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Reichspost. Nr. 3, Wien, 04.01.1901.

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Wien, Freitag Reichspost 4. Jänner 1901 3

[Spaltenumbruch]

[Nachdruck verboten.]

Opfer des Hasses.

"Ich scheue mich vor solchen Thieren, Lallu, ich
begreife nicht, wie Du Dich so mit ihnen abgeben
kann."

"Ich habe sie gern und sie mich ebenfalls," er-
widerte das Mädchen einfach, "ich kann mit allen
Thieren thun, was mir beliebt."

"Wer brachte Dir das Thier?" frug Mercy,
ihren Blick ängstlich und argwöhnisch auf die Schlange
haftend.

"Ab-Dur hat es gekauft."

"Ist es giftig? Beißt es?"

"Beißen ja, giftig ist sie nicht mehr, da ihre
Giftzähne weg sind, schau!" und mit einer raschen
Bewegung hielt sie ihr den Kopf des Reptils ent-
gegen, öffnete dessen Mund und zeigte der Freundin
die Stelle, von der sie die Giftzähne entfernt hatten,
hierauf lachte sie und lehnte den Kopf des Thieres
gegen ihre Wange, sie schien stolz darauf, wie ein
Kind auf ein neues Spielzeug. "Es ist ein Jammer,
sie so zu mißhandeln, sie sind ganz harmlos."

"Hast Du auch eine, die nicht auf diese Weise
mißhandelt ist, wie Du Dich ausdrückst; die noch im
Besitz ihrer Giftzähne ist?"

"Nur eine, aber Du darfst es nicht Deiner
Mutter sagen; soll ich sie Dir zeigen?"

"Nein, mein Herz, ich danke," rief Mercy ängst-
lich, "ich glaube, Du solltest sie nicht behalten. Mama
und ich fürchten uns zu sehr vor dergleichen Thieren".

"O, sie wird gewiß Niemanden etwas zu Leid
thun, sie darf niemals ihr Kästchen verlassen, wenn
ich nicht ganz allein bin. Ohne Deine Erlaubniß soll
sie nie mehr heraus, nur erwirke mir die Gunst, sie
behalten zu dürfen. Mich würde das Thier niemals
beißen, ich kann es aber gegen jeden Beliebigen aufs
Aeußerste reizen, auch dieses hier folgt mir aufs
Wort. Sieh mal her!"

Bei diesen Worten entwand sie sich aus der Um-
armung der großen Schlangen; dieselbe langsam auf
[Spaltenumbruch] ihr Bett gleiten lassend, undeutliche Worte murmelnd
hob sie wie beschwörend ihre Hände gegen das Thier,
das von dem eigenartigen Rythmus ihres monotonen
Gesanges wie bezaubert sich langsam aufrichtete, den
Kopf bewegend um sich blickte und endlich, sich ganz
aufrichtend, wie von Wuth erfaßt, sich blähte und
zischte. Mercy erschrack und eilte zur Thür, um zu
fliehen, da änderte Lallu ihren Gesang, und sofort
schien das Thier besänftigt, rollte sich langsam wieder
zusammen, bis es bewegungslos, eingeschlummert auf
dem Bette lag und Lallu es in sein Behältniß zurück-
bringen konnte.

"Diese Deine eigenthümliche Leidenschaft be-
ängstigt mich immer," sagte Mercy, als Lallu das
Zimmer wieder betrat.

"Du sollst Dich niemals vor mir fürchten, Mercy.
Ich würde mein Leben freudig für Dich lassen," rief
Lallu, die Freundin stürmisch umarmend.

"Du giltst mir mehr als mein Leben, der Tod
ist nur ein kurzer Schmerz, wenn es überhaupt einer
ist, das Leben aber bereitet uns unaufhörlich Schmerz
und Kummer."

"Was willst Du damit sagen?" frug Mercy sie
zärtlich umfassend.

"Das ist wieder einmal der Unterschied zwischen
Westen und Osten," entgegnete Lallu lachend. Ihr
Lachen aber klang so eigenthümlich, daß Mercy nach-
denklich wurde.

"Ihr habt einen merkwürdigen Scharfsinn, ver-
mittelst welchem Ihr jede unserer Handlungen durch-
schaut."

"Jawohl, mit Leichtigkeit!" Mercy verstand den
verborgenen Sinn dieser leicht hingeworfenen Worte
nicht und frug nach einer Pause:

"Du wirst heute Oberst Roca kennen lernen, ob
Du auch ihn so durchschauen wirst!"

"Es kommt auch noch jemand anderer heute,
jemand interessanterer, Herr Rhodes."

Mercy blickte erstaunt und erröthend auf.

"Woher weiß du das?"

"Du hast soeben daran gedacht! Ich konnte es
Dir aus den Augen lesen, und nunmehr steht es in
rother Farbe auf Deinen Wangen geschrieben."


[Spaltenumbruch]

"Es ist richtig, ich dachte soeben an ihn; vor
Dir kann ich nichts verbergen, aber, bitte mit
niemanden darüber zu sprechen". Bei diesen Worten
ergriff sie Lalln's Kopf, und, ihr tief in die Augen
sehend, sagte sie: "Ich wollte, ich könnte eben jetzt
Deine Gedanken lesen."

Lachelnd schüttelte diese den Kopf und erwiderte
schelmisch: "Nicht meine -- die seinen. Es ist keine
ungetrübte Freude, dieses Lesen in der Zukunft", und
ernster werdend fügte sie hinzu. "Wenn einem das
Leben nur erfreuliches bringen würde, dann wäre es
allerdings schön, es im Voraus zu wissen. Die trübe
Ahnung eines bevorstehenden Unglücks aber wird nicht
aufgewogen durch die Erwartung einer glücklichen
Stunde. Dir sollte ich eigentlich nichts derartiges
sagen, denn keine größere Freude, als in einem Herzen
zu lesen, das einem in so inniger Liebe zugethan ist,
wie das Deine mir."

"Es ist eigenthümlich, Lallu, wie ein Gedanke
bei Dir den andern jagt; doch hast Du mich ein
wenig erschreckt. Ist es zu fürchten das --?" und mit
einem ängstlich forschenden Blick schien sie die Antwort
auf diesen unvollendeten Satz, aus dem Antlitz der
Freundin lesen zu wollen.

"Ich kann nicht alles voraussehen, Mercy", ent-
gegnete diese sich umwendend, um den forschenden
Blick zu entgehen.

"Wird es Dir angenehm sein, Mr. Rhodes
wieder zu sehn?" frug Mercy nach einer kleinen
Pause, während welcher sie sich bemühte, dem Ge-
dankengang der Anderen zu folgen.

"Was ist er mir?" entgegnete Lallu in gleich-
giltigem Ton.

"Er war Dir stets ein guter Freund", sagte
Mercy eifrig, der Gedanke, daß der Geliebte einer
ihr so nahestehenden Person gleichgiltig sei, schien
ihr peinlich.

"Ich weiß, ich weiß. Ich bin ein abscheuliches
Ding, Mercy, ich hasse mich und will trachten, ihn
sehr lieb zu gewinnen, Deinetwegen. Vergib mir liebe
Mercy!" rief Lallu sie umarmend und in leidenschaft-
liches Schluchzen ausbrechend.     (F. f.)




[irrelevantes Material]


Druck, Herausgabe und Verlag von Ambr. Opitz, Wien. -- Verantwortlicher Redacteur Hermann Hikisch, Wien.


Wien, Freitag Reichspoſt 4. Jänner 1901 3

[Spaltenumbruch]

[Nachdruck verboten.]

Opfer des Haſſes.

„Ich ſcheue mich vor ſolchen Thieren, Lallu, ich
begreife nicht, wie Du Dich ſo mit ihnen abgeben
kann.“

„Ich habe ſie gern und ſie mich ebenfalls,“ er-
widerte das Mädchen einfach, „ich kann mit allen
Thieren thun, was mir beliebt.“

„Wer brachte Dir das Thier?“ frug Mercy,
ihren Blick ängſtlich und argwöhniſch auf die Schlange
haftend.

„Ab-Dur hat es gekauft.“

„Iſt es giftig? Beißt es?“

„Beißen ja, giftig iſt ſie nicht mehr, da ihre
Giftzähne weg ſind, ſchau!“ und mit einer raſchen
Bewegung hielt ſie ihr den Kopf des Reptils ent-
gegen, öffnete deſſen Mund und zeigte der Freundin
die Stelle, von der ſie die Giftzähne entfernt hatten,
hierauf lachte ſie und lehnte den Kopf des Thieres
gegen ihre Wange, ſie ſchien ſtolz darauf, wie ein
Kind auf ein neues Spielzeug. „Es iſt ein Jammer,
ſie ſo zu mißhandeln, ſie ſind ganz harmlos.“

„Haſt Du auch eine, die nicht auf dieſe Weiſe
mißhandelt iſt, wie Du Dich ausdrückſt; die noch im
Beſitz ihrer Giftzähne iſt?“

„Nur eine, aber Du darfſt es nicht Deiner
Mutter ſagen; ſoll ich ſie Dir zeigen?“

„Nein, mein Herz, ich danke,“ rief Mercy ängſt-
lich, „ich glaube, Du ſollteſt ſie nicht behalten. Mama
und ich fürchten uns zu ſehr vor dergleichen Thieren“.

„O, ſie wird gewiß Niemanden etwas zu Leid
thun, ſie darf niemals ihr Käſtchen verlaſſen, wenn
ich nicht ganz allein bin. Ohne Deine Erlaubniß ſoll
ſie nie mehr heraus, nur erwirke mir die Gunſt, ſie
behalten zu dürfen. Mich würde das Thier niemals
beißen, ich kann es aber gegen jeden Beliebigen aufs
Aeußerſte reizen, auch dieſes hier folgt mir aufs
Wort. Sieh mal her!“

Bei dieſen Worten entwand ſie ſich aus der Um-
armung der großen Schlangen; dieſelbe langſam auf
[Spaltenumbruch] ihr Bett gleiten laſſend, undeutliche Worte murmelnd
hob ſie wie beſchwörend ihre Hände gegen das Thier,
das von dem eigenartigen Rythmus ihres monotonen
Geſanges wie bezaubert ſich langſam aufrichtete, den
Kopf bewegend um ſich blickte und endlich, ſich ganz
aufrichtend, wie von Wuth erfaßt, ſich blähte und
ziſchte. Mercy erſchrack und eilte zur Thür, um zu
fliehen, da änderte Lallu ihren Geſang, und ſofort
ſchien das Thier beſänftigt, rollte ſich langſam wieder
zuſammen, bis es bewegungslos, eingeſchlummert auf
dem Bette lag und Lallu es in ſein Behältniß zurück-
bringen konnte.

„Dieſe Deine eigenthümliche Leidenſchaft be-
ängſtigt mich immer,“ ſagte Mercy, als Lallu das
Zimmer wieder betrat.

„Du ſollſt Dich niemals vor mir fürchten, Mercy.
Ich würde mein Leben freudig für Dich laſſen,“ rief
Lallu, die Freundin ſtürmiſch umarmend.

„Du giltſt mir mehr als mein Leben, der Tod
iſt nur ein kurzer Schmerz, wenn es überhaupt einer
iſt, das Leben aber bereitet uns unaufhörlich Schmerz
und Kummer.“

„Was willſt Du damit ſagen?“ frug Mercy ſie
zärtlich umfaſſend.

„Das iſt wieder einmal der Unterſchied zwiſchen
Weſten und Oſten,“ entgegnete Lallu lachend. Ihr
Lachen aber klang ſo eigenthümlich, daß Mercy nach-
denklich wurde.

„Ihr habt einen merkwürdigen Scharfſinn, ver-
mittelſt welchem Ihr jede unſerer Handlungen durch-
ſchaut.“

„Jawohl, mit Leichtigkeit!“ Mercy verſtand den
verborgenen Sinn dieſer leicht hingeworfenen Worte
nicht und frug nach einer Pauſe:

„Du wirſt heute Oberſt Roca kennen lernen, ob
Du auch ihn ſo durchſchauen wirſt!“

„Es kommt auch noch jemand anderer heute,
jemand intereſſanterer, Herr Rhodes.“

Mercy blickte erſtaunt und erröthend auf.

„Woher weiß du das?“

„Du haſt ſoeben daran gedacht! Ich konnte es
Dir aus den Augen leſen, und nunmehr ſteht es in
rother Farbe auf Deinen Wangen geſchrieben.“


[Spaltenumbruch]

„Es iſt richtig, ich dachte ſoeben an ihn; vor
Dir kann ich nichts verbergen, aber, bitte mit
niemanden darüber zu ſprechen“. Bei dieſen Worten
ergriff ſie Lalln’s Kopf, und, ihr tief in die Augen
ſehend, ſagte ſie: „Ich wollte, ich könnte eben jetzt
Deine Gedanken leſen.“

Lachelnd ſchüttelte dieſe den Kopf und erwiderte
ſchelmiſch: „Nicht meine — die ſeinen. Es iſt keine
ungetrübte Freude, dieſes Leſen in der Zukunft“, und
ernſter werdend fügte ſie hinzu. „Wenn einem das
Leben nur erfreuliches bringen würde, dann wäre es
allerdings ſchön, es im Voraus zu wiſſen. Die trübe
Ahnung eines bevorſtehenden Unglücks aber wird nicht
aufgewogen durch die Erwartung einer glücklichen
Stunde. Dir ſollte ich eigentlich nichts derartiges
ſagen, denn keine größere Freude, als in einem Herzen
zu leſen, das einem in ſo inniger Liebe zugethan iſt,
wie das Deine mir.“

„Es iſt eigenthümlich, Lallu, wie ein Gedanke
bei Dir den andern jagt; doch haſt Du mich ein
wenig erſchreckt. Iſt es zu fürchten das —?“ und mit
einem ängſtlich forſchenden Blick ſchien ſie die Antwort
auf dieſen unvollendeten Satz, aus dem Antlitz der
Freundin leſen zu wollen.

„Ich kann nicht alles vorausſehen, Mercy“, ent-
gegnete dieſe ſich umwendend, um den forſchenden
Blick zu entgehen.

„Wird es Dir angenehm ſein, Mr. Rhodes
wieder zu ſehn?“ frug Mercy nach einer kleinen
Pauſe, während welcher ſie ſich bemühte, dem Ge-
dankengang der Anderen zu folgen.

„Was iſt er mir?“ entgegnete Lallu in gleich-
giltigem Ton.

„Er war Dir ſtets ein guter Freund“, ſagte
Mercy eifrig, der Gedanke, daß der Geliebte einer
ihr ſo naheſtehenden Perſon gleichgiltig ſei, ſchien
ihr peinlich.

„Ich weiß, ich weiß. Ich bin ein abſcheuliches
Ding, Mercy, ich haſſe mich und will trachten, ihn
ſehr lieb zu gewinnen, Deinetwegen. Vergib mir liebe
Mercy!“ rief Lallu ſie umarmend und in leidenſchaft-
liches Schluchzen ausbrechend.     (F. f.)




[irrelevantes Material]


Druck, Herausgabe und Verlag von Ambr. Opitz, Wien. — Verantwortlicher Redacteur Hermann Hikiſch, Wien.


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[10/0010] Wien, Freitag Reichspoſt 4. Jänner 1901 3 [Nachdruck verboten.] Opfer des Haſſes. Roman aus dem Engliſchen von G. S. „Ich ſcheue mich vor ſolchen Thieren, Lallu, ich begreife nicht, wie Du Dich ſo mit ihnen abgeben kann.“ „Ich habe ſie gern und ſie mich ebenfalls,“ er- widerte das Mädchen einfach, „ich kann mit allen Thieren thun, was mir beliebt.“ „Wer brachte Dir das Thier?“ frug Mercy, ihren Blick ängſtlich und argwöhniſch auf die Schlange haftend. „Ab-Dur hat es gekauft.“ „Iſt es giftig? Beißt es?“ „Beißen ja, giftig iſt ſie nicht mehr, da ihre Giftzähne weg ſind, ſchau!“ und mit einer raſchen Bewegung hielt ſie ihr den Kopf des Reptils ent- gegen, öffnete deſſen Mund und zeigte der Freundin die Stelle, von der ſie die Giftzähne entfernt hatten, hierauf lachte ſie und lehnte den Kopf des Thieres gegen ihre Wange, ſie ſchien ſtolz darauf, wie ein Kind auf ein neues Spielzeug. „Es iſt ein Jammer, ſie ſo zu mißhandeln, ſie ſind ganz harmlos.“ „Haſt Du auch eine, die nicht auf dieſe Weiſe mißhandelt iſt, wie Du Dich ausdrückſt; die noch im Beſitz ihrer Giftzähne iſt?“ „Nur eine, aber Du darfſt es nicht Deiner Mutter ſagen; ſoll ich ſie Dir zeigen?“ „Nein, mein Herz, ich danke,“ rief Mercy ängſt- lich, „ich glaube, Du ſollteſt ſie nicht behalten. Mama und ich fürchten uns zu ſehr vor dergleichen Thieren“. „O, ſie wird gewiß Niemanden etwas zu Leid thun, ſie darf niemals ihr Käſtchen verlaſſen, wenn ich nicht ganz allein bin. Ohne Deine Erlaubniß ſoll ſie nie mehr heraus, nur erwirke mir die Gunſt, ſie behalten zu dürfen. Mich würde das Thier niemals beißen, ich kann es aber gegen jeden Beliebigen aufs Aeußerſte reizen, auch dieſes hier folgt mir aufs Wort. Sieh mal her!“ Bei dieſen Worten entwand ſie ſich aus der Um- armung der großen Schlangen; dieſelbe langſam auf ihr Bett gleiten laſſend, undeutliche Worte murmelnd hob ſie wie beſchwörend ihre Hände gegen das Thier, das von dem eigenartigen Rythmus ihres monotonen Geſanges wie bezaubert ſich langſam aufrichtete, den Kopf bewegend um ſich blickte und endlich, ſich ganz aufrichtend, wie von Wuth erfaßt, ſich blähte und ziſchte. Mercy erſchrack und eilte zur Thür, um zu fliehen, da änderte Lallu ihren Geſang, und ſofort ſchien das Thier beſänftigt, rollte ſich langſam wieder zuſammen, bis es bewegungslos, eingeſchlummert auf dem Bette lag und Lallu es in ſein Behältniß zurück- bringen konnte. „Dieſe Deine eigenthümliche Leidenſchaft be- ängſtigt mich immer,“ ſagte Mercy, als Lallu das Zimmer wieder betrat. „Du ſollſt Dich niemals vor mir fürchten, Mercy. Ich würde mein Leben freudig für Dich laſſen,“ rief Lallu, die Freundin ſtürmiſch umarmend. „Du giltſt mir mehr als mein Leben, der Tod iſt nur ein kurzer Schmerz, wenn es überhaupt einer iſt, das Leben aber bereitet uns unaufhörlich Schmerz und Kummer.“ „Was willſt Du damit ſagen?“ frug Mercy ſie zärtlich umfaſſend. „Das iſt wieder einmal der Unterſchied zwiſchen Weſten und Oſten,“ entgegnete Lallu lachend. Ihr Lachen aber klang ſo eigenthümlich, daß Mercy nach- denklich wurde. „Ihr habt einen merkwürdigen Scharfſinn, ver- mittelſt welchem Ihr jede unſerer Handlungen durch- ſchaut.“ „Jawohl, mit Leichtigkeit!“ Mercy verſtand den verborgenen Sinn dieſer leicht hingeworfenen Worte nicht und frug nach einer Pauſe: „Du wirſt heute Oberſt Roca kennen lernen, ob Du auch ihn ſo durchſchauen wirſt!“ „Es kommt auch noch jemand anderer heute, jemand intereſſanterer, Herr Rhodes.“ Mercy blickte erſtaunt und erröthend auf. „Woher weiß du das?“ „Du haſt ſoeben daran gedacht! Ich konnte es Dir aus den Augen leſen, und nunmehr ſteht es in rother Farbe auf Deinen Wangen geſchrieben.“ „Es iſt richtig, ich dachte ſoeben an ihn; vor Dir kann ich nichts verbergen, aber, bitte mit niemanden darüber zu ſprechen“. Bei dieſen Worten ergriff ſie Lalln’s Kopf, und, ihr tief in die Augen ſehend, ſagte ſie: „Ich wollte, ich könnte eben jetzt Deine Gedanken leſen.“ Lachelnd ſchüttelte dieſe den Kopf und erwiderte ſchelmiſch: „Nicht meine — die ſeinen. Es iſt keine ungetrübte Freude, dieſes Leſen in der Zukunft“, und ernſter werdend fügte ſie hinzu. „Wenn einem das Leben nur erfreuliches bringen würde, dann wäre es allerdings ſchön, es im Voraus zu wiſſen. Die trübe Ahnung eines bevorſtehenden Unglücks aber wird nicht aufgewogen durch die Erwartung einer glücklichen Stunde. Dir ſollte ich eigentlich nichts derartiges ſagen, denn keine größere Freude, als in einem Herzen zu leſen, das einem in ſo inniger Liebe zugethan iſt, wie das Deine mir.“ „Es iſt eigenthümlich, Lallu, wie ein Gedanke bei Dir den andern jagt; doch haſt Du mich ein wenig erſchreckt. Iſt es zu fürchten das —?“ und mit einem ängſtlich forſchenden Blick ſchien ſie die Antwort auf dieſen unvollendeten Satz, aus dem Antlitz der Freundin leſen zu wollen. „Ich kann nicht alles vorausſehen, Mercy“, ent- gegnete dieſe ſich umwendend, um den forſchenden Blick zu entgehen. „Wird es Dir angenehm ſein, Mr. Rhodes wieder zu ſehn?“ frug Mercy nach einer kleinen Pauſe, während welcher ſie ſich bemühte, dem Ge- dankengang der Anderen zu folgen. „Was iſt er mir?“ entgegnete Lallu in gleich- giltigem Ton. „Er war Dir ſtets ein guter Freund“, ſagte Mercy eifrig, der Gedanke, daß der Geliebte einer ihr ſo naheſtehenden Perſon gleichgiltig ſei, ſchien ihr peinlich. „Ich weiß, ich weiß. Ich bin ein abſcheuliches Ding, Mercy, ich haſſe mich und will trachten, ihn ſehr lieb zu gewinnen, Deinetwegen. Vergib mir liebe Mercy!“ rief Lallu ſie umarmend und in leidenſchaft- liches Schluchzen ausbrechend. (F. f.) _ Druck, Herausgabe und Verlag von Ambr. Opitz, Wien. — Verantwortlicher Redacteur Hermann Hikiſch, Wien.

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 3, Wien, 04.01.1901, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost003_1901/10>, abgerufen am 21.11.2024.