erklärt hatte, am 17. d., auf welchen
Tag die Abtrünnigen eine Konferenz gewünscht
hatten, an einer Konferenz nicht teilnehmen zu
können. Also am 23. August und nicht am
17. ist der große Lostag, an welchem nicht nur über
das Schicksal der liberalen Partei in Ungarn ent-
schieden, sondern auch die ungarische Krise in das
Stadium der Entscheidung treten wird.

Aus der Zuschrift, die von den liberalen Se-
zessionisten an den Polizeipräsidenten gerichtet wurde,
erfährt man auch authentisch die Namen jener, die
mit dem Austritt gedroht haben. Es sind dies die
Abgeordneten Baron Ernst Daniel, Emerich Szivak,
Graf Stephan Wenckheim, Edmund Miklos, Franz
Nagy, Baltasar Semsey, Dr. Viktor Issekutz, Baron
Simon Revay, Aladar Raisz, Stephan Csepreghy,
Dr. Koloman Fodor, Baron Tibor Daniel, Koloman
Mikszath, Paul Sandor, Julius Vancso, Peter
Apathy, Bela Ragalyi, Franz Justh, Nikolaus Osztro-
[Spaltenumbruch] louczky, Gregor Kardebo, Baron Ivan Sztojanovics,
Eugen Radisich, Koloman Demko.

Der Abgeordnete Emerich Szivak äußerte sich
über die Motive und Tragweite der liberalen
Sonderaktion: "Ich glaube, daß aus unserer Partei
sich höchstens zwei oder drei Abgeordnete der Un-
abhängigkeitspartei anschließen werden. Der Zweck
und das Wesen der ganzen Aktion in der liberalen
Partei ist ja doch, daß unsere Partei die 67 er
Grundlage
rette. Die gegenwärtige Situation
war ohnedies unhaltbar. Es konnte ja ein Ab-
geordnetenkandidat mit dem liberalen Programm
gar nicht mehr auftreten, so sehr war die ganze
Partei im ganzen Lande in Mißkredit gebracht
worden. Die 23 Abgeordneten der liberalen Partei,
die jüngst zusammengetreten sind und mit denen
noch sehr viele Mitglieder der liberalen
Partei vollkommen eines Sinnes sind, haben deshalb
die Bewegung in Fluß gebracht, welche voraussichtlich
die ganze Partei mit sich reißen wird."

Wie aus Ofen-Pest unterm Heutigen tele-
graphiert wird, ist unterdessen wieder der Abgeord-
nete Ladislaus Lazar aus der liberalen Partei
ausgetreten.

Ueber die Unterredung Baron Banffys
mit dem Grafen Andrassy

liegt nun auch eine Aeußerung des letzteren im
"Magyar Hirlap" vor. Graf Andrassy erklärte:
"Weder ich noch Baron Banffy wollten jemals und
wollen auch heute nicht außerhalb der Koalition oder
gar gegen dieselbe vorgehen. Die Koalition hat ihr
Programm. Dieses ist für uns bindend und auf dessen
Grundlage müsse im Interesse der Lösung der Krise
vorgegangen werden. Von einer Vereinigung der
Dissidenten mit der Neuen Partei war keine Rede
und ist keine Rede.... Wir wünschen die Auflösung
der liberalen Partei und deren Annäherung an die
Koalition." -- Sehr ungehalten ist Graf Andrassy
natürlich über die Wahlreformgedanken des Ministers
Kristoffy, die er verächtlich -- vielleicht leider nicht
mit Unrecht -- ein "taktisches Spiel" nennt.

Auch Baron Banffy erklärt im nämlichen Blatte,
daß er nur in und mit der Koalition arbeiten wolle.
Er sehe die Entwirrung nur auf Grundlage des
Programms der Koalition und Grundlagen der
künftigen Gestaltung in der durch ihn vertretenen
1867er Politik. Er schwärme für die 48er Ideen,
aber die reale Grundlage sei in der 1867er Politik
enthalten und auf dieser könne man weiter bauen.
Die Hauptsache ist, daß die liberale Partei aufhört,
welche in Wien den irrigen und gefährlichen Glauben
erwecken könnte, daß man in Ungarn ohne die
Koalition prosperiereu könne und daß hinsichtlich der
nationalen Forderungen nicht sämtliche Ungarn eines
Sinnes seien.

Die Wahlrechtsbewegung.

In Szolnok hielten gestern, wie von dort
telegraphiert wird, die Sozialisten ein Volksversamm-
lung ab. Es wurde eine Resolution einstimmig an-
genommen, wonach die Versammlung die in der
Mehrheit befindliche Koalition auffordert, die
Kabinettsbildung unter Ausschaltung der Forderung
der ungarischen Kommandosprache, die in ihr Pro-
gramm gar nicht aufgenommen war, zu übernehmen
und das versprochene allgemeine geheime Wahlrecht
durchzuführen.




Die Bombe beim Selamlik.
Immer noch auf der Suche.

Mit der Entdeckung der Attentäter ist es
nichts, wenn auch jeden Tag eine andere Version
über den Urheber des Attentats gemeldet wird.
Nach einer Meldung, die aber bereits widerlegt
ist, habe der verhaftete Belgier Yoris zuge-
standen, daß er, obwohl er bereits einen Paß
vom belgischen Konsulate erhalten hatte, zwei
Monate später einen zweiten Paß verlangte und
den ersten dem eigentlichen Attentäter abgetreten
hatte; letzterer soll ein Mitglied des armenisch-
revolutionären Komitees
sein. -- Wäre
man wirklich schon so weit, dann wäre der Tadel
unnötig gewesen, den der erste Sekretär des
Yildiz Tahsin-Pascha namens des Sultans in
einem Brief an den Polizeiminister richtete, in
welchem gesagt wird, der Sultan bedauere
sehr, daß die Polizei den Attentäter nicht
eruieren
konnte. Der Brief wurde allen
Unterabteilungen der Polizei mitgeteilt. Einige
Polizeiagenten wurden verhaftet, weil sie mit
einem gewissen Aristides, der geflüchtet ist und
der den Wagen, auf dem die Bombe explodierte,
beim Zollamte ausgelöst hatte, freundschaftlich
verkehrten.

Sehr drohend klingt es, daß man in Yildiz-
kreisen, also in der Umgebung des Sultans, be-
hauptet, daß die die Untersuchung führende
Yildizkommission bereits alle Per-
sonen,
welche das Attentat verübten, kenne
und jetzt nach dessen Urhebern forsche. Die
Kommission sei bereits deswegen mit der aus-
ländischen Polizei in Verbindung getreten.


[Spaltenumbruch]

Sollte die Yildizkommission mehr wissen als die
Polizei und, wenn sie mehr weiß, warum sagt
sie es nicht, wer der Schuldige ist? Es müssen
hohe und vermögende Herren dabei be-
teiligt gewesen sein. Darauf weist auch folgende
mysteriöse Geschichte hin, die in der "Köln. Vztg."
mitgeteilt wird: Vierzehn Tage vor dem in
Salonichi erfolgten Attentate habe der Bankier
Mehemed Kapandschi in Salonicht ein der Sekte
der Dönmeh, der seit 1650 zum Islam über-
getretenen Juden, angehöriger Millionär, einen
Brief in bulgarischer Sprache mit der An-
kündigung eines Attentats auf den Sultan er-
halten. Er möge deshalb -- Kapandschi besitzt
noch eine Bank in Konstantinopel und besorgt
u. a. die Geschäfte der Tabakregie --
für die Sicherheit seines Hauses Vorsorge
treffen. Dieses Schreiben, von dem Kapandschi
sofort nach Konstatinopel berichtete, ist zweifach
merkwürdig. Der jüdisch-türkische Bankier hat gar
keine Beziehungen zu bulgarischen Kreisen.
Bulgaren hatten also auch keine Ursache, den
Mann vor Schaden zu bewahren, da er noch keine
bulgarischen Gelder in Gewahrsam hat. Wohl
aber konnten Leute, die an der Regie beteiligt
sind, eine solche Ursache haben. Da findet sich nun,
daß Abbedin Pascha, jetzt einer der einflußreichsten
Männer im Yildizpalast, noch einer der ersten
Aktionäre der Tabakregie ist. Er ist ein Derwisch,
ein Gelehrter, der u. a. eine große Er-
läuterung zum Mesceewi des Dschellaleddin Rumi
geschrieben hat, ist aber dabei sehr habgierig und
geizig. Ein solcher Hauptaktionär hatte sehr wohl
Ursache, sein Bankhaus bei ausbrechenden Unruhen
vor Schaden zu bewahren. Er, der Palast-
mann, konnte auch wissen, daß ein An-
schlag geplant war,
und er oder jemand
seiner Umgebung konnte die Warnung erlassen.
Daß man sie bulgarisch schreiben und nach Salo-
nicht schicken ließ, war geschickt. Die Warnung
konnte dann als vom hiesigen Komitee ausgegangen
bezeichnet, die Bulgaren verdächtigt und die Auf-
merksamkeit von den Türken abgelenkt werden.
Von dem Bankier aber, einem angesehenen Kauf-
mann, konnte man erwarten, daß er alles getreulich
nach Konstantinopel melden werde, was auch ge-
schah. Kurz -- der Anschlag soll von türkischer
Seite geplant und ausgeführt worden sein. Es
stimmt dies mit den Annahmen unseres Korre-
spondenten in Konstantinopel überein.

Die Liste der Beschuldigten.

Die Meldung
eines ungarischen Blattes, daß eine Armenierin
namens Petroff das Attentat im Yildiz verübt
hätte, ist falsch. Nach dem bisherigen Ergebnis der
Untersuchung der Yildizkommission werden nicht
weniger als 11 Ausländer und 32 Inländer
der Täterschaft
oder der Mithilfe bei dem
Attentat im Yildiz verdächtigt. Die Auswahl
ist also ansehnlich genug. Von Ausländern ist nur
der Belgier Jauries verhaftet.




Der Krieg in Ostasien.

Mit dem denkbar kompliziertesten Zeremoniell
vollzieht sich die Reise der Friedensdelegierten
und Roosevelt ist peinlich bestrebt, auf Gereizt-
heiten und Schwächen Rücksicht zu nehmen. Glück-
lich hat er die Platzfrage hinter sich und bei
einer Ansprache verbat er sich die Erwiderung,
damit nur ja kein herbes Wortes falle und
die Verhandlungen beeinfluße. Die Delegierten
kamen zum erstenmal Samstag in der
Oisterbay zusammen, wo sie Präsident Roosevelt
auf der Jacht "Mayflower" begrüßt: "Ich bringe
einen Toast aus, auf den keine Antwort erfolgt,
und welchen ich Sie ersuche, stillschweigend und
stehend anzuhören. Ich trinke auf die Wohlfahrt
der beiden Souveräne und der beiden großen
Nationen, deren Vertreter sich auf diesem Schiffe
begegneten. Ich hoffe aufrichtigst und es ist mein
Gebet, daß im Interesse nicht nur dieser beiden
großen Mächte, sondern im Interesse der gesamten
Menschheit ein gerechter und dauernder Friede
zwischen ihnen bald abgeschlossen werde."

Nach der Frühstückstafel verließ der Präsident
die "Mayflower", die japanischen Delegierten be-
gaben sich an Bord des "Delphin", um nach
Portsmouth zu fahren.

Als die Vertreter Japans und Rußlands
heute zusammentrafen, reichten sie einander die
Hände. Ebenso herzlich war die Begrüßung, als
sie auseinandergingen. Die Japaner sprachen sich
sehr befriedigt über das Zusammentreffen aus.


Wien, Dienstag Reichspoſt 8. Auguſt 1905 179

[Spaltenumbruch]
Die Unruhen in Traiſen.

Anläßlich des Exzeſſes der Kroaten hatten die
Sozialdemokraten des ganzen induſtriereichen Traiſen-
tales für geſtern Sonntag einen Demonſtrations-
umzug in Traiſen beſchloſſen, an dem von den
Werken in Traiſen, Marktl, Lilienfeld. Wilhelms-
burg, Hainfeld, St. Pölten, Schrambach ꝛc. insge-
ſamt 5000 Arbeiter teilnehmen ſollten. Man be-
fürchtete ernſthafte Unruhen.

Am Freitag nachts wurde das Infanterie-
regiment Nr. 84 in Bruck an der Leitha — das
Regiment war erſt vor wenigen Tagen aus Krems
dort angelangt — alarmiert und Samstag
mit einem 45 Wagen langen Separat-
zug nach Scheibmühl gebracht. Da das
Regiment derzeit durch die Reſerviſten verſtärkt iſt,
zählt es 1300 Mann, 60 Offiziere und 30 Pferde.
Zugleich kamen zwei Eskadronen der in Wiener-
Neuſtadt garniſonierenden Dragoner in Scheibmühl
an. Von hier aus erfolgte der Abmarſch der Truppen
nach Traiſen, wo die Einquartierung vorgenommen
wurde. Traiſen glich mit einem Male einem Feld-
lager. Die Bevölkerung nahm die Soldaten freudig
und beruhigt auf.

Tatſächlich verlief der Sonntag ruhig. Die
Streikenden in Traiſen — es ſind blos 191 Familien-
väter und 60 ledige Arbeiter in Traiſen —
rüſteten ſich Mittags zum Empfange ihrer
Genoſſen. Um 1 Uhr ertönten Hornſignale und auf
dem Hauptplatze ſammelten ſich zwei Bataillone In-
fanterie, die am rechten Traiſenufer Aufſtellung
nahmen, ein Bataillon poſtierte ſich hinter der
Fabrik des Alfred von Lenz, vor der zwanzig Gen-
darmen ſtanden. Während dieſes Aufmarſches ging
ein heftiger Regen nieder, der bis Abends anhielt.
Zwei Stunden nach dem Aufmarſch kamen etwa
3000 Sozialdemokraten aus dem ganzen Traiſentale
und — flüchteten vor den Regengüſſen in die Wirts-
häuſer. Ein kleiner Teil hörte am Hauptplatze dem
Schuhmeier zu, dann gab es die uſuellen Pfuirufe.
Um 5 Uhr zogen die Sozialdemokraten ab. Der
Regen und das Militäraufgebot hatten die Ruhe
aufrecht erhalten.




Telegramme.
Der König von Spanien vom Pferde
geſtürzt.

Geſtern nach-
mittags iſt der König auf einem Spazierritt vom
Pferde geſtürzt, ohne Schaden ge-
nommen
zu haben.

Skupſchtina-Wahlen.

Bei der geſtrigen
Skupſchtina-Nachwahl in Prokuplje wurde ein
Nationaliſt gewählt.

Der Streik in Longwy.

Wie der „Figaro“ aus
Longwy meldet, iſt es in Saulnes zwiſchen
Truppen und Bergarbeitern zu einem Zuſammen-
ſtoß gekommen, bei welchem mehrere Per-
ſonen verwundet
wurden.

Anatomenkongreß.

Heute wurde der erſte
internationale Kongreß für Anatomie eröffnet.
An demſelben nahmen 260 Perſonen teil, dar-
unter Vertreter der großen Vereinigungen Deutſch-
lands, Frankreichs, Englands, Amerikas und
Italiens.

Das gelbe Fieber.

Heute ſind
acht Perſonen an gelbem Fieber geſtorben.
Dreißig neue Fälle
wurden angezeigt.




Die Vorgänge in Angarn.
Der Zerfall der liberalen Partei.

Baron Podmaniczky, der rücktrittslüſterne
Präſident der lebensmüden liberalen Partei, hat die
Mitglieder derſelben auf den 23. d., 3 Uhr nach-
mittags, zu einer Beratung einberufen, nachdem
Graf Tisza erklärt hatte, am 17. d., auf welchen
Tag die Abtrünnigen eine Konferenz gewünſcht
hatten, an einer Konferenz nicht teilnehmen zu
können. Alſo am 23. Auguſt und nicht am
17. iſt der große Lostag, an welchem nicht nur über
das Schickſal der liberalen Partei in Ungarn ent-
ſchieden, ſondern auch die ungariſche Kriſe in das
Stadium der Entſcheidung treten wird.

Aus der Zuſchrift, die von den liberalen Se-
zeſſioniſten an den Polizeipräſidenten gerichtet wurde,
erfährt man auch authentiſch die Namen jener, die
mit dem Austritt gedroht haben. Es ſind dies die
Abgeordneten Baron Ernſt Daniel, Emerich Szivak,
Graf Stephan Wenckheim, Edmund Miklos, Franz
Nagy, Baltaſar Semſey, Dr. Viktor Iſſekutz, Baron
Simon Revay, Aladar Raisz, Stephan Cſepreghy,
Dr. Koloman Fodor, Baron Tibor Daniel, Koloman
Mikszath, Paul Sandor, Julius Vancſo, Peter
Apathy, Bela Ragalyi, Franz Juſth, Nikolaus Osztro-
[Spaltenumbruch] louczky, Gregor Kardebo, Baron Ivan Sztojanovics,
Eugen Radiſich, Koloman Demko.

Der Abgeordnete Emerich Szivak äußerte ſich
über die Motive und Tragweite der liberalen
Sonderaktion: „Ich glaube, daß aus unſerer Partei
ſich höchſtens zwei oder drei Abgeordnete der Un-
abhängigkeitspartei anſchließen werden. Der Zweck
und das Weſen der ganzen Aktion in der liberalen
Partei iſt ja doch, daß unſere Partei die 67 er
Grundlage
rette. Die gegenwärtige Situation
war ohnedies unhaltbar. Es konnte ja ein Ab-
geordnetenkandidat mit dem liberalen Programm
gar nicht mehr auftreten, ſo ſehr war die ganze
Partei im ganzen Lande in Mißkredit gebracht
worden. Die 23 Abgeordneten der liberalen Partei,
die jüngſt zuſammengetreten ſind und mit denen
noch ſehr viele Mitglieder der liberalen
Partei vollkommen eines Sinnes ſind, haben deshalb
die Bewegung in Fluß gebracht, welche vorausſichtlich
die ganze Partei mit ſich reißen wird.“

Wie aus Ofen-Peſt unterm Heutigen tele-
graphiert wird, iſt unterdeſſen wieder der Abgeord-
nete Ladislaus Lazar aus der liberalen Partei
ausgetreten.

Ueber die Unterredung Baron Banffys
mit dem Grafen Andraſſy

liegt nun auch eine Aeußerung des letzteren im
„Magyar Hirlap“ vor. Graf Andraſſy erklärte:
„Weder ich noch Baron Banffy wollten jemals und
wollen auch heute nicht außerhalb der Koalition oder
gar gegen dieſelbe vorgehen. Die Koalition hat ihr
Programm. Dieſes iſt für uns bindend und auf deſſen
Grundlage müſſe im Intereſſe der Löſung der Kriſe
vorgegangen werden. Von einer Vereinigung der
Diſſidenten mit der Neuen Partei war keine Rede
und iſt keine Rede.... Wir wünſchen die Auflöſung
der liberalen Partei und deren Annäherung an die
Koalition.“ — Sehr ungehalten iſt Graf Andraſſy
natürlich über die Wahlreformgedanken des Miniſters
Kriſtoffy, die er verächtlich — vielleicht leider nicht
mit Unrecht — ein „taktiſches Spiel“ nennt.

Auch Baron Banffy erklärt im nämlichen Blatte,
daß er nur in und mit der Koalition arbeiten wolle.
Er ſehe die Entwirrung nur auf Grundlage des
Programms der Koalition und Grundlagen der
künftigen Geſtaltung in der durch ihn vertretenen
1867er Politik. Er ſchwärme für die 48er Ideen,
aber die reale Grundlage ſei in der 1867er Politik
enthalten und auf dieſer könne man weiter bauen.
Die Hauptſache iſt, daß die liberale Partei aufhört,
welche in Wien den irrigen und gefährlichen Glauben
erwecken könnte, daß man in Ungarn ohne die
Koalition proſperiereu könne und daß hinſichtlich der
nationalen Forderungen nicht ſämtliche Ungarn eines
Sinnes ſeien.

Die Wahlrechtsbewegung.

In Szolnok hielten geſtern, wie von dort
telegraphiert wird, die Sozialiſten ein Volksverſamm-
lung ab. Es wurde eine Reſolution einſtimmig an-
genommen, wonach die Verſammlung die in der
Mehrheit befindliche Koalition auffordert, die
Kabinettsbildung unter Ausſchaltung der Forderung
der ungariſchen Kommandoſprache, die in ihr Pro-
gramm gar nicht aufgenommen war, zu übernehmen
und das verſprochene allgemeine geheime Wahlrecht
durchzuführen.




Die Bombe beim Selamlik.
Immer noch auf der Suche.

Mit der Entdeckung der Attentäter iſt es
nichts, wenn auch jeden Tag eine andere Verſion
über den Urheber des Attentats gemeldet wird.
Nach einer Meldung, die aber bereits widerlegt
iſt, habe der verhaftete Belgier Yoris zuge-
ſtanden, daß er, obwohl er bereits einen Paß
vom belgiſchen Konſulate erhalten hatte, zwei
Monate ſpäter einen zweiten Paß verlangte und
den erſten dem eigentlichen Attentäter abgetreten
hatte; letzterer ſoll ein Mitglied des armeniſch-
revolutionären Komitees
ſein. — Wäre
man wirklich ſchon ſo weit, dann wäre der Tadel
unnötig geweſen, den der erſte Sekretär des
Yildiz Tahſin-Paſcha namens des Sultans in
einem Brief an den Polizeiminiſter richtete, in
welchem geſagt wird, der Sultan bedauere
ſehr, daß die Polizei den Attentäter nicht
eruieren
konnte. Der Brief wurde allen
Unterabteilungen der Polizei mitgeteilt. Einige
Polizeiagenten wurden verhaftet, weil ſie mit
einem gewiſſen Ariſtides, der geflüchtet iſt und
der den Wagen, auf dem die Bombe explodierte,
beim Zollamte ausgelöſt hatte, freundſchaftlich
verkehrten.

Sehr drohend klingt es, daß man in Yildiz-
kreiſen, alſo in der Umgebung des Sultans, be-
hauptet, daß die die Unterſuchung führende
Yildizkommiſſion bereits alle Per-
ſonen,
welche das Attentat verübten, kenne
und jetzt nach deſſen Urhebern forſche. Die
Kommiſſion ſei bereits deswegen mit der aus-
ländiſchen Polizei in Verbindung getreten.


[Spaltenumbruch]

Sollte die Yildizkommiſſion mehr wiſſen als die
Polizei und, wenn ſie mehr weiß, warum ſagt
ſie es nicht, wer der Schuldige iſt? Es müſſen
hohe und vermögende Herren dabei be-
teiligt geweſen ſein. Darauf weiſt auch folgende
myſteriöſe Geſchichte hin, die in der „Köln. Vztg.“
mitgeteilt wird: Vierzehn Tage vor dem in
Salonichi erfolgten Attentate habe der Bankier
Mehemed Kapandſchi in Salonicht ein der Sekte
der Dönmeh, der ſeit 1650 zum Islam über-
getretenen Juden, angehöriger Millionär, einen
Brief in bulgariſcher Sprache mit der An-
kündigung eines Attentats auf den Sultan er-
halten. Er möge deshalb — Kapandſchi beſitzt
noch eine Bank in Konſtantinopel und beſorgt
u. a. die Geſchäfte der Tabakregie —
für die Sicherheit ſeines Hauſes Vorſorge
treffen. Dieſes Schreiben, von dem Kapandſchi
ſofort nach Konſtatinopel berichtete, iſt zweifach
merkwürdig. Der jüdiſch-türkiſche Bankier hat gar
keine Beziehungen zu bulgariſchen Kreiſen.
Bulgaren hatten alſo auch keine Urſache, den
Mann vor Schaden zu bewahren, da er noch keine
bulgariſchen Gelder in Gewahrſam hat. Wohl
aber konnten Leute, die an der Regie beteiligt
ſind, eine ſolche Urſache haben. Da findet ſich nun,
daß Abbedin Paſcha, jetzt einer der einflußreichſten
Männer im Yildizpalaſt, noch einer der erſten
Aktionäre der Tabakregie iſt. Er iſt ein Derwiſch,
ein Gelehrter, der u. a. eine große Er-
läuterung zum Mesceewi des Dſchellaleddin Rumi
geſchrieben hat, iſt aber dabei ſehr habgierig und
geizig. Ein ſolcher Hauptaktionär hatte ſehr wohl
Urſache, ſein Bankhaus bei ausbrechenden Unruhen
vor Schaden zu bewahren. Er, der Palaſt-
mann, konnte auch wiſſen, daß ein An-
ſchlag geplant war,
und er oder jemand
ſeiner Umgebung konnte die Warnung erlaſſen.
Daß man ſie bulgariſch ſchreiben und nach Salo-
nicht ſchicken ließ, war geſchickt. Die Warnung
konnte dann als vom hieſigen Komitee ausgegangen
bezeichnet, die Bulgaren verdächtigt und die Auf-
merkſamkeit von den Türken abgelenkt werden.
Von dem Bankier aber, einem angeſehenen Kauf-
mann, konnte man erwarten, daß er alles getreulich
nach Konſtantinopel melden werde, was auch ge-
ſchah. Kurz — der Anſchlag ſoll von türkiſcher
Seite geplant und ausgeführt worden ſein. Es
ſtimmt dies mit den Annahmen unſeres Korre-
ſpondenten in Konſtantinopel überein.

Die Liſte der Beſchuldigten.

Die Meldung
eines ungariſchen Blattes, daß eine Armenierin
namens Petroff das Attentat im Yildiz verübt
hätte, iſt falſch. Nach dem bisherigen Ergebnis der
Unterſuchung der Yildizkommiſſion werden nicht
weniger als 11 Ausländer und 32 Inländer
der Täterſchaft
oder der Mithilfe bei dem
Attentat im Yildiz verdächtigt. Die Auswahl
iſt alſo anſehnlich genug. Von Ausländern iſt nur
der Belgier Jauries verhaftet.




Der Krieg in Ostasien.

Mit dem denkbar komplizierteſten Zeremoniell
vollzieht ſich die Reiſe der Friedensdelegierten
und Rooſevelt iſt peinlich beſtrebt, auf Gereizt-
heiten und Schwächen Rückſicht zu nehmen. Glück-
lich hat er die Platzfrage hinter ſich und bei
einer Anſprache verbat er ſich die Erwiderung,
damit nur ja kein herbes Wortes falle und
die Verhandlungen beeinfluße. Die Delegierten
kamen zum erſtenmal Samstag in der
Oiſterbay zuſammen, wo ſie Präſident Rooſevelt
auf der Jacht „Mayflower“ begrüßt: „Ich bringe
einen Toaſt aus, auf den keine Antwort erfolgt,
und welchen ich Sie erſuche, ſtillſchweigend und
ſtehend anzuhören. Ich trinke auf die Wohlfahrt
der beiden Souveräne und der beiden großen
Nationen, deren Vertreter ſich auf dieſem Schiffe
begegneten. Ich hoffe aufrichtigſt und es iſt mein
Gebet, daß im Intereſſe nicht nur dieſer beiden
großen Mächte, ſondern im Intereſſe der geſamten
Menſchheit ein gerechter und dauernder Friede
zwiſchen ihnen bald abgeſchloſſen werde.“

Nach der Frühſtückstafel verließ der Präſident
die „Mayflower“, die japaniſchen Delegierten be-
gaben ſich an Bord des „Delphin“, um nach
Portsmouth zu fahren.

Als die Vertreter Japans und Rußlands
heute zuſammentrafen, reichten ſie einander die
Hände. Ebenſo herzlich war die Begrüßung, als
ſie auseinandergingen. Die Japaner ſprachen ſich
ſehr befriedigt über das Zuſammentreffen aus.


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[6/0006] Wien, Dienstag Reichspoſt 8. Auguſt 1905 179 Die Unruhen in Traiſen. Anläßlich des Exzeſſes der Kroaten hatten die Sozialdemokraten des ganzen induſtriereichen Traiſen- tales für geſtern Sonntag einen Demonſtrations- umzug in Traiſen beſchloſſen, an dem von den Werken in Traiſen, Marktl, Lilienfeld. Wilhelms- burg, Hainfeld, St. Pölten, Schrambach ꝛc. insge- ſamt 5000 Arbeiter teilnehmen ſollten. Man be- fürchtete ernſthafte Unruhen. Am Freitag nachts wurde das Infanterie- regiment Nr. 84 in Bruck an der Leitha — das Regiment war erſt vor wenigen Tagen aus Krems dort angelangt — alarmiert und Samstag mit einem 45 Wagen langen Separat- zug nach Scheibmühl gebracht. Da das Regiment derzeit durch die Reſerviſten verſtärkt iſt, zählt es 1300 Mann, 60 Offiziere und 30 Pferde. Zugleich kamen zwei Eskadronen der in Wiener- Neuſtadt garniſonierenden Dragoner in Scheibmühl an. Von hier aus erfolgte der Abmarſch der Truppen nach Traiſen, wo die Einquartierung vorgenommen wurde. Traiſen glich mit einem Male einem Feld- lager. Die Bevölkerung nahm die Soldaten freudig und beruhigt auf. Tatſächlich verlief der Sonntag ruhig. Die Streikenden in Traiſen — es ſind blos 191 Familien- väter und 60 ledige Arbeiter in Traiſen — rüſteten ſich Mittags zum Empfange ihrer Genoſſen. Um 1 Uhr ertönten Hornſignale und auf dem Hauptplatze ſammelten ſich zwei Bataillone In- fanterie, die am rechten Traiſenufer Aufſtellung nahmen, ein Bataillon poſtierte ſich hinter der Fabrik des Alfred von Lenz, vor der zwanzig Gen- darmen ſtanden. Während dieſes Aufmarſches ging ein heftiger Regen nieder, der bis Abends anhielt. Zwei Stunden nach dem Aufmarſch kamen etwa 3000 Sozialdemokraten aus dem ganzen Traiſentale und — flüchteten vor den Regengüſſen in die Wirts- häuſer. Ein kleiner Teil hörte am Hauptplatze dem Schuhmeier zu, dann gab es die uſuellen Pfuirufe. Um 5 Uhr zogen die Sozialdemokraten ab. Der Regen und das Militäraufgebot hatten die Ruhe aufrecht erhalten. Telegramme. Der König von Spanien vom Pferde geſtürzt. San Sebaſtian, 7. Auguſt. Geſtern nach- mittags iſt der König auf einem Spazierritt vom Pferde geſtürzt, ohne Schaden ge- nommen zu haben. Skupſchtina-Wahlen. Belgrad, 7. Auguſt. Bei der geſtrigen Skupſchtina-Nachwahl in Prokuplje wurde ein Nationaliſt gewählt. Der Streik in Longwy. Paris, 7. Auguſt. Wie der „Figaro“ aus Longwy meldet, iſt es in Saulnes zwiſchen Truppen und Bergarbeitern zu einem Zuſammen- ſtoß gekommen, bei welchem mehrere Per- ſonen verwundet wurden. Anatomenkongreß. Genf, 6. Auguſt. Heute wurde der erſte internationale Kongreß für Anatomie eröffnet. An demſelben nahmen 260 Perſonen teil, dar- unter Vertreter der großen Vereinigungen Deutſch- lands, Frankreichs, Englands, Amerikas und Italiens. Das gelbe Fieber. New-Orleans, 5. Auguſt. Heute ſind acht Perſonen an gelbem Fieber geſtorben. Dreißig neue Fälle wurden angezeigt. Die Vorgänge in Angarn. Der Zerfall der liberalen Partei. Baron Podmaniczky, der rücktrittslüſterne Präſident der lebensmüden liberalen Partei, hat die Mitglieder derſelben auf den 23. d., 3 Uhr nach- mittags, zu einer Beratung einberufen, nachdem Graf Tisza erklärt hatte, am 17. d., auf welchen Tag die Abtrünnigen eine Konferenz gewünſcht hatten, an einer Konferenz nicht teilnehmen zu können. Alſo am 23. Auguſt und nicht am 17. iſt der große Lostag, an welchem nicht nur über das Schickſal der liberalen Partei in Ungarn ent- ſchieden, ſondern auch die ungariſche Kriſe in das Stadium der Entſcheidung treten wird. Aus der Zuſchrift, die von den liberalen Se- zeſſioniſten an den Polizeipräſidenten gerichtet wurde, erfährt man auch authentiſch die Namen jener, die mit dem Austritt gedroht haben. Es ſind dies die Abgeordneten Baron Ernſt Daniel, Emerich Szivak, Graf Stephan Wenckheim, Edmund Miklos, Franz Nagy, Baltaſar Semſey, Dr. Viktor Iſſekutz, Baron Simon Revay, Aladar Raisz, Stephan Cſepreghy, Dr. Koloman Fodor, Baron Tibor Daniel, Koloman Mikszath, Paul Sandor, Julius Vancſo, Peter Apathy, Bela Ragalyi, Franz Juſth, Nikolaus Osztro- louczky, Gregor Kardebo, Baron Ivan Sztojanovics, Eugen Radiſich, Koloman Demko. Der Abgeordnete Emerich Szivak äußerte ſich über die Motive und Tragweite der liberalen Sonderaktion: „Ich glaube, daß aus unſerer Partei ſich höchſtens zwei oder drei Abgeordnete der Un- abhängigkeitspartei anſchließen werden. Der Zweck und das Weſen der ganzen Aktion in der liberalen Partei iſt ja doch, daß unſere Partei die 67 er Grundlage rette. Die gegenwärtige Situation war ohnedies unhaltbar. Es konnte ja ein Ab- geordnetenkandidat mit dem liberalen Programm gar nicht mehr auftreten, ſo ſehr war die ganze Partei im ganzen Lande in Mißkredit gebracht worden. Die 23 Abgeordneten der liberalen Partei, die jüngſt zuſammengetreten ſind und mit denen noch ſehr viele Mitglieder der liberalen Partei vollkommen eines Sinnes ſind, haben deshalb die Bewegung in Fluß gebracht, welche vorausſichtlich die ganze Partei mit ſich reißen wird.“ Wie aus Ofen-Peſt unterm Heutigen tele- graphiert wird, iſt unterdeſſen wieder der Abgeord- nete Ladislaus Lazar aus der liberalen Partei ausgetreten. Ueber die Unterredung Baron Banffys mit dem Grafen Andraſſy liegt nun auch eine Aeußerung des letzteren im „Magyar Hirlap“ vor. Graf Andraſſy erklärte: „Weder ich noch Baron Banffy wollten jemals und wollen auch heute nicht außerhalb der Koalition oder gar gegen dieſelbe vorgehen. Die Koalition hat ihr Programm. Dieſes iſt für uns bindend und auf deſſen Grundlage müſſe im Intereſſe der Löſung der Kriſe vorgegangen werden. Von einer Vereinigung der Diſſidenten mit der Neuen Partei war keine Rede und iſt keine Rede.... Wir wünſchen die Auflöſung der liberalen Partei und deren Annäherung an die Koalition.“ — Sehr ungehalten iſt Graf Andraſſy natürlich über die Wahlreformgedanken des Miniſters Kriſtoffy, die er verächtlich — vielleicht leider nicht mit Unrecht — ein „taktiſches Spiel“ nennt. Auch Baron Banffy erklärt im nämlichen Blatte, daß er nur in und mit der Koalition arbeiten wolle. Er ſehe die Entwirrung nur auf Grundlage des Programms der Koalition und Grundlagen der künftigen Geſtaltung in der durch ihn vertretenen 1867er Politik. Er ſchwärme für die 48er Ideen, aber die reale Grundlage ſei in der 1867er Politik enthalten und auf dieſer könne man weiter bauen. Die Hauptſache iſt, daß die liberale Partei aufhört, welche in Wien den irrigen und gefährlichen Glauben erwecken könnte, daß man in Ungarn ohne die Koalition proſperiereu könne und daß hinſichtlich der nationalen Forderungen nicht ſämtliche Ungarn eines Sinnes ſeien. Die Wahlrechtsbewegung. In Szolnok hielten geſtern, wie von dort telegraphiert wird, die Sozialiſten ein Volksverſamm- lung ab. Es wurde eine Reſolution einſtimmig an- genommen, wonach die Verſammlung die in der Mehrheit befindliche Koalition auffordert, die Kabinettsbildung unter Ausſchaltung der Forderung der ungariſchen Kommandoſprache, die in ihr Pro- gramm gar nicht aufgenommen war, zu übernehmen und das verſprochene allgemeine geheime Wahlrecht durchzuführen. Die Bombe beim Selamlik. Immer noch auf der Suche. Mit der Entdeckung der Attentäter iſt es nichts, wenn auch jeden Tag eine andere Verſion über den Urheber des Attentats gemeldet wird. Nach einer Meldung, die aber bereits widerlegt iſt, habe der verhaftete Belgier Yoris zuge- ſtanden, daß er, obwohl er bereits einen Paß vom belgiſchen Konſulate erhalten hatte, zwei Monate ſpäter einen zweiten Paß verlangte und den erſten dem eigentlichen Attentäter abgetreten hatte; letzterer ſoll ein Mitglied des armeniſch- revolutionären Komitees ſein. — Wäre man wirklich ſchon ſo weit, dann wäre der Tadel unnötig geweſen, den der erſte Sekretär des Yildiz Tahſin-Paſcha namens des Sultans in einem Brief an den Polizeiminiſter richtete, in welchem geſagt wird, der Sultan bedauere ſehr, daß die Polizei den Attentäter nicht eruieren konnte. Der Brief wurde allen Unterabteilungen der Polizei mitgeteilt. Einige Polizeiagenten wurden verhaftet, weil ſie mit einem gewiſſen Ariſtides, der geflüchtet iſt und der den Wagen, auf dem die Bombe explodierte, beim Zollamte ausgelöſt hatte, freundſchaftlich verkehrten. Sehr drohend klingt es, daß man in Yildiz- kreiſen, alſo in der Umgebung des Sultans, be- hauptet, daß die die Unterſuchung führende Yildizkommiſſion bereits alle Per- ſonen, welche das Attentat verübten, kenne und jetzt nach deſſen Urhebern forſche. Die Kommiſſion ſei bereits deswegen mit der aus- ländiſchen Polizei in Verbindung getreten. Sollte die Yildizkommiſſion mehr wiſſen als die Polizei und, wenn ſie mehr weiß, warum ſagt ſie es nicht, wer der Schuldige iſt? Es müſſen hohe und vermögende Herren dabei be- teiligt geweſen ſein. Darauf weiſt auch folgende myſteriöſe Geſchichte hin, die in der „Köln. Vztg.“ mitgeteilt wird: Vierzehn Tage vor dem in Salonichi erfolgten Attentate habe der Bankier Mehemed Kapandſchi in Salonicht ein der Sekte der Dönmeh, der ſeit 1650 zum Islam über- getretenen Juden, angehöriger Millionär, einen Brief in bulgariſcher Sprache mit der An- kündigung eines Attentats auf den Sultan er- halten. Er möge deshalb — Kapandſchi beſitzt noch eine Bank in Konſtantinopel und beſorgt u. a. die Geſchäfte der Tabakregie — für die Sicherheit ſeines Hauſes Vorſorge treffen. Dieſes Schreiben, von dem Kapandſchi ſofort nach Konſtatinopel berichtete, iſt zweifach merkwürdig. Der jüdiſch-türkiſche Bankier hat gar keine Beziehungen zu bulgariſchen Kreiſen. Bulgaren hatten alſo auch keine Urſache, den Mann vor Schaden zu bewahren, da er noch keine bulgariſchen Gelder in Gewahrſam hat. Wohl aber konnten Leute, die an der Regie beteiligt ſind, eine ſolche Urſache haben. Da findet ſich nun, daß Abbedin Paſcha, jetzt einer der einflußreichſten Männer im Yildizpalaſt, noch einer der erſten Aktionäre der Tabakregie iſt. Er iſt ein Derwiſch, ein Gelehrter, der u. a. eine große Er- läuterung zum Mesceewi des Dſchellaleddin Rumi geſchrieben hat, iſt aber dabei ſehr habgierig und geizig. Ein ſolcher Hauptaktionär hatte ſehr wohl Urſache, ſein Bankhaus bei ausbrechenden Unruhen vor Schaden zu bewahren. Er, der Palaſt- mann, konnte auch wiſſen, daß ein An- ſchlag geplant war, und er oder jemand ſeiner Umgebung konnte die Warnung erlaſſen. Daß man ſie bulgariſch ſchreiben und nach Salo- nicht ſchicken ließ, war geſchickt. Die Warnung konnte dann als vom hieſigen Komitee ausgegangen bezeichnet, die Bulgaren verdächtigt und die Auf- merkſamkeit von den Türken abgelenkt werden. Von dem Bankier aber, einem angeſehenen Kauf- mann, konnte man erwarten, daß er alles getreulich nach Konſtantinopel melden werde, was auch ge- ſchah. Kurz — der Anſchlag ſoll von türkiſcher Seite geplant und ausgeführt worden ſein. Es ſtimmt dies mit den Annahmen unſeres Korre- ſpondenten in Konſtantinopel überein. Die Liſte der Beſchuldigten. Konſtantinopel, 6. Auguſt. Die Meldung eines ungariſchen Blattes, daß eine Armenierin namens Petroff das Attentat im Yildiz verübt hätte, iſt falſch. Nach dem bisherigen Ergebnis der Unterſuchung der Yildizkommiſſion werden nicht weniger als 11 Ausländer und 32 Inländer der Täterſchaft oder der Mithilfe bei dem Attentat im Yildiz verdächtigt. Die Auswahl iſt alſo anſehnlich genug. Von Ausländern iſt nur der Belgier Jauries verhaftet. Der Krieg in Ostasien. Mit dem denkbar komplizierteſten Zeremoniell vollzieht ſich die Reiſe der Friedensdelegierten und Rooſevelt iſt peinlich beſtrebt, auf Gereizt- heiten und Schwächen Rückſicht zu nehmen. Glück- lich hat er die Platzfrage hinter ſich und bei einer Anſprache verbat er ſich die Erwiderung, damit nur ja kein herbes Wortes falle und die Verhandlungen beeinfluße. Die Delegierten kamen zum erſtenmal Samstag in der Oiſterbay zuſammen, wo ſie Präſident Rooſevelt auf der Jacht „Mayflower“ begrüßt: „Ich bringe einen Toaſt aus, auf den keine Antwort erfolgt, und welchen ich Sie erſuche, ſtillſchweigend und ſtehend anzuhören. Ich trinke auf die Wohlfahrt der beiden Souveräne und der beiden großen Nationen, deren Vertreter ſich auf dieſem Schiffe begegneten. Ich hoffe aufrichtigſt und es iſt mein Gebet, daß im Intereſſe nicht nur dieſer beiden großen Mächte, ſondern im Intereſſe der geſamten Menſchheit ein gerechter und dauernder Friede zwiſchen ihnen bald abgeſchloſſen werde.“ Nach der Frühſtückstafel verließ der Präſident die „Mayflower“, die japaniſchen Delegierten be- gaben ſich an Bord des „Delphin“, um nach Portsmouth zu fahren. Als die Vertreter Japans und Rußlands heute zuſammentrafen, reichten ſie einander die Hände. Ebenſo herzlich war die Begrüßung, als ſie auseinandergingen. Die Japaner ſprachen ſich ſehr befriedigt über das Zuſammentreffen aus.

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 179, Wien, 08.08.1905, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost179_1905/6>, abgerufen am 24.11.2024.